NACHSPIEL

Palast des Himmels,
Zi-jin Cheng (Verbotene Stadt), Sian Kommunalität Sian, Konföderation Capella

2. Oktober 3062 Zhong-qiu-jie. Das Herbstmondfest.

Alle, die für die Anstrengungen der Konföderation gegen St. Ives von Bedeutung gewesen waren oder über genügend Einfluß verfügten, um trotzdem eingeladen zu werden, hatten sich auf Einladung Kanzler Sun-Tzu Liaos im zweiten Stock des Palasts des Himmels im Ballsaal versammelt. Diener reichten Wein, würzigen Cidre und das zu diesem Fest traditionelle mondförmige Gebäck. Durch die breite Fensterfront, die ein volles Viertel der östlichen Saalwand ausmachte, erhob sich Sians größter Mond Fu Hsi in majestätischer Größe. Der kupferreiche Boden des in voller Rundung herabscheinenden Satelliten verlieh ihm eine bernsteingelbe Farbe. Die Gespräche waren lebhaft, und wie bei den meisten Empfängen hatten sich zahlreiche Grüppchen gebildet.

»Aber nicht nach Kasten«, flüsterte Sun-Tzu gerade laut genug, so daß Talon Zahn ihn hörte.
Er wanderte in Zahns Begleitung durch den Saal und wandte sich dann der an der nördlichen Wand gelegenen Empore zu, zeigte jedoch keine Eile, sie zu erreichen. Er trug eine goldene Robe, über deren weite Ärmel sich um elfenbeinfarbene Pferdeköpfe geschlungene Drachen aus Silberfäden zogen. Zwei hünenhafte Todeskommando-Wachen folgten ihnen.
»Mein Kanzler?« fragte Zahn. Seine dunklen Augen zuckten suchend durch den Saal, während er an einem Glas Cidre nippte, dann verstand er die Bemerkung seines Herrschers, ohne eine weitere Erklärung zu benötigen. »In der Tat, das ist...« Er pausierte, erkennbar um des Effekts willen. »...anders.«
Durch die Pause erhielt ›anders‹ die Bedeutung von ›seltsam‹. Sun-Tzu stimmte seinem General zu, aber was er sah, gefiel ihm. Wo bei allen anderen Gelegenheiten die Gesprächsgrüppchen leicht nach Kaste abgehakt werden konnten, war das heute nicht möglich. Direktorat und Intelligenzia trafen sich, tauschten freimütig Ideen und Gesprächsstoff aus. Die Janshi, Krieger, waren in allen Gruppen willkommen und wurden sogar gelegentlich von den nominell höherstehenden Kasten eingeladen, um ihre Meinung zu hören - oder auch nur in Anerkennung ihrer Leistungen.
Und vor allem gab es keine ungebetenen Gäste. Romano Liao war verstummt. Keine geisterhaften Einflüsterungen, keine Streitgespräche. So gehört es sich auch für eine Frau, die seit zehn Jahren tot ist, dachte Sun-Tzu und verengte nachdenklich die jadegrünen Augen. Sie war in seine Erinnerung zurückgekehrt, und als solche akzeptierte er sie auch, aber niemals wieder würde sie ihren düsteren Schatten über eine Regierung der Konföderation werfen. Er wußte, daß es mehrere Gründe für Romanos endgültiges Hinscheiden gab, und nicht der geringste davon war der endgültige Erfolg seiner Xin-ShengBewegung. Eine echte Neugeburt der Konföderation.
»Zum ersten Mal seit über drei Jahrzehnten«, bemerkte Sun-Tzu leise, um sein Gespräch mit Talon Zahn auf privater Ebene zu halten, »fühlt sich das capellanische Volk nicht mehr als die gebrochene Nation, die Hanse Davion nach dem 4. Nachfolgekrieg zurückgelassen hat. Wir haben zurückgewonnen, was unser war.«
Zahn nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas. »Die endgültige Lösung könnte noch eine Weile dauern«, erinnerte er seinen Kanzler. »Die dem Pakt verbliebenen Systeme könnten noch sechs Monate durchhalten, oder sogar noch länger.«
Sun-Tzu wischte seine Bedenken beiseite. »Sechs Monate, sechs Jahre, das spielt kaum eine Rolle. Der Fall St. Ives' hat der Xin Sheng genug Kapital eingebracht, um für ein ganzes Leben zu reichen.«
