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Shi-gao-Einöde, Distrikt Henan, Ambergrist Herzogtum St. Loris, St. Ives-Pakt9. Juni 3062
Abgesehen von Kakteen und Krüppelbüschen existierte in der Shi-gao-Einöde Ambergrists kaum Leben. Steile Felsformationen zerteilten den Horizont. Am verwaschen blauen Himmel zog ein einzelner Jäger der Hustaing-Rabauken tief über das Schlachtfeld und nahm Kurs auf die von einem brennenden Drillson-Schwebepanzer aufsteigende Rauchfahne. Zwei Vedettes rollten an ihrem zerschossenen Kameraden vorbei, gefolgt von einem Victor und einem Rabe.
Der Rabe und die Vedettes stürzten sich in ein ausgetrocknetes Flußbett, in der Hoffnung, einen schnelleren Weg für die Verfolgung der flüchtenden Kompanie Freies-Capella-Truppen zu finden. Sangshao Ni Tehn Dho steuerte seinen Victor einen flachen Berghang hinauf und nutzte dabei aus, was das Ödland an spärlicher Deckung zu bieten hatte. Unter den riesigen Metallfüßen der achtzig Tonnen schweren Kampfmaschine zerbarsten Fels und Kies, Abfall der größeren Klippen, zu Pulvergestein. Auf der Kuppe des Hangs überraschte er einen FreiesCapellaTotschläger, dessen Pilot sich den falschen Moment ausgesucht hatte, um hinter einem Felsvorsprung aufzutauchen. Er zog das Fadenkreuz über den Sichtschirm, bis es den flüchtenden Kampfkoloß aufspießte. Sein Gaussgeschütz schleuderte eine silbrig funkelnde Kanonenkugel über die kurze Entfernung, die den Totschläger hoch am rechten Mechbein traf. Zusätzlich senkten sich vier Kurzstreckenraketen auf Rauch- und Feuerzungen auf die angeschlagene Maschine. Drei von ihnen detonierten auf dem breiten Mechtorso, die vierte sprengte große Splitter aus einer nahen Felsformation.
Der Pilot des Totschläger hielt den mittelschweren Mech aufrecht und hätte es möglicherweise geschafft, in ein flaches Tal zu entkommen, wäre nicht plötzlich ein anderer Hustaing-Rabauke vor ihm aufgetaucht und hätte ihm den Weg abgeschnitten. Der neue BattleMech, ein älteres Modell vom Typ Greif, war dem Totschläger an Feuerkraft ebenbürtiger. Aber statt sich auf einen Schußwechsel einzulassen, wirbelte der herum und zurück in Dohs Schußfeld.
Der Greif seinerseits drehte dem Totschläger den Rücken zu und feuerte auf eine Feindmaschine tiefer im Tal, die Doh nicht sehen konnte.
»Der gehört Ihnen, Sang-shao«, klang eine Stimme im Kommset von Dohs Neurohelm auf. Sie gehörte Si-ben-bing Taho, einem der jüngsten Neuzugänge der Arkadenranger.
Doh feuerte eine Breitseite ab und öffnete einen Funkkanal zu Taho. »Wenn du das nächste Mal einen freien Schuß in den Rücken eines Gegners bekommst, dann nutze ihn«, befahl er, während seine Laser weitere Breschen in den Rumpf des unglücklichen Totschläger brannten und ein zweiter Gausstreffer das Bein komplett abriß. Ein Zittern lief durch den Victor, als die leichte Autokanone seines Gegners sich in die linke Flanke der schwereren Maschine fraß, aber das Gyroskop des Kampfkolosses war dieser Belastung leicht gewachsen. »In einer solchen Situation kehrt man dem Gegner nicht den Rücken zu und bietet ihm dieselbe Einladung.«
Ein Krachen in Dohs Ohren kündete von einer Unterbrechung der Verbindung, was in diesem Labyrinth aus ausgetrockneten Flußbetten, Klippen und Tälern schon auf Distanzen von nicht mehr als fünfhundert Metern geschehen konnte. »Diesen Treffer stecke ich ein, Sang-shao.« Das war die Stimme von Sao-shao Evans, Tahos Kommandeur. »Ich habe sein Feuer hier herunter gezogen, um mir beim Abschuß eines hübschen neuen Kosak zu helfen. Die FreiCaps stecken immer nur für einen kurzen Moment den Kopf aus dem Loch, und ich wollte sichergehen, daß wir ihn erwischen. Außerdem erwarten wir einfach nicht, daß Sie unsere Hilfe brauchen«, schloß Evans, und selbst die schlechte Funkverbindung konnte den Humor in seiner Stimme nicht verbergen.
