NACHSPIEL
Palast des Himmels,
Zi-jin Cheng (Verbotene Stadt), Sian Kommunalität Sian,
Konföderation Capella
Alle, die für die Anstrengungen der Konföderation gegen St. Ives von Bedeutung gewesen waren oder über genügend Einfluß verfügten, um trotzdem eingeladen zu werden, hatten sich auf Einladung Kanzler Sun-Tzu Liaos im zweiten Stock des Palasts des Himmels im Ballsaal versammelt. Diener reichten Wein, würzigen Cidre und das zu diesem Fest traditionelle mondförmige Gebäck. Durch die breite Fensterfront, die ein volles Viertel der östlichen Saalwand ausmachte, erhob sich Sians größter Mond Fu Hsi in majestätischer Größe. Der kupferreiche Boden des in voller Rundung herabscheinenden Satelliten verlieh ihm eine bernsteingelbe Farbe. Die Gespräche waren lebhaft, und wie bei den meisten Empfängen hatten sich zahlreiche Grüppchen gebildet.
»Aber nicht nach Kasten«, flüsterte Sun-Tzu
gerade laut genug, so daß Talon Zahn ihn hörte.
Er wanderte in Zahns Begleitung durch den Saal und wandte sich dann
der an der nördlichen Wand gelegenen Empore zu, zeigte jedoch keine
Eile, sie zu erreichen. Er trug eine goldene Robe, über deren weite
Ärmel sich um elfenbeinfarbene Pferdeköpfe geschlungene Drachen aus
Silberfäden zogen. Zwei hünenhafte Todeskommando-Wachen folgten
ihnen.
»Mein Kanzler?« fragte Zahn. Seine dunklen Augen zuckten suchend
durch den Saal, während er an einem Glas Cidre nippte, dann
verstand er die Bemerkung seines Herrschers, ohne eine weitere
Erklärung zu benötigen. »In der Tat, das ist...« Er pausierte,
erkennbar um des Effekts willen. »...anders.«
Durch die Pause erhielt ›anders‹ die Bedeutung von ›seltsam‹.
Sun-Tzu stimmte seinem General zu, aber was er sah, gefiel ihm. Wo
bei allen anderen Gelegenheiten die Gesprächsgrüppchen leicht nach
Kaste abgehakt werden konnten, war das heute nicht möglich.
Direktorat und Intelligenzia trafen sich, tauschten freimütig Ideen
und Gesprächsstoff aus. Die Janshi, Krieger, waren in allen Gruppen
willkommen und wurden sogar gelegentlich von den nominell
höherstehenden Kasten eingeladen, um ihre Meinung zu hören - oder
auch nur in Anerkennung ihrer Leistungen.
Und vor allem gab es keine ungebetenen Gäste. Romano Liao war
verstummt. Keine geisterhaften Einflüsterungen, keine
Streitgespräche. So gehört es sich auch für
eine Frau, die seit zehn Jahren tot ist, dachte Sun-Tzu und
verengte nachdenklich die jadegrünen Augen. Sie war in seine
Erinnerung zurückgekehrt, und als solche akzeptierte er sie auch,
aber niemals wieder würde sie ihren düsteren Schatten über eine
Regierung der Konföderation werfen. Er wußte, daß es mehrere Gründe
für Romanos endgültiges Hinscheiden gab, und nicht der geringste
davon war der endgültige Erfolg seiner Xin-ShengBewegung. Eine
echte Neugeburt der
Konföderation.
»Zum ersten Mal seit über drei Jahrzehnten«, bemerkte Sun-Tzu
leise, um sein Gespräch mit Talon Zahn auf privater Ebene zu
halten, »fühlt sich das capellanische Volk nicht mehr als die
gebrochene Nation, die Hanse Davion nach dem 4. Nachfolgekrieg
zurückgelassen hat. Wir haben zurückgewonnen, was unser
war.«
Zahn nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas. »Die endgültige
Lösung könnte noch eine Weile dauern«, erinnerte er seinen Kanzler.