Er verzögerte seinen Schritt, als die Unterhaltung in einer nahen Gruppe von Kriegern und Verwaltern erstarb und ihre Mitglieder sich alle in einer formellen Verbeugung zu ihm umdrehten, die in dieser gesellschaftlichen Umgebung nicht gefordert war. SunTzu erwiderte ihre Geste und nahm Blickkontakt mit jedem einzelnen auf, um sie wissen zu lassen, daß der Kanzler ihre Höflichkeit zur Kenntnis genommen hatte. Die wenigen, die vor seinem Blick zurückzuckten, merkte er sich für eine spätere Gelegenheit
»Ja«, murmelte er. »Ein ganzes Leben.« Er lächelte, als eine andere Gruppe die Gläser hob. Obwohl der offizielle Anlaß des Zhon-qiu-jie die Feier der Herbstzeit und erhoffter reicher Ernte war, bezog sich nahezu jeder Trinkspruch, den Sun-Tzu aufschnappte; auf die Rückkehr der Kommunalität St. Ives.
Auch das gefiel ihm. Nicht die Unterwerfung eines Feindes, stellte er fest, sondern die Rückkehr einer verlorenen Kommunalität. Mit dem Sturz von St. Ives hatte der Kanzler umgehend den wahren Namen der Kommunalität wiederhergestellt, ein Versprechen an die capellanischen Bürger, daß sie in der Heimat willkommen waren. Den Namen so freudig aufgenommen zu hören, gab ihm Hoffnung, die Konföderation gänzlich heilen, den capellanischen Staat vollständig wiederherstellen zu können.
Der letzte Knoten ist gelöst.
Ion Rush und Nancy Bao Lee kamen in der Nähe vorbei, als Sun-Tzu die Empore fast erreicht hatte. Sie war in ein smaragdgrünes Seidenkleid gehüllt, er machte in der elfenbeinweißen und grünen Ausgehuniform Haus Imarras eine imposante Figur, und beiden waren die Gesellschaft des anderen sichtlich unangenehm. Eine gute Kombination, dachte SunTzu, erfreut, daß seine Idee, die beiden gemeinsam zu dieser Feier einzuladen, sich so bewährt hatte. Sie bremsen sich gegenseitig.
Das Paar blieb stehen und verneigte sich vor dem Kanzler. Nancy Bao Lee behielt dabei Blickkontakt mit Sun-Tzu und lächelte dünn. Eine Erinnerung an ihren Erfolg bei der Ausschaltung Sascha Wanlis auf St. Ives. Er gestattete der Maskirovka-Agentin ihren Anflug von Stolz. Er hätte Sascha niemals erlauben dürfen, so lange zu überleben, ungeachtet seiner Bemühungen, Romanos Schatten zu entfliehen. Mutter mag ihr Volk mit Kälte behandelt haben, in ihren Maßnahmen skrupellos und gelegentlich in ihren Schlußfolgerungen sogar gestört gewesen sein. Aber das bedeutet nicht, daß ihr Handeln nicht ab und zu auch gerechtfertigt war.
Die Anerkennung dieser Tatsache hatte ebenfalls viel dazu beigetragen, Romanos Geist zu vertreiben. Niemals, versprach er sich erneut, werde ich ihrer Erinnerung gestatten, mein Urteilsvermögen zu trüben, in keiner Weise.
Dicht hinter Rush und Lee näherte sich Naomi Centrella, flankiert von zwei Erbadligen der capellanischen Adelskammer. Ihr tief ausgeschnittenes Abendkleid in Türkis und Schwarz hob sich deutlich von der Kleidung ihrer Begleiter ab und spiegelte statt deren capellanischen Erbes ihre canopische Herkunft wieder. Ein weiteres positives Zeichen, daß Naomi hier im Saal so freundlich aufgenommen wurde. Alle drei neigten förmlich den Kopf, erst vor Kanzler Liao, dann vor Sang-Jiang-jun Zahn.
Sun-Tzu blieb stehen, und Talon Zahn begrüßte sie sowohl für sich wie für den Kanzler. »Botschafterin Centrella«, verneigte er sich vor Naomi und wählte ihren formellen Titel am Hofe statt des militärischen Ranges, den sie in ihrer Rolle als Kommandeurin der innerhalb der Konföderationsgrenzen operierenden Magistratstruppen angenommen hatte. Die Adligen begrüßte er nur mit einem kurzen ›Sirs‹. Als Mitglied des Schwertadels oder Barducs war er nicht verpflichtet, ihre vollen Titel zu nennen.