Der Kommandeur der Hustaing-Rabauken nahm das versteckte Kompliment mit einem Zähneknirschen entgegen. Das Schlachtfeld ist nicht der Ort für Belehrungen oder Predigten, erinnerte er sich, sondern für harschere Lektionen. Aber im Stillen versprach er Evans eine gehörige Standpauke, wenn dieses Gebiet erst sicher war. Nicht, daß er sich davon viel versprochen hätte.
Es fiel schwer, gegen den Erfolg anzureden. Die
desorganisierten und nachschublosen FreiesCapella-Truppen auf
Indicass waren in die Flucht geschlagen, und jetzt kämpften Dohs
HustaingRabauken um Ambergrist. Die Rabauken waren von ihrem Sieg
in Hochstimmung versetzt worden. Solche Gelegenheiten waren selten
in der Geschichte des Capellanischen Heers, aber nicht völlig
unbekannt, und er wollte seinem Regiment den Augenblick nicht
trüben.
Unglücklicherweise gingen seine Kinder-Krieger viel zu nachlässig
mit seinen Ratschlägen um. Sie gingen weiter Risiken ein, die einen
Krieger gewöhnlich schnell zum Entrechteten gemacht hätten. Aber
spielte das eine Rolle, solange sie damit noch Erfolg hatten? Wenn
die FreiCaps jemals Zeit bekamen, zu erkennen, wie waghalsig Dohs
Leute agierten, konnten sie deren Siege sicherlich sehr viel
kostspieliger machen. Der Trick bestand darin, das Regiment auf den
Moment vorzubereiten, von dem an ihr Widerstand zäher
wurde.
Zumindest war das die Lehre, die der Sang-shao aus seiner langen
Karriere gezogen hatte, eine harte Lektion aus den dunkleren Tagen
der Konföderation. Aber trotz des holprigen, unorthodoxen Starts
der Einheit hatten die Hustaing-Rabauken noch keine wirkliche
Niederlage erfahren. Keine stahlharte, knochenbrechende Niederlage,
die neuen Rekruten den Irrglauben austrieb, unsterblich zu
sein.
Ni Tehn Dho konnte nur hoffen, daß seine Rabauken sie nie erleben
würden, um ihrer selbst und des größeren Ruhms der Konföderation
willen; aber er hielt die Wahrscheinlichkeit, daß sich diese
Hoffnung erfüllte, für mehr als gering. Der Krieg hatte seine
Zyklen, wie alles im Leben. Wenn unsere Zeit
gekommen ist, kann nichts die Katastrophe aufhalten.
Ich kann nur hoffen, dann noch hier zu sein, um beim Aufsammeln der
Scherben zu helfen.
Treyhang Liao haßte Ambergrist. Kein Gesellschaftsleben, das der Erwähnung wert gewesen wäre, keine guten Urlaubsziele, keine großen Sportereignisse. Dieser Planet besaß absolut nichts, was ihn den Besuch wert gemacht hätte. Auf seinen Reisen hatte er niemals irgend jemanden eine Saison auf Ambergrist erwähnen hören, und jetzt wußte er auch, warum nicht. Er kippte mit geübter Drehung aus dem Handgelenk seinen Gibson, so daß die winzige Zwiebel im Glas blieb, während die Flüssigkeit sich einen warmen Weg durch seinen Hals bahnte. Na, wenigstens produziert dieser Dreckball einen trinkbaren Wermut.