»Die dem Pakt verbliebenen Systeme könnten noch sechs Monate
durchhalten, oder sogar noch länger.«
Sun-Tzu wischte seine Bedenken beiseite. »Sechs Monate, sechs
Jahre, das spielt kaum eine Rolle. Der Fall St. Ives' hat der Xin
Sheng genug Kapital eingebracht, um für ein ganzes Leben zu
reichen.«
Er verzögerte seinen Schritt, als die Unterhaltung in einer nahen
Gruppe von Kriegern und Verwaltern erstarb und ihre Mitglieder sich
alle in einer formellen Verbeugung zu ihm umdrehten, die in dieser
gesellschaftlichen Umgebung nicht gefordert war. SunTzu erwiderte
ihre Geste und nahm Blickkontakt mit jedem einzelnen auf, um sie
wissen zu lassen, daß der Kanzler ihre Höflichkeit zur Kenntnis
genommen hatte. Die wenigen, die vor seinem Blick zurückzuckten,
merkte er sich für eine spätere Gelegenheit
»Ja«, murmelte er. »Ein ganzes Leben.« Er lächelte, als eine andere
Gruppe die Gläser hob. Obwohl der offizielle Anlaß des Zhon-qiu-jie
die Feier der Herbstzeit und erhoffter reicher Ernte war, bezog
sich nahezu jeder Trinkspruch, den Sun-Tzu aufschnappte; auf die
Rückkehr der Kommunalität St. Ives.
Auch das gefiel ihm. Nicht die Unterwerfung
eines Feindes, stellte er fest, sondern
die Rückkehr einer verlorenen Kommunalität. Mit dem Sturz
von St. Ives hatte der Kanzler umgehend den wahren Namen der
Kommunalität wiederhergestellt, ein Versprechen an die
capellanischen Bürger, daß sie in der Heimat willkommen waren. Den
Namen so freudig aufgenommen zu hören, gab ihm Hoffnung, die
Konföderation gänzlich heilen, den capellanischen Staat vollständig
wiederherstellen zu können.
Der letzte Knoten ist gelöst.
Ion Rush und Nancy Bao Lee kamen in der Nähe vorbei, als Sun-Tzu
die Empore fast erreicht hatte. Sie war in ein smaragdgrünes
Seidenkleid gehüllt, er machte in der elfenbeinweißen und grünen
Ausgehuniform Haus Imarras eine imposante Figur, und beiden waren
die Gesellschaft des anderen sichtlich unangenehm. Eine gute Kombination, dachte SunTzu, erfreut, daß
seine Idee, die beiden gemeinsam zu dieser Feier einzuladen, sich
so bewährt hatte. Sie bremsen sich
gegenseitig.
Das Paar blieb stehen und verneigte sich vor dem Kanzler. Nancy Bao
Lee behielt dabei Blickkontakt mit Sun-Tzu und lächelte dünn. Eine
Erinnerung an ihren Erfolg bei der Ausschaltung Sascha Wanlis auf
St. Ives. Er gestattete der Maskirovka-Agentin ihren Anflug von
Stolz. Er hätte Sascha niemals erlauben dürfen, so lange zu
überleben, ungeachtet seiner Bemühungen, Romanos Schatten zu
entfliehen. Mutter mag ihr Volk mit Kälte
behandelt haben, in ihren Maßnahmen skrupellos und gelegentlich in
ihren Schlußfolgerungen sogar gestört gewesen sein. Aber das
bedeutet nicht, daß ihr Handeln nicht ab und zu auch gerechtfertigt
war.
Die Anerkennung dieser Tatsache hatte ebenfalls viel dazu
beigetragen, Romanos Geist zu vertreiben. Niemals, versprach er sich erneut, werde ich ihrer Erinnerung gestatten, mein Urteilsvermögen
zu trüben, in keiner Weise.
Dicht hinter Rush und Lee näherte sich Naomi Centrella, flankiert
von zwei Erbadligen der capellanischen Adelskammer. Ihr tief
ausgeschnittenes Abendkleid in Türkis und Schwarz hob sich deutlich
von der Kleidung ihrer Begleiter ab und spiegelte statt deren
capellanischen Erbes ihre canopische Herkunft wieder. Ein weiteres
positives Zeichen, daß Naomi hier im Saal so freundlich aufgenommen
wurde. Alle drei neigten förmlich den Kopf, erst vor Kanzler Liao,
dann vor Sang-Jiang-jun Zahn.
Sun-Tzu blieb stehen, und Talon Zahn begrüßte sie sowohl für sich
wie für den Kanzler. »Botschafterin Centrella«, verneigte er sich
vor Naomi und wählte ihren formellen Titel am Hofe statt des
militärischen Ranges, den sie in ihrer Rolle als Kommandeurin der
innerhalb der Konföderationsgrenzen operierenden Magistratstruppen
angenommen hatte. Die Adligen begrüßte er nur mit einem kurzen
›Sirs‹. Als Mitglied des Schwertadels oder Barducs war er nicht
verpflichtet, ihre vollen Titel zu nennen.
