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Palast des Himmels,
Zi-jin Cheng (Verbotene Stadt), Sian Kommunalität Sian, Konföderation Capella

15. September 3062

Sun-Tzu spürte einen eisigen Hauch über den Thron des Himmels wehen, als sich das Portal des Thronsaals öffnete, um seine Schwester und ihre ›Leibwache‹ einzulassen, auch wenn er sich keinerlei Emotion anmerken ließ. Kali Liao trug ein grünes Seidenkleid, auf dessen Bauchpartie in breiter silberner Stickerei die Hindu-Göttin abgebildet war, deren Namen sie trug. Das Motiv erinnerte ihn an ein Spinnennetz.

Sie bewegte sich mit förmlicher Langsamkeit und schien ihre tödliche Eskorte überhaupt nicht wahrzunehmen. Die vier Todeskommando-Krieger, die Kali vor den Kanzler begleiteten, waren in voller Prunkuniform ausstaffiert: schwarzer Stoff mit Bronzelitzen, langer Umhang und Daoschwert an einem breiten Brustgurt. Nur die Mydron-Sturmgewehre in ihren Armen verrieten, daß es sich um keine Ehreneskorte handelte, sondern um Bewachung.

Sun-Tzu bereitete sich unterdessen innerlich auf die Vorstellung vor, die er geplant hatte. Auf beide Vorstellungen, verbesserte er sich, als er Naomi Centrella der Eskorte in den Thronsaal folgen sah. Kali hatte zwar Anweisung erhalten, vom Raumhafen sofort in den Palast zu kommen, aber er hatte nicht erwartet, daß Naomi ihr so unmittelbar folgen würde. Für dieses Überraschungsmanöver rechnete er ihr die volle Punktzahl an, denn er wußte wohl, daß er ihr die Initiative ebenso leicht wieder entreißen konnte.

Er stand vom Thron auf und verließ die niedrige Empore, um seiner Schwester auf gleicher Höhe zu begegnen. Die spektrale Präsenz Romanos, die seine Gedanken noch immer mit Erinnerungen und gelegentlichen Einflüsterungen verfolgte, verlangte nichts weniger als Respekt vor der mutigen Handlungsweise ihrer Tochter. Sun-Tzu schenkte diesen Forderungen wenig Aufmerksamkeit. Trotz ihres Wahns war Kali ein Mitglied Haus Liaos und verdiente nach ihrer formellen Verurteilung jede Höflichkeit. Außerdem nimmt das Naomi jeden Vorteil, den sie sich möglicherweise durch den Versuch erhofft haben mag, die Autorität über die Gefangene formell an mich zu übergeben. Der Geist seiner Mutter lächelte nur.

»Willkommen zurück auf Sian, Kali«, begrüßte Sun-Tzu seine Schwester, deren Eskorte sie in deutlichem Abstand vor dem Kanzler stoppte.

Kali trat zwei Schritte weiter vor. Dabei war nicht klar, ob sie die Autorität der Todeskommandos ignorierte oder gar nicht bemerkte. Sie nickte ihm zur Begrüßung zu. Es war kaum erkennbar, aber zumindest ein winziges Zeichen von Respekt vor dem Kanzleramt.

»Hallo, Bruder. Es tut gut, wieder daheim zu sein.« Kalis Stimme klang seidenweich und ließ keinerlei Spuren des monatelangen Tribunals auf Atreus erkennen.

»Nicht länger«, stellte Sun-Tzu nüchtern fest und war sich der Wut sehr bewußt, die Romano Liao bei der Durchsetzung eines solchen Erlasses gespürt hatte. »Du bist auf den Planeten Highspire verbannt, bis du dem Sternenbund Informationen zur Wiederbeschaffung der noch aus dem Wei-Depotbestand abgängigen Nervengasvorräte lieferst.« Er behielt seine Schwester sorgfältig im Blick, hielt Ausschau nach Anzeichen einer Gefühlsregung. Ihre dunkelgrünen Augen zeigten weder Reue für ihre Greueltaten noch Verärgerung über ihr Exil. Ihr Blick blieb passiv und unbewegt.

»Die Welt unserer Mutter«, erklärte Kali schließlich. »Ja, dort wird es mir gefallen. Danke.« Sie drehte sich um, offensichtlich der Meinung, daß die Audienz beendet war, aber dann blieb sie noch einmal stehen und sah sich mit einem Gesichtsausdruck zu ihm um, der etwas von Stolz hatte. »Ich hatte recht«, sagte sie.

Von Kalis gelassener Hinnahme seines Urteils und dem wütenden Toben seiner Mutter vorübergehend verwirrt, konnte Sun-Tzu nur fragen: »Womit?«

»Die Konföderation hat überlebt«, stellte Kali mit leichtem Lächeln fest. »Und sie ist stärker als je zuvor. Du hast eine andere Lösung gefunden, wie die Zeichen es versprochen haben. Wie ich vorhergesagt habe.« Damit ergab sie sich ihrer Eskorte und verließ hocherhobenen Hauptes den Thronsaal, in eine Zukunft blickend, die offensichtlich nur sie allein erkennen konnte.

Sun-Tzu konzentrierte sich voll auf die Maske, die seine Gefühle verbarg. Er weigerte sich, seine Ruhe von der Manie seiner Schwester zerstören zu lassen, und sicher nicht vor Naomi Centrella, die nun an die Stelle vortrat, die Kali soeben verlassen hatte.

»Naomi«, begrüßte er sie, stieg zurück auf die Empore und ließ sich auf den handgeschnitzten Thron des Himmels sinken.

»Kanzler Liao.« Ihre Begrüßung war formell und wertete Sun-Tzus legeren Gruß im Vergleich ab. Eine gute Schülerin, dachte Sun-Tzu.

»Bin ich auf Sian ebenfalls willkommen?« fragte sie, und ihre Stimme wurde von einer freundlichhumorvollen Note versüßt. Naomi war durch ihre Mutter, die Magestrix von Canopus, wohlgeschult in höfischem Benehmen, eine Expertise, die Sun-Tzu zu kultivieren wünschte.

Er nickte und ließ die Andeutung eines Lächelns um einen Mundwinkel spielen. »Die Centrellas sind auf Sian stets ebenso willkommen wie meine eigene Familie.«

Das ließ Naomis zögerndes Lächeln an den Klippen zerschellen, die unter der ruhigen Oberfläche seiner Worte lauerten. »Ich hoffe, diese Einladung wäre auf etwas anderem Briefpapier verfaßt worden als dem, das Sie Ihrer Tante Candace derzeit zustellen lassen.«

Sun-Tzu gestand ihr diesen Punkt mit einem kurzen Nicken zu. »Ganz recht«, versprach er, auch wenn die innere Romano Naomi für ihre Impertinenz mit wüsten Beschimpfungen bedachte. Er entschied sich, das Thema zu wechseln und die laufende Angelegenheit zu einem Ende zu bringen. »Wie es scheint, haben Sie Ihre Zeit auf Atreus nicht verschwendet. Ich kann nicht gerade behaupten, daß es mir gefällt, für Kalis zukünftige Aktionen verantwortlich gemacht zu werden, aber das war ein notwendiges Zugeständnis, um sicherzustellen, daß das Tribunal stagnierte.«

Naomi fiel es schwerer, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie tänzelte unruhig, und ihre Verärgerung schien zumindest teilweise durch, eine Tatsache, die sich Sun-Tzu für zukünftige Gelegenheiten merkte. Sein Einfluß auf die Thronerbin des Magistrats Canopus gehörte zu den ehrgeizigsten Fäden, die er in den Teppich seiner zukünftigen Pläne einwob.

»Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer es war, über sie zu Gericht zu sitzen«, brach es schließlich aus ihr heraus. »Die Holovids der Greueltaten, die ihre Anhänger im St. Ives-Pakt verübt haben, waren äußerst beeindruckend. Hinter verschlossenen Türen schrie der Botschafter des Pakts nach Blut, während Thomas Marik an einem gerechten Urteil arbeitete.«

Und wen von beiden wolltest du unterstützen?

wollte Sun-Tzu sie fragen, doch er spürte den Einfluß von Romanos Verfolgungswahn hinter dieser Frage. Er schreckte zurück. Ich werde nicht mein ganzes Leben von Paranoia bestimmen lassen. Nicht so wie sie. »Und statt dessen waren beide gezwungen, Kalis...« Er machte eine Pause. »...Zustand zu akzeptieren. Sie haben geholfen, den capellanischen Staat zu retten.« Er sah ihr ins Gesicht und gestattete einem Teil seiner Entschlossenheit, durchzuscheinen. Im Grunde war es eine Prüfung. »Das werde ich nicht vergessen, Naomi Centrella.«

»Das Schicksal des Magistrats meiner Mutter ist mit dem der Konföderation verknüpft.« Die in einem schwarzen Handschuh steckende Hand Naomis strich eine imaginäre Falte im Ärmel ihrer türkisfarbenen Uniformjacke glatt. Der Blick, mit dem sie den capellanischen Kanzler musterte, war deutlich. »Wir vergessen unseren Verbündeten nicht, gleichgültig, welche privaten Gefühle wir hegen.«

Wie gut Sun-Tzu es verstand und schätzte, wenn man das Wohl des Staates über das eigene Wohl stellte. Das war etwas, das meine Mutter nie auseinanderhalten konnte, dachte er mit einem plötzlichen Maß an Genugtuung. Für sie waren Staatsangelegenheiten immer eine persönliche Beleidigung oder Genugtuung, denen sie mit Wut oder Selbstgerechtigkeit begegnete. Sun-Tzu wollte von sich glauben, gegen derartige Selbsttäuschungen gefeit zu sein, aber er spürte noch immer, wie Romano tief in seinem Unterbewußtsein lächelte.