Indem er sich auf die Bewegung Freies Capella berufen hatte, war Treyhang zum zeitweiligen Besitzer eines Landguts weitab des Kampfgeschehens geworden. Auf dem vertrauten Weg vom Sessel zur Bar des Arbeitszimmers kam er an etwas anderem vorüber, das er beinahe schon zum Mobiliar zählen konnte. »Wollen Sie wirklich nichts zu trinken, Major?«
Warner Doles stand kurz davor, zu einem weiteren Punkt auf Treyhangs Haßliste zu werden. Beide Männer waren auf Ambergrist, weil die Bewegung Freies Capella überall auf dem Planeten Anhänger hatte und nach der Flucht von Indicass alle Sprungschiffe Kurs hierher genommen hatten. Zunächst hatte Treyhang die Gesellschaft des Lancier-Offiziers begrüßt, weil es ihn störte, wie die übrigen Soldaten des Freien Capella ihn anhimmelten, genau wie sie zuvor... andere angehimmelt hatten. Treyhang war ein Genußmensch und legte großen Wert auf Anerkennung in den richtigen Kreisen, aber Speichellekker gingen ihm auf die Nerven.
Der Major irritierte ihn allerdings auf eine andere Weise. Der hünenhafte Offizier der BlackwindLanciers entspannte sich keinen Augenblick auch nur andeutungsweise und starrte Treyhang an, als schulde der junge Liao ihm eine Art persönlichen Gefallen. Zugleich benahm er sich, als könne nichts ihn berühren. Selbst jetzt, als Doles an der Wand lehnte, konnte Treyhang nicht sicher sagen, wer sich dabei auf wen stützte.
Doles wartete, bis Treyhang die Flasche zum Eingießen angesetzt hatte, dann bemerkte er: »Ihr Vater hat Pflaumenwein vorgezogen.«
Treyhang zuckte so heftig zusammen, daß er sich Gin über die Manschetten kippte. Er stellte die Flasche mit zittriger Hand zurück. »Bastard.« Doles tat die Beschimpfung mit einem Schulterzucken ab.
Treyhang versuchte, nicht an Tormano oder an dessen letzte Sekunden zu denken. Doles' letzte Bemerkung verärgerte ihn dermaßen, daß er sich kurz mit dem Gedanken trug, ihm einen Fausthieb zu versetzen, und nur die Tatsache, daß Doles zehn Zentimeter größer und zwanzig Kilo schwerer war als er, hielt ihn davon ab. Statt dessen leerte er seinen Drink. »Ich weiß wohl, daß meine Gesellschaft erfrischend ist, Doles, aber was genau erwarten Sie eigentlich von mir?«
»Einhundert Tonnen Munition und das Doppelte an
Panzerung, für den Anfang.«
Treyhang klopfte die Taschen seines Anzugs ab und gab vor zu
suchen, schüttelte dann den Kopf und fischte eine frische Zwiebel
aus dem Glas auf der Bar.
Der Offizier war sichtlich nicht in der Stimmung, sich damit
zufriedenzugeben. »Freies Capella fällt auseinander, Trey. Auf
anderen Welten mag es weniger schlimm stehen, aber diese Leute
waren bei Tormano, als es geschehen ist. Sie sind versprengt und
werden einzeln abgeschlachtet. Der Traum Ihres Vaters stirbt da
draußen einen langsamen Tod, Mann um Mann.«
Treyhang nippte an seinem Drink und schüttelte den Kopf. »Es ist
nicht mein Traum.« Er legte den Kopf zur Seite und musterte Doles
wie ein abstraktes Gemälde. »Und Ihr Traum auch nicht, nicht
wirklich. Als ich Sie getroffen habe, hätte ich C-Noten gegen
Solaris-Skrip gewettet, daß Sie in die Bewegung shanghait worden
sind. Was tun Sie noch hier?«
»Ich habe ein Geschäft mit Tormano gemacht«, erwiderte Doles auf
der Stelle. »Was ist Ihre Entschuldigung?«
Treyhang setzte eine bewußt neutrale Miene auf und nahm noch einen
Schluck aus seinem Glas. Er war ein viel zu erfahrener Spieler, um
Doles erkennen zu lassen, daß der einen Treffer gelandet hatte.
