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Palastanlage, Tian-tan, St. Ives Herzogtum St. Ives, St. Ives-Pakt

 

12. Juli 3062

Herzogin Candace Liao stand im Zentrum der Strategischen Zentrale der Palastanlage und gab vor, einen der großen Wandflachbildschirme zu betrachten, die ringsum montiert waren. Unbewegt, die Hände in einer einstudierten Pose eleganter Kraft vor dem Körper verschränkt, hätte sie aus Marmor gehauen sein können, wäre da nicht die Wildheit gewesen, die ihre grauen Augen selbst im Alter von vierundsiebzig Jahren noch zum Leuchten brachte. Sie trug ein elfenbeinfarbenes Seidenkleid im Han-Stil, mit breiten Ärmeln und leicht unregelmäßigem Saum, passend zu dem dünnen Seidenschal - in Blau und Rot gesäumt -, den sie locker um den Hals trug. Es waren die Farben von Kais Cenotaph-Stall auf Solaris VII, eine Tatsache, die ihrem ›Gast‹ sicher nicht entgangen war.

Als Candace sich das letzte Mal mit zwei anderen Frauen in der Strategischen Zentrale Tian-tans befunden hatte, um das Schicksal ihrer kleinen Nation zu besprechen, war eine von ihnen ihre Verbindungsoffizierin aus dem Vereinigten Commonwealth gewesen, Lieutenant General Simone Devon. Simone war eines der ersten Opfer der Anschläge des Schwarzen Lenz geworden und bei einem Nervengasangriff gestorben, dessen geplantes Ziel Candace gewesen war. Candace erinnerte sich mit melancholischer Zuneigung an die schmächtige blonde Kriegerin und vermißte ihre Hingabe ebenso wie das unheimliche Gedächtnis für Details, dem die Herzogin schnell gelernt hatte, völlig zu vertrauen. Eine wertvolle Hilfe für den Pakt und eine geschätzte Freundin.