Sun-Tzu hob mit sorgfältig neutralem Gesichtsausdruck ein frisches
Weinglas vom Tablett eines Dieners. »Naomi, die Konföderation
spricht Ihrem Volk erneut ihren Dank für die jüngste Unterstützung
bei der Heimführung von St. Ives aus.«
Er bot ihr das Glas an und gab vor, nicht zu bemerken, wie sich die
Adligen in ihrer Begleitung plötzlich versteiften und mehrere der
Gespräche in ihrer Nähe verstummten. Seine Geste war der
Vertreterin einer verbündeten Nation gegenüber nicht wirklich
angebracht, aber er wollte Naomis Reaktion auf die peinliche
Situation abschätzen. Es war einer von einem Dutzend ähnlicher
Tests, die er an diesem Abend bereits durchgeführt hatte.
Naomi erwies sich der Herausforderung als gewachsen. Sie nahm das
Glas an. Es abzulehnen, hätte eine Beleidigung des Kanzlers
bedeutet. Sie nahm es mit beiden Händen entgegen. Fast hätte
Sun-Tzu über diese versteckte Andeutung seiner größeren Kraft
gelächelt.
Naomi Centrella verneigte sich. »Eure Anerkennung nehme ich dankend
an, Kanzler Liao, sie ist jedoch nicht erforderlich. Das Magistrat
stellt nur seine Verpflichtung unserem Bündnis gegenüber unter
Beweis.« Dann bot sie das Glas Talon Zahn an. »Wenn Ihr jemandem
für den Sieg auf St. Ives danken wollt, muß es Sang-Jiang-jun Zahn
sein.«
Zahn stellte sein halbvolles Cidreglas auf das Tablett eines
vorbeikommenden Dieners und nahm den Wein mit einer weiteren
leichten Verbeugung von Naomi entgegen.
Nicht schlecht, entschied Sun-Tzu und
nahm sich selbst ein Glas dunklen Pflaumenweins vom selben Tablett.
Über Naomis Schulter sah er Nancy Bao Lee die Stirn runzeln. Doch
er konnte sich nicht sicher sein, ob es eine Geste persönlicher
Abneigung gegen Naomi Centrella war oder nur Anzeichen ihres
Wunsches, selbst auf solche Weise geehrt zu werden. So oder so kann ich es für meine Zwecke verwenden, aber
ich muß herausfinden, welchen Grund es hat.
Morgen.
Sun-Tzu beendete alle weiteren Gespräche, indem er sich abwandte
und auf die niedrige Empore trat. Durch die zusätzlichen dreißig
Zentimeter Höhe gestattete die Plattform dem Kanzler, den gesamten
Ballsaal zu überblicken. Die Gespräche erstarben, als alle
Anwesenden sich zu ihm umdrehten. Allesamt Capellaner, bis auf
Naomi. Sie sehen mich als Kanzler. Als Liao.
Als die Stimme des capellanischen Volkes, das die Nation
ist. Das war Sun-Tzus Karma, dem Staat nach besten Kräften
zu dienen. Nichts anderes hatte gleichen Stellenwert.
»Auf die Kommunalität St. Ives, die von jetzt an für immer als
Kommunalität der Xin Sheng gefeiert werden wird«, erklärte er und
hob seinen Pflaumenwein. »Und auf die Konföderation Capella und die
Dreifaltige Allianz.« Er hielt sein Glas hoch, dehnte den Moment
des Schweigens, in dem alle sich an die Geschehnisse der
vergangenen zwei Jahre erinnerten...
In der ersten Reihe vor der Empore nahm Talon Zahn Haltung an und
hob ebenfalls das Glas. »Xin
Sheng!« brüllte er, und seine befehlsgewohnte Stimme hallte durch
den Saal.
Unter einem Meer erhobener Gläser und zum Salut emporgeschleuderter
Fäuste antworteten hundert Stimmen. »Xin Sheng! Xin Sheng! Xin
Sheng!« Mit jeder Wiederholung lauter werdend donnerte der Ruf über
die Versammlung.
Danach tranken alle außer Sun-Tzu Liao, der sich vom Augenblick
gefangennehmen ließ und einen Moment lang voller Stolz genoß, was
er begonnen hatte. Sie feiern nicht mich,
sondern sich selbst. Was wir erreicht
haben. Was noch zu tun blieb, verblaßte im
Vergleich.
Endlich hob auch Sun-Tzu das Glas an den Mund. Nichts kann sich uns noch in den Weg stellen.
Die Konföderation Capella ist zurückgekehrt.