Aber die Tatsache blieb bestehen, daß er keine Entschuldigung
hatte. »Ich habe meine eigenen Ziele«, erwiderte er
unbestimmt.
Doles warf einen Blick auf den Gibson. »Das sehe ich.« Dann
musterte er Treyhang von oben bis unten, wie jemand, der ohne
großes Interesse ein Rennpferd abschätzt. »Sieht aus, als machten
Sie Fortschritte.«
Treyhang reckte sich in verwundeter Eitelkeit. »Was soll das denn
heißen?«
»Haben Sie sich mal angesehen?« fragte Doles. Er trat heran und
packte den Ellbogen des jungen Liao mit schraubstockartigem Griff,
um ihn dann zu einem Wandspiegel zu dirigieren.
Treyhang, dem nichts anderes übrigblieb, als hinzusehen, bemerkte
zuerst den zerknautschten Anzug, der auf manchen Planeten einen
kleinen Wagen wert gewesen wäre. Eine nachlässig geknotete Krawatte
und ein dunkler Fleck auf dem Anzug - von dem Gin, den er gerade
verschüttet hatte. Struppiges Haar. Dunkle Ringe um die Augen. Und
er brauchte eine Rasur.
»Ich hab schon Schlimmeres gesehen«, stellte er fest. »Vielleicht
ein wenig zerknautscht.« Er zog mit geübter Hand die Krawatte
gerade und strich sich anschließend das Haar glatt. »Mit dem
richtigen Coiffeur und ein wenig Anstrengung könnte ich diesen Look
zur neuesten Mode machen.«
»Tormano hat mir mitgeteilt, daß Sie ihm zwei Monate versprochen
haben«, erklärte Doles offen. »Zahlen Sie Ihre Schulden
grundsätzlich nicht, Trey?«
Treyhang zuckte sichtlich zusammen. Das war ein Schlag unter die
Gürtellinie. Er fragte sich, woher Doles von der Vereinbarung
wußte, aber wahrscheinlich war das ein Teil von Tormanos Plänen
gewesen, seinen Thronfolger in der Nähe zu behalten. Du hast deinen Teil der Vereinbarung nicht erfüllt,
dachte er mit wildem Zorn, ohne sich ganz sicher zu sein, worüber
genau er sich ärgerte, oder sogar, welche Vereinbarung er damit
meinte. »Wozu brauchen Sie mich?« fragte er und zerrte den Arm aus
Doles' Griff. »Sie wissen doch, was Sie wollen. Ziehen Sie ab und
tun Sie's.«
Doles' Blick bohrte sich in Treyhang wie Zwillingslaserstrahlen.
»Das ist unmöglich, solange Sie hier sind. Eine Kooperation ist
unmöglich ohne zentrale Autoritätsfigur, und solange Tormanos Sohn
auf dem Planeten ist, wird niemand meiner Führung vertrauen. Man
erwartet von Ihnen, daß Sie die Entscheidungen treffen.«
Die Worte seines Gegenübers entfachten einen kleinen Funken im
Innern der Leere, die Treyhang in seiner selbstgewählten Isolation
gehegt hatte. Er erstickte ihn mit den Erinnerungen an seinen
abwesenden Vater.
»Dann irrt man sich«, erklärte er tonlos und wandte sich ab, um
Doles im Spiegel zu beobachten.
Den Ausdruck auf dem Gesicht des Lanciers war Treyhang wirklich
nicht gewohnt. Mitleid. »Sieht ganz so aus. Man hat sie wohl mit
einem Liao verwechselt.« Mit einem leichten Schulterzucken kehrte
der Hüne Treyhang den Rücken zu und verließ das Zimmer.
Allein gelassen verbrachte Treyhang Liao einige Minuten damit, sein
Gesicht zu studieren. Er schüttete den Inhalt seines Glases über
den Spiegel, und seine Reflexion verschwamm in der Flüssigkeit. Als
sie an dem Glas herablief, sah er ein blasses Spiegelbild Tormanos,
der ihn mit der geisterhaften Andeutung eines Lächelns um die
Mundwinkel anstarrte.
»Na schön, Vater«, flüsterte er. »Du hast gewonnen.«