19

Bruchfeldplateau, Layting, St. Loris Herzogtum St. Loris, St. Ives-Pakt

 

11. Juni 3062

Cassandra Allard-Liao stützte Tamas Rubinsky mit einer Hand am Arm und achtete darauf, daß er sich dem Klippenrand nicht zu weit näherte. Von ihrer jetzigen Stellung aus hatten sie bereits eine annehmbare Sicht auf die Landungsschiffe Kriegerhaus Hiritsus. Die vier runden Schiffsrümpfe ragten in acht Kilometer Entfernung hoch über der von hohem, fahlgelbem Gras und vereinzelten Ginstergestrüppen bedeckten Ebene auf. Man hätte sie fast für Gebäude halten können, die von Riesenhand mitten in die Bruchfeldebene von St. Loris versetzt worden waren. Der Overlord erreichte vierzig Stockwerke.

»Glaubst du, sie fliegen wirklich ab?« fragte sie, mehr um die Spannung zu brechen und Tamas' drükkendes Schweigen zu beenden, als aus echtem Bedarf an Information. Tief in ihrem Innern war Cassandra sicher, daß das Kriegerhaus St. Loris tatsächlich den Rücken kehrte, auch wenn sie zur Zeit nicht erkennen konnte, zu welchem unheiligen Zweck.

Tamas atmete tief ein. Durch den Schaden an seiner Lunge, die ihm nur noch wenig Sauerstoff liefern konnte, war das nötig, wenn er sprechen wollte. »Konföderation kann sich nicht leisten, für Unwichtiges Kampfschiffeskorte zu stellen«, sagte er. Seine Stimme war schwach, vermittelte aber noch immer eine Spur ihrer früheren Kraft. »Haus Daidachi steht immer noch am Nadirpunkt?«

»Laut den letzten Berichten, ja.« Cassandra schirmte die Augen vor der Mittagssonne ab. »Die Ladestation hält sie unter Beobachtung.«

Der Söldner nickte. Die simple Geste wirkte durch das Zittern seiner Muskeln plötzlich grotesk verzerrt. »Da. Dann fliegen sie ab.« Er hob mit beiden Händen das Fernglas, um sich die Raumschiffe näher anzusehen. Cassandra trug einen Feldstecher derselben Marke um den Hals. Seine Hände zitterten. Unter ihrer auf seinem Oberarm ruhenden Hand fühlte Cassandra die Muskeln tanzen, als Tamas darum kämpfte, das Fernglas ruhig zu halten.

Sie nahm ihre Hand weg und gestattete ihm bei seinem Ringen mit den Nachwirkungen des Schwarzer-Lenz-Gifts etwas Privatsphäre. Sie bewunderte Tamas' Willensstärke, auch wenn sie sich gerade fragte, ob die Dickköpfigkeit, die er von seinem Vater geerbt hatte, diesmal nicht eher schadete. Er hatte sich kaum von der Lungenentzündung erholt, die als Folge der Verätzung aufgetreten war, und litt immer noch unter leichten neuralen Schäden, die sich in verminderter Muskelkontrolle äußerten.

Cassandra fand, daß er ins Krankenhaus gehörte, aber Tamas hatte sich geweigert, noch länger dort zu bleiben. Er hatte ihr erklärt: »Bewegung wird mir besser bekommen, als im Krankenbett zu vegetieren.« Er wirkte tatsächlich gesünder. Seine Haut hatte etwas Farbe zurückgewonnen, und in seiner Felduniform - statt einem dünnen Krankenhemd - schien er erheblich beeindruckender. Aber Cassandra wußte, daß es nicht die Felduniform war, um die es ihm ging, sondern Gefechtskleidung, wie sie selbst sie trug: Kühlweste, Shorts und Gefechtsstiefel.