Sascha Wanli war ein kläglicher Ersatz.
»Ihre Informationen haben sich bei dem Versuch, weitere Fortschritte der Konföderation auf St. Ives zu verhindern, als bemerkenswert unnütz erwiesen.« Senioroberst Caroline Seng, die dritte Person in dieser Gesprächsrunde, ging wie vorher ausgemacht zum Angriff über. Falls Wanli feindselig oder zu defensiv wurde, konnte Candace an der Seite ihrer Beraterin eingreifen und die übergelaufene MaskirovkaDirektorin zur Ordnung rufen.
Aber Sascha Wanli zuckte nur gelangweilt die Schultern. »Ich habe Ihnen alle mir zur Verfügung stehenden Informationen geliefert, die einen Bezug auf den Angriff gegen den Planeten St. Ives haben könnten«, stellte sie mit ans Künstliche grenzender Tonlosigkeit fest. »Ich hatte keinen Zugriff auf strategische oder taktische Planungen, nur die Informationen, die ich sammeln konnte, bevor ich...« Sie stockte und wählte ihre nächsten Worte mit Sorgfalt aus. »...Sian verließ. Falls Sie nicht in der Lage sind, daraus die nötigen Schlüsse zu ziehen, Caroline Seng, schlage ich vor, Sie arrangieren die Desertion Sang-Jiang-jun Zahns.«
Diese Attacke machte Seng sprachlos, während Candace in einer leichten Warnung an die Überläuferin die Stirn runzelte. Sascha Wanli mochte nach einer zerbrechlichen alten Dame aussehen, aber ihre Augen ließen erkennen, daß sie weit mehr war. Fenster zur Seele, und Saschas diamantharter Blick ist Warnung genug, sie nicht zu unterschätzen.
»Wir arrangieren keine Desertionen«, stellte Candace fest, kam Sengs wütender Antwort zuvor und brachte die Konversation zurück auf die Notwendigkeit weiterer nützlicher Informationen. »Wie Sie sich erinnern werden, haben Sie uns angesprochen.« Und ich muß zugeben, nach dem, was Sie uns erzählt haben, hatten Sie allen Grund, um Ihr Leben zu fürchten. Aber das heißt nicht, daß ich es Ihnen hier leicht machen werde, weder jetzt noch irgendwann in der Zukunft. »Mein Schutz gilt nur, solange Sie für den Pakt von Nutzen sind.«
»Wo dong le«, stellte Sascha mit höflichem Ernst fest. Ich verstehe. »Wären Ihnen die Namen capellanischer Maulwürfe in Ihren Streitkräften eine Hilfe?« fragte sie. Dann hob sie relativierend die Hand und setzte hinzu: »Der Maulwürfe, von denen ich weiß, heißt das. Natürlich beschränkt sich das in einigen Fällen auf Codename und Einheit, aber das wäre für Ihren Geheimdienst zumindest ein Ansatz.«
Candace nickte hoheitsvoll, es war nicht mehr als die Andeutung einer Bewegung. »Das wäre ein sehr schöner Anfang«, sagte sie und spielte damit die Bedeutung dieses Aufdeckungserfolges automatisch herunter. »Bitte bereiten Sie eine Liste vor. Heute noch.«
Ihr Tonfall gab zu erkennen, daß Wanli entlassen war, und die ehemalige capellanische Geheimdienstchefin verabschiedete sich mit einer Verbeugung. Ihre beiden Begleiter warteten an der Tür. Keiner der beiden war bewaffnet, aber beide hatten erhebliche Erfahrung in verschiedenen Kampfsportarten. Candace dachte nicht daran, Sascha die Chance zu geben, an eine Waffe zu kommen. Mein Tod könnte ihr das Wohlwollen meines Neffen wiederbeschaffen, auch wenn ich das bezweifle. Jetzt nicht mehr. Einen Fehler mag Sun-Tzu ihr verzeihen, aber niemals einen Verrat.
»Nun?« fragte sie, als sich die Türen hinter Sascha Wanli geschlossen hatten.
Seng brauchte eine Weile, um sich in den Griff zu bekommen. »Sie hat es geschafft, mich zu provozieren«, stellte sie dann fest. »Entschuldigung.«
Candace kannte Caroline Seng lange genug, um Halbwahrheiten und Ausflüchte zu durchschauen. »Sie hat dich schon provoziert, bevor sie auch nur ein Wort sagte«, widersprach sie, wenn auch in freundlichem Ton.
Die ranghöchste Oberste des Pakts nickte. »Ich finde ihre Gegenwart auf St. Ives beleidigend, Candace.« Es kam nur selten vor, daß Caroline ihre Präsidentin mit Vornamen ansprach, und wenn es vorkam, so wie jetzt, war es ein sicheres Zeichen ihrer Erregung. »Die Maskirovka-Direktorin aufzunehmen...« Sie rieb sich die Hände, als wollte sie sich waschen. »Ehrlich gesagt finde ich, das würde besser zu Sun-Tzu passen als zu dir.«
»Sun-Tzus Lage ist nicht verzweifelt genug, als daß er eine derartige Hilfe benötigen würde«, erwiderte Candace Liao ruhig. »Unsere schon.« Täglich trafen neue Beweise für Carolines düstere Voraussagen vom bevorstehenden militärischen Zusammenbruch des Paktes ein. Der Widerstand gegen einen mächtigeren Angreifer, und das zudem noch in einem Zwei-Fronten-Krieg, zwang die kleinere der beiden capellanischen Nationen langsam aber sicher in die Knie. Nur der fanatische Kampfgeist, mit dem ihr Militär angesichts einer überwältigenden Übermacht den Kampf weiterführte, und der zivile Widerstand der Paktbevölkerung hatte das Schicksal, das Caroline schon vor Monaten angekündigt hatte, verzögern können. Aber das reichte nicht aus, das Problem zu lösen.
Der Widerstand eines Teils der Paktbevölkerung.
»Wanli hatte recht«, erklärte Candace. »Wir hätten uns die Daten genauer ansehen sollen. Wir wußten, daß Maskirovka-Agenten daran arbeiteten, Teile des Pakts für die Rückkehr in die Konföderation Capella vorzubereiten. Besonders nach Milos, den Desertionen auf Denbar und Pardray auf St. Loris.« Sie schüttelte den Kopf. »Die ganze Zeit direkt vor unserer Nase.« Sie deutete auf den Schirm, der die Eroberungen der Konföderationstruppen auswies. »Xi'an, Scottsdale, Petrejwisk«, zählte sie die Namen der drei Provinzhauptstädte auf, die an die Truppen ihres Neffen gefallen waren. »In allen dreien wird die Rückkehr der Konföderation inzwischen begeistert gefeiert. Sun-Tzu hat sich eine solide Operationsbasis und einen legitimen Anspruch auf den Planeten St. Ives gesichert.«
Seng verlagerte unbehaglich das Gewicht. Der Fehlschlag bei der Vorhersage von Talon Zahns Gefechtsplan ging vor allem auf ihr Konto. »St. Ives war früher eine Schlüsselwelt in der ›Elastischen Verteidigung‹ der Konföderation. Der Planet ist noch immer durch starke Garnisonstruppen gesichert, und alle wichtigen Städte sind befestigt.« Sie schüttelte den Kopf, sichtlich über sich selbst verärgert. »Ich habe einfach angenommen, eine Invasion würde Tian-tan zum Ziel haben, um St. Ives mit einem Schlag auszuschalten.«
Aber auch Candace hatte Fehler gemacht, und sie war bereit, das einzugestehen. »Genau das habe ich auch angenommen. Aber Tian-tan ist für das militärische Überleben von St. Ives nicht mehr entscheidend.« Ebensowenig wie St. Ives noch der militärische Ankerpunkt des Paktes war. Inzwischen teilte der Planet diese Verantwortung mit Indicass, Texlos, Warlock und Teng, den anderen Welten mit der Produktionskapazität zur direkten Unterstützung von Militäreinheiten. St. Ives war ein Symbol, das ja, aber symbolische Siege allein entschieden keinen Krieg. Candace nahm sich vor, daran zu denken, wenn die schmerzhaften Entscheidungen anstanden, die ihr die nächsten Monate aufzuzwingen drohten. »Sun-Tzu wird noch mehr Überraschungen geplant haben.« Dessen zumindest war sie sich sicher. »Gehen Sie Wanlis Berichte noch einmal durch, und stellen Sie sicher, daß sie gut bewacht wird, Caroline.« Die nächsten Worte fielen ihr schwer. »So sehr ich es auch hasse, das zuzugeben, aber wir brauchen sie.«
»Dann kämpfen wir bis zum bitteren Ende?« fragte Seng. »Unser hoffnungsloser Kampf, deiner