Sun-Tzu hob mit sorgfältig neutralem Gesichtsausdruck ein frisches Weinglas vom Tablett eines Dieners. »Naomi, die Konföderation spricht Ihrem Volk erneut ihren Dank für die jüngste Unterstützung bei der Heimführung von St. Ives aus.«
Er bot ihr das Glas an und gab vor, nicht zu bemerken, wie sich die Adligen in ihrer Begleitung plötzlich versteiften und mehrere der Gespräche in ihrer Nähe verstummten. Seine Geste war der Vertreterin einer verbündeten Nation gegenüber nicht wirklich angebracht, aber er wollte Naomis Reaktion auf die peinliche Situation abschätzen. Es war einer von einem Dutzend ähnlicher Tests, die er an diesem Abend bereits durchgeführt hatte.
Naomi erwies sich der Herausforderung als gewachsen. Sie nahm das Glas an. Es abzulehnen, hätte eine Beleidigung des Kanzlers bedeutet. Sie nahm es mit beiden Händen entgegen. Fast hätte Sun-Tzu über diese versteckte Andeutung seiner größeren Kraft gelächelt.
Naomi Centrella verneigte sich. »Eure Anerkennung nehme ich dankend an, Kanzler Liao, sie ist jedoch nicht erforderlich. Das Magistrat stellt nur seine Verpflichtung unserem Bündnis gegenüber unter Beweis.« Dann bot sie das Glas Talon Zahn an. »Wenn Ihr jemandem für den Sieg auf St. Ives danken wollt, muß es Sang-Jiang-jun Zahn sein.«
Zahn stellte sein halbvolles Cidreglas auf das Tablett eines vorbeikommenden Dieners und nahm den Wein mit einer weiteren leichten Verbeugung von Naomi entgegen.
Nicht schlecht, entschied Sun-Tzu und nahm sich selbst ein Glas dunklen Pflaumenweins vom selben Tablett. Über Naomis Schulter sah er Nancy Bao Lee die Stirn runzeln. Doch er konnte sich nicht sicher sein, ob es eine Geste persönlicher Abneigung gegen Naomi Centrella war oder nur Anzeichen ihres Wunsches, selbst auf solche Weise geehrt zu werden. So oder so kann ich es für meine Zwecke verwenden, aber ich muß herausfinden, welchen Grund es hat. Morgen.
Sun-Tzu beendete alle weiteren Gespräche, indem er sich abwandte und auf die niedrige Empore trat. Durch die zusätzlichen dreißig Zentimeter Höhe gestattete die Plattform dem Kanzler, den gesamten Ballsaal zu überblicken. Die Gespräche erstarben, als alle Anwesenden sich zu ihm umdrehten. Allesamt Capellaner, bis auf Naomi. Sie sehen mich als Kanzler. Als Liao. Als die Stimme des capellanischen Volkes, das die Nation ist. Das war Sun-Tzus Karma, dem Staat nach besten Kräften zu dienen. Nichts anderes hatte gleichen Stellenwert.
»Auf die Kommunalität St. Ives, die von jetzt an für immer als Kommunalität der Xin Sheng gefeiert werden wird«, erklärte er und hob seinen Pflaumenwein. »Und auf die Konföderation Capella und die Dreifaltige Allianz.« Er hielt sein Glas hoch, dehnte den Moment des Schweigens, in dem alle sich an die Geschehnisse der vergangenen zwei Jahre erinnerten...
In der ersten Reihe vor der Empore nahm Talon Zahn Haltung an und hob ebenfalls das Glas. »Xin
Sheng!« brüllte er, und seine befehlsgewohnte Stimme hallte durch den Saal.
Unter einem Meer erhobener Gläser und zum Salut emporgeschleuderter Fäuste antworteten hundert Stimmen. »Xin Sheng! Xin Sheng! Xin Sheng!« Mit jeder Wiederholung lauter werdend donnerte der Ruf über die Versammlung.
Danach tranken alle außer Sun-Tzu Liao, der sich vom Augenblick gefangennehmen ließ und einen Moment lang voller Stolz genoß, was er begonnen hatte. Sie feiern nicht mich, sondern sich selbst. Was wir erreicht haben. Was noch zu tun blieb, verblaßte im Vergleich.
Endlich hob auch Sun-Tzu das Glas an den Mund. Nichts kann sich uns noch in den Weg stellen.
Die Konföderation Capella ist zurückgekehrt.

Battletech 46: Die Natur des Kriegers
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