MechKrieger-Montur.
Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hatte ihn sein erster Weg zu den Mechhangars und seinem Vollstrecker geführt. Der BattleMech hatte nur schwerfällig auf Tamas' Steuersignale reagiert, und eine durch die Nervenschäden hervorgerufene Veränderung seiner Hirnwellenmuster hatte die Steuerung über den Neurohelm nicht nur gebremst, sondern dem jungen MechKrieger auch Kopfschmerzen von einer stechenden Intensität eingetragen, die ihn fast in den Wahnsinn getrieben hatten. Degenerative Feedbackanomalie lautete der Fachausdruck für diese Symptome. Sie waren dank verbesserter Neurosignalschaltkreise seltener geworden, konnten aber nach Gefechtsverletzungen immer noch auftreten. Meistens war eine Schädelverletzung die Ursache, aber das von Wei stammende Nervengas hatte eine ganz ähnliche Wirkung. »Geduld«, hatte der Arzt ihn ermahnt, der die DFA festgestellt hatte. »Sie müssen Geduld haben.«
Doch seine Augen hatten ihn verraten, und Cassandra war sicher, daß Tamas die Wahrheit ebenso darin gelesen hatte wie sie. Es war gut möglich, daß er nie wieder einen Mech steuern würde. Schon die Erinnerung an diesen Augenblick genügte, daß Cassandra sich schüttelte. Das hätte ich sein können.
»Da fliegen sie«, sagte Tamas und senkte sein Fernglas. Unter dem Overlord stieg eine Rauchwolke auf, als Flammenzungen aus den riesigen Triebwerksdüsen schlugen und den Boden verbrannten. Dann löste sich der Wolkenkratzer auf einer Feuersäule von der Oberfläche St. Loris'. Die beiden kleineren Schiffe der Union-Klasse folgten in perfektem Synchronstart, und als letztes Schiff hob der SucherInfanterietransporter ab.
Die vier Schiffe nahmen eine lockere Rautenformation ein, während sie ins All stiegen. Der Overlord drehte sich, und das Konföderationswappen auf seinem Rumpf kam in Sicht. Selbst auf diese Entfernung konnte Cassandra das Damdao erkennen, das aus dem fünfzig Meter hoch auf den schlachtschiffgrauen Rumpf gemalten, auf der Spitze stehenden Dreieck ragte. Das mußte die Dainwu sein, Ty Wu Nons Flaggschiff. Sie fragte sich kurz, in welchem der beiden kleineren Union-Schiffe wohl Aris Sung mitflog, dann strich sie ihn aus ihren Gedanken.
Auf Nimmerwiedersehen, verabschiedete sie die Haus-Krieger. Sie bedauerte nur, daß der Abflug Haus Hiritsus nicht in größerem Maße auf die Leistungen ihrer Lanciers und der Leichten Reiter zurückging, aber wenigstens waren sie fort.
»So, Haus Hiritsu hat St. Loris verlassen«, stellte Tamas fest, als hätte er Cassandras Gedanken gelesen. Er ließ das Fernglas langsam zurück auf seine Brust sinken. »Zwei Kriegerhäuser mit Zerstörereskorte. Spica?« fragte er mit Blick auf das nächstgelegene Paktsystem, dessen Siedlungswelt sich der Pakt mit dem Vereinigten Commonwealth teilte. »Oder Tantara?«
Cassandra hatte sich dieselbe Frage gestellt. »Das Kriegsschiff würde einen Sinn ergeben, wenn sie beim Angriff auf Spica mit VerCom-Gegenwehr rechnen.« Sie seufzte. »Aber auch für Tantara, weil es tief im Paktraum liegt und uns als Logistikzentrum für die Teng-Front dient.« Sie kaute nachdenklich auf der Unterlippe. Dann schüttelte sie den Kopf. Sun-Tzus Pläne erraten zu wollen, ist, als würde man versuchen, Ordnung aus Chaos zu erzielen. Er hat es sogar geschafft, Kai eine Falle zu stellen, was eine gehörige Leistung ist. »Mit einem Doppelsprung können sie von hier aus jedes System des St. IvesPaktes angreifen. Wir werden früh genug erfahren, wo sie zuschlagen.«
»Früher als uns lieb ist«, stimmte Tamas zu, und seine Worte spiegelten Cassandras Gedanken wider. Er drehte sich mit undurchschaubarer Miene zu ihr um. »Du verläßt uns?«
Nach kurzem Zögern nickte Cassandra. »Ja. Das 1. Regiment der Kosaken kehrt nach St. Loris zurück, und damit seid ihr der Panzerbrigade gewachsen. Der Nachrichtendienst hält es für unwahrscheinlich, daß das 151. Geschwader sich weit über die Grenzen Pardrays hinauswagt. Wir sind zur Überholung nach Tantara beordert und dann nach Ambergrist, wo wir gehörig einstecken müssen.« Letzteres hatte sie eigentlich für sich behalten wollen, weil es zu verbittert klang. Sie wußte wohl, daß sie in Tamas' Nähe zu entspannt war. Aber bei den Göttern, ich brauche hier draußen jemanden, der mich bei Verstand hält. Und bis sie jetzt gerade zugegeben hatte, daß sie abflog, war ihr nicht klar geworden, wie sehr sie ihn vermissen würde.
Ihre offensichtliche Niedergeschlagenheit rang Tamas ein dünnes, humorloses Lächeln ab. »Immer noch müde, immer nur zu reagieren?« fragte er.
Sie nickte. »Mehr denn je«, gab sie zu. »Jetzt, da Kai nach der Schlacht um Capella nach Hause humpelt, müssen wir eine neue Offensive gegen den Konföderationsraum ankurbeln. Kalis Todesherrschaft hat die Anstrengungen auf beiden Seiten dieses Krieges zurückgeworfen.« Sie bedauerte ihre Bemerkung kurz, als Tamas zusammenzuckte, aber dann sprach sie weiter: »Und jetzt liegt es daran, wer die Initiative zurückgewinnt.«
Unwillkürlich schauten sie beide nach oben, den hellen, kleiner werdenden Lichtpunkten nach, die Haus Hiritsus Landungsschiffe auf dem Weg zu einem Kriegsschiff der Konföderation Capella ausmachten. Keiner von ihnen sprach es aus.
»Du hast an der Teng-Front Wunder vollbracht, Cassandra«, sagte Tamas nach einem tiefen Atemzug. »Falls du vergißt.«
Cassandra konnte an dem stärker werdenden slawischen Akzent und daran, wie er unwichtige Satzteile verschluckte, erkennen, wie sehr ihn das Gespräch erschöpfte. Sie versuchte, sein Lob abzuwehren, ihm Gelegenheit zur Erholung zu geben, aber Tamas schüttelte den Kopf. »Ohne dich wären auf Indicass viele Leichte Reiter gefallen. Wir vergessen das nicht. So wenig wie andere, denen du hilfst.« Er machte eine Pause, um mehrere Male tief einzuatmen. Ein leichtes Röcheln ließ die Anstrengung erkennen, die es ihn kostete. »Du hast viel gutes...« Er stockte, suchte erkennbar nach dem richtigen Wort, »...viel gutes Karma aufgebaut. Du wirst deinen Wunsch bekommen.«
Cassandra wußte Tamas' Anstrengung zu schätzen, auch wenn sie nicht viel dazu beitrug, die Sorge zu vertreiben, die ihr deutliches Magengrimmen verursachte. »Dann wünsche ich mir einen Angriff auf Sian.« Jetzt seufzte sie. »Irgendwann. Aber erst einmal heißt es Tantara und dann Ambergrist.«
Tamas nickte. »Wenn du in Offensive gehst, komm mich erst abholen«, sagte er.
Sie blinzelte überrascht. »Dich abholen?« fragte sie.
»Mich und meine Kompanie. Du brauchst manchmal einen Aufpasser.« Tamas' Ton klang lokker, aber sein Gesicht war ernst. »Sind wir einig, Cassandra Allard-Liao?«
Noch ein Jahr zuvor - noch einen Monat zuvor hätte Cassandra die Andeutung, daß sie nicht selbst auf sich aufpassen konnte, möglicherweise als Beleidigung aufgefaßt. Allermindestens hätte sie das Gespräch auf ein anderes, lockereres Thema gelenkt. Aber Tamas hatte sich das Recht, sie auf ihre Schwächen anzusprechen, mehr als verdient, und sie wollte seine Sorge um ihr Wohlergehen nicht leichtfertig abtun.
»Wir sind uns einig, Tamas Rubinsky«, erklärte sie förmlich und mit leichter Verneigung.
Bei ihren Worten verrutschte Tamas' ernste Maske etwas. »Gut. Nun gehen wir zu deinem Mech. Ich habe Flasche und Gläser dort.«
Von seinem Akzent und der eigenen Müdigkeit benebelt brauchte Cassandra mehrere Sekunden, um zu verstehen, was er gesagt hatte. »Du hast was?«
»Wodka«, erklärte Tamas. »Und zwei Gläser. Versteckt in Cestus. Bei Leichten Reitern, wir trinken auf Versprechen. Du erinnerst dich.«
Cassandra hätte nicht sagen können, warum sie über seine Vorbereitungen hätte überrascht sein sollen. Genau diese Aufmerksamkeit war sie von Tamas Rubinsky gewohnt. »Ich erinnere mich«, stellte sie fest. »Dankbar.« Sie deutete zur Baumlinie und reichte ihm den Arm. Wenn schon nichts anderes, ermahnte sie sich, dann nimm wenigstens diese Lektion von den Kosaken an und lerne, den Augenblick mit einem Freund zu genießen. Laß die Sorgen von Morgen für Morgen.
Ein guter Rat, wenn es ihr nur gelungen wäre, die nagenden Zweifel zu verdrängen, die sie plagten.
Ein letzter Blick nach oben, aber von Haus Hiritsu war nichts mehr zu sehen.

Battletech 46: Die Natur des Kriegers
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