Er war so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß ihm beinahe entgangen wäre, welche Betonung Naomi auf unseren Verbündeten gelegt hatte. Einzahl, und das war sicher kein Versprecher. Er überspielte die lange Gesprächspause mit einem Schauspiel nachdenklichen Interesses, indem er die canopische Thronerbin mit langen Blicken musterte, während er die Fingerspitzen aneinanderschlug. Schließlich sagte er: »Die Konföderation kennt - ich kenne - den Unterschied zwischen Loyalität und diplomatischen Erfordernissen.« Das blieb unbestimmt genug, um auf verschiedene Weise ausgelegt zu werden, je nachdem, worauf Naomi mit ihrer Bemerkung abzielte. Wenn sie diesen Punkt weiterverfolgen will, muß sie den ersten Schritt tun.

Sie tat ihn. Mit dem verschleierten Blick ihrer dunkelblauen Augen und einer von ehrlicher Sorge gefärbten Stimme setzte Naomi in bester höfischer Manier - canopischer wie capellanischer - nach. »Es wäre mir zutiefst zuwider, müßte ich zu dem Schluß kommen, daß das Magistrat Canopus in Anbetracht jüngster Arrangements nicht länger die Freundschaft der Konföderation genießt.« Sie pausierte, und ihre Augen verengten sich. »Ungeachtet der Festigkeit dieser Arrangements.«

Sie zweifelt am Wert meiner Verpflichtung Grover Shraplen und dem Tauruskonkordat gegenüber. Und letztlich auch ihrem eigenen Reich gegenüber. Der Blick seiner jadegrünen Augen fiel auf Naomi und schätzte sie ab. Und das aus gutem Grund, wisperte eine spöttische Stimme aus den Tiefen seines Geistes. Sun-Tzu blinzelte, verärgert über die Einmischung seiner Mutter.

Er stand auf, trat an den Rand der Empore und hielt Naomi Centrella die Hand entgegen, während er der inneren Romano gestattete, die Tiefe seiner Verpflichtung zu erkennen. Er konnte die Wut seiner Mutter vorhersagen, das Gefühl einer persönlichen Beleidigung ihrer Person, darüber, daß er auch nur bereit war, sich so ohne weiteres mit einer Peripherienation zu verbünden. Erst recht mit einer Peripherienation, die sich im düstersten Moment der Geschichte der Konföderation gegen sie verbündet hatte.

Wie kannst du dieses Angedenken verraten? Er spürte die Frage, die seine Mutter ihm gestellt hätte, ohne Zweifel unterstützt von einer Horde Maskirovka-Agenten, bereit, seine Loyalität zu überprüfen und zu erzwingen.

Ich kann es, weil die Konföderation - der capellanische Staat - wichtiger ist als jede historische Fußnote, jedes Ideal und unter den entsprechenden Umständen auch wichtiger als welche Anzahl von Leben auch immer. Und sie war ganz sicher wichtiger als das Gedächtnis einer toten Kanzlerin.

Naomi trat vorsichtig näher, als befürchte sie eine Falle. Ihre Hand schob sich warm und weich in die Sun-Tzus, und er führte sie auf die Empore. Auf gleiche Ebene, aber statt zu ihr herabzusteigen, wie es das Vorrecht des Kanzlers war, wenn er seinen Respekt erweisen wollte, hatte er sie über alle anderen erhoben, die noch im Thronsaal stehen und auf die Aufmerksamkeit des Kanzlers hoffen mochten. Symbolik hatte ihre Bedeutung, und nirgends mehr als am Hof von Sian und im Palast des Himmels. Und daran, wie das Blut in ihre Wangen schoß und ihre blauen Augen sich in Ehrfurcht und Eifer weiteten, erkannte Sun-Tzu noch etwas.

Sie begriff.
Während Isis das capellanische Erbe, das sie zu einem Teil ihres Lebens hatte machen wollen, nie wirklich verstanden hatte, benötigte Naomi keine Erklärung. Sie brauchte nicht mehr als diese eine symbolische Geste, die in sich bereits genug aussagte. Und so standen sie schweigend nebeneinander und blickten zusammen in eine gemeinsam geschaffene Zukunft. Sun-Tzu sah eine starke capellanische Nation, die wiedergeborene, erneuerte Konföderation. Xin Sheng. Und falls Naomi ein stärkeres Magistrat sah, nahm Sun-Tzu ihr das nicht übel.
Denn auch das würde den capellanischen Staat stärken.

Battletech 46: Die Natur des Kriegers
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