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Bruchfeldplateau, Layting, St. Loris Herzogtum St. Loris, St. Ives-Pakt11. Juni 3062
Cassandra Allard-Liao stützte Tamas Rubinsky mit einer Hand am Arm und achtete darauf, daß er sich dem Klippenrand nicht zu weit näherte. Von ihrer jetzigen Stellung aus hatten sie bereits eine annehmbare Sicht auf die Landungsschiffe Kriegerhaus Hiritsus. Die vier runden Schiffsrümpfe ragten in acht Kilometer Entfernung hoch über der von hohem, fahlgelbem Gras und vereinzelten Ginstergestrüppen bedeckten Ebene auf. Man hätte sie fast für Gebäude halten können, die von Riesenhand mitten in die Bruchfeldebene von St. Loris versetzt worden waren. Der Overlord erreichte vierzig Stockwerke.
»Glaubst du, sie fliegen wirklich ab?« fragte sie, mehr um die Spannung zu brechen und Tamas' drükkendes Schweigen zu beenden, als aus echtem Bedarf an Information. Tief in ihrem Innern war Cassandra sicher, daß das Kriegerhaus St. Loris tatsächlich den Rücken kehrte, auch wenn sie zur Zeit nicht erkennen konnte, zu welchem unheiligen Zweck.
Tamas atmete tief ein. Durch den Schaden an seiner Lunge, die ihm nur noch wenig Sauerstoff liefern konnte, war das nötig, wenn er sprechen wollte. »Konföderation kann sich nicht leisten, für Unwichtiges Kampfschiffeskorte zu stellen«, sagte er. Seine Stimme war schwach, vermittelte aber noch immer eine Spur ihrer früheren Kraft. »Haus Daidachi steht immer noch am Nadirpunkt?«
»Laut den letzten Berichten, ja.« Cassandra schirmte die Augen vor der Mittagssonne ab. »Die Ladestation hält sie unter Beobachtung.«
Der Söldner nickte. Die simple Geste wirkte durch das Zittern seiner Muskeln plötzlich grotesk verzerrt. »Da. Dann fliegen sie ab.« Er hob mit beiden Händen das Fernglas, um sich die Raumschiffe näher anzusehen. Cassandra trug einen Feldstecher derselben Marke um den Hals. Seine Hände zitterten. Unter ihrer auf seinem Oberarm ruhenden Hand fühlte Cassandra die Muskeln tanzen, als Tamas darum kämpfte, das Fernglas ruhig zu halten.
Sie nahm ihre Hand weg und gestattete ihm bei seinem Ringen mit den Nachwirkungen des Schwarzer-Lenz-Gifts etwas Privatsphäre. Sie bewunderte Tamas' Willensstärke, auch wenn sie sich gerade fragte, ob die Dickköpfigkeit, die er von seinem Vater geerbt hatte, diesmal nicht eher schadete. Er hatte sich kaum von der Lungenentzündung erholt, die als Folge der Verätzung aufgetreten war, und litt immer noch unter leichten neuralen Schäden, die sich in verminderter Muskelkontrolle äußerten.
Cassandra fand, daß er ins Krankenhaus gehörte, aber Tamas hatte sich geweigert, noch länger dort zu bleiben. Er hatte ihr erklärt: »Bewegung wird mir besser bekommen, als im Krankenbett zu vegetieren.« Er wirkte tatsächlich gesünder. Seine Haut hatte etwas Farbe zurückgewonnen, und in seiner Felduniform - statt einem dünnen Krankenhemd - schien er erheblich beeindruckender. Aber Cassandra wußte, daß es nicht die Felduniform war, um die es ihm ging, sondern Gefechtskleidung, wie sie selbst sie trug: Kühlweste, Shorts und Gefechtsstiefel.
MechKrieger-Montur.
Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hatte ihn sein erster Weg
zu den Mechhangars und seinem Vollstrecker geführt. Der BattleMech hatte nur
schwerfällig auf Tamas' Steuersignale reagiert, und eine durch die
Nervenschäden hervorgerufene Veränderung seiner Hirnwellenmuster
hatte die Steuerung über den Neurohelm nicht nur gebremst, sondern
dem jungen MechKrieger auch Kopfschmerzen von einer stechenden
Intensität eingetragen, die ihn fast in den Wahnsinn getrieben
hatten. Degenerative Feedbackanomalie lautete der Fachausdruck für
diese Symptome. Sie waren dank verbesserter Neurosignalschaltkreise
seltener geworden, konnten aber nach Gefechtsverletzungen immer
noch auftreten. Meistens war eine Schädelverletzung die Ursache,
aber das von Wei stammende Nervengas hatte eine ganz ähnliche
Wirkung. »Geduld«, hatte der Arzt ihn ermahnt, der die DFA
festgestellt hatte. »Sie müssen Geduld haben.«
Doch seine Augen hatten ihn verraten, und Cassandra war sicher, daß
Tamas die Wahrheit ebenso darin gelesen hatte wie sie. Es war gut
möglich, daß er nie wieder einen Mech steuern würde. Schon die
Erinnerung an diesen Augenblick genügte, daß Cassandra sich
schüttelte. Das hätte ich sein
können.
»Da fliegen sie«, sagte Tamas und senkte sein Fernglas. Unter dem
Overlord stieg eine Rauchwolke auf, als
Flammenzungen aus den riesigen Triebwerksdüsen schlugen und den
Boden verbrannten. Dann löste sich der Wolkenkratzer auf einer
Feuersäule von der Oberfläche St. Loris'. Die beiden kleineren
Schiffe der Union-Klasse folgten in
perfektem Synchronstart, und als letztes Schiff hob der
SucherInfanterietransporter
ab.
Die vier Schiffe nahmen eine lockere Rautenformation ein, während
sie ins All stiegen. Der Overlord
drehte sich, und das Konföderationswappen auf seinem Rumpf kam in
Sicht. Selbst auf diese Entfernung konnte Cassandra das Damdao
erkennen, das aus dem fünfzig Meter hoch auf den
schlachtschiffgrauen Rumpf gemalten, auf der Spitze stehenden
Dreieck ragte. Das mußte die Dainwu
sein, Ty Wu Nons Flaggschiff. Sie fragte sich kurz, in welchem der
beiden kleineren Union-Schiffe wohl
Aris Sung mitflog, dann strich sie ihn aus ihren
Gedanken.
Auf Nimmerwiedersehen, verabschiedete
sie die Haus-Krieger. Sie bedauerte nur, daß der Abflug Haus
Hiritsus nicht in größerem Maße auf die Leistungen ihrer Lanciers
und der Leichten Reiter zurückging, aber wenigstens waren sie
fort.
»So, Haus Hiritsu hat St. Loris verlassen«, stellte Tamas fest, als
hätte er Cassandras Gedanken gelesen. Er ließ das Fernglas langsam
zurück auf seine Brust sinken. »Zwei Kriegerhäuser mit
Zerstörereskorte. Spica?« fragte er mit Blick auf das
nächstgelegene Paktsystem, dessen Siedlungswelt sich der Pakt mit
dem Vereinigten Commonwealth teilte. »Oder Tantara?«
Cassandra hatte sich dieselbe Frage gestellt. »Das Kriegsschiff
würde einen Sinn ergeben, wenn sie beim Angriff auf Spica mit
VerCom-Gegenwehr rechnen.« Sie seufzte. »Aber auch für Tantara,
weil es tief im Paktraum liegt und uns als Logistikzentrum für die
Teng-Front dient.« Sie kaute nachdenklich auf der Unterlippe. Dann
schüttelte sie den Kopf. Sun-Tzus Pläne
erraten zu wollen, ist, als würde man versuchen, Ordnung aus Chaos
zu erzielen. Er hat es sogar geschafft, Kai eine Falle zu stellen,
was eine gehörige Leistung ist. »Mit einem Doppelsprung
können sie von hier aus jedes System des St. IvesPaktes angreifen.
Wir werden früh genug erfahren, wo sie zuschlagen.«
»Früher als uns lieb ist«, stimmte Tamas zu, und seine Worte
spiegelten Cassandras Gedanken wider. Er drehte sich mit
undurchschaubarer Miene zu ihr um. »Du verläßt uns?«
Nach kurzem Zögern nickte Cassandra. »Ja. Das 1. Regiment der
Kosaken kehrt nach St. Loris zurück, und damit seid ihr der
Panzerbrigade gewachsen. Der Nachrichtendienst hält es für
unwahrscheinlich, daß das 151. Geschwader sich weit über die
Grenzen Pardrays hinauswagt. Wir sind zur Überholung nach Tantara
beordert und dann nach Ambergrist, wo wir gehörig einstecken
müssen.« Letzteres hatte sie eigentlich für sich behalten wollen,
weil es zu verbittert klang. Sie wußte wohl, daß sie in Tamas' Nähe
zu entspannt war. Aber bei den Göttern, ich
brauche hier draußen jemanden, der mich bei Verstand hält.
Und bis sie jetzt gerade zugegeben hatte, daß sie abflog, war ihr
nicht klar geworden, wie sehr sie ihn vermissen würde.
Ihre offensichtliche Niedergeschlagenheit rang Tamas ein dünnes,
humorloses Lächeln ab. »Immer noch müde, immer nur zu reagieren?«
fragte er.
Sie nickte. »Mehr denn je«, gab sie zu. »Jetzt, da Kai nach der
Schlacht um Capella nach Hause humpelt, müssen wir eine neue
Offensive gegen den Konföderationsraum ankurbeln. Kalis
Todesherrschaft hat die Anstrengungen auf beiden Seiten dieses
Krieges zurückgeworfen.« Sie bedauerte ihre Bemerkung kurz, als
Tamas zusammenzuckte, aber dann sprach sie weiter: »Und jetzt liegt
es daran, wer die Initiative zurückgewinnt.«
Unwillkürlich schauten sie beide nach oben, den hellen, kleiner
werdenden Lichtpunkten nach, die Haus Hiritsus Landungsschiffe auf
dem Weg zu einem Kriegsschiff der Konföderation Capella ausmachten.
Keiner von ihnen sprach es aus.
»Du hast an der Teng-Front Wunder vollbracht, Cassandra«, sagte
Tamas nach einem tiefen Atemzug. »Falls du vergißt.«
Cassandra konnte an dem stärker werdenden slawischen Akzent und
daran, wie er unwichtige Satzteile verschluckte, erkennen, wie sehr
ihn das Gespräch erschöpfte. Sie versuchte, sein Lob abzuwehren,
ihm Gelegenheit zur Erholung zu geben, aber Tamas schüttelte den
Kopf. »Ohne dich wären auf Indicass viele Leichte Reiter gefallen.
Wir vergessen das nicht. So wenig wie andere, denen du hilfst.« Er
machte eine Pause, um mehrere Male tief einzuatmen. Ein leichtes
Röcheln ließ die Anstrengung erkennen, die es ihn kostete. »Du hast
viel gutes...« Er stockte, suchte erkennbar nach dem richtigen
Wort, »...viel gutes Karma aufgebaut. Du wirst deinen Wunsch
bekommen.«
Cassandra wußte Tamas' Anstrengung zu schätzen, auch wenn sie nicht
viel dazu beitrug, die Sorge zu vertreiben, die ihr deutliches
Magengrimmen verursachte. »Dann wünsche ich mir einen Angriff auf
Sian.« Jetzt seufzte sie. »Irgendwann. Aber erst einmal heißt es
Tantara und dann Ambergrist.«
Tamas nickte. »Wenn du in Offensive gehst, komm mich erst abholen«,
sagte er.
Sie blinzelte überrascht. »Dich abholen?« fragte sie.
»Mich und meine Kompanie. Du brauchst manchmal einen Aufpasser.«
Tamas' Ton klang lokker, aber sein Gesicht war ernst. »Sind wir
einig, Cassandra Allard-Liao?«
Noch ein Jahr zuvor - noch einen Monat zuvor hätte Cassandra die
Andeutung, daß sie nicht selbst auf sich aufpassen konnte,
möglicherweise als Beleidigung aufgefaßt. Allermindestens hätte sie
das Gespräch auf ein anderes, lockereres Thema gelenkt. Aber Tamas
hatte sich das Recht, sie auf ihre Schwächen anzusprechen, mehr als
verdient, und sie wollte seine Sorge um ihr Wohlergehen nicht
leichtfertig abtun.
»Wir sind uns einig, Tamas Rubinsky«, erklärte sie förmlich und mit
leichter Verneigung.
Bei ihren Worten verrutschte Tamas' ernste Maske etwas. »Gut. Nun
gehen wir zu deinem Mech. Ich habe Flasche und Gläser
dort.«
Von seinem Akzent und der eigenen Müdigkeit benebelt brauchte
Cassandra mehrere Sekunden, um zu verstehen, was er gesagt hatte.
»Du hast was?«
»Wodka«, erklärte Tamas. »Und zwei Gläser. Versteckt in
Cestus. Bei Leichten Reitern, wir
trinken auf Versprechen. Du erinnerst dich.«
Cassandra hätte nicht sagen können, warum sie über seine
Vorbereitungen hätte überrascht sein sollen. Genau diese
Aufmerksamkeit war sie von Tamas Rubinsky gewohnt. »Ich erinnere
mich«, stellte sie fest. »Dankbar.« Sie deutete zur Baumlinie und
reichte ihm den Arm. Wenn schon nichts
anderes, ermahnte sie sich, dann nimm
wenigstens diese Lektion von den Kosaken an und lerne, den
Augenblick mit einem Freund zu genießen. Laß die Sorgen von Morgen
für Morgen.
Ein guter Rat, wenn es ihr nur gelungen wäre, die nagenden Zweifel
zu verdrängen, die sie plagten.
Ein letzter Blick nach oben, aber von Haus Hiritsu war nichts mehr
zu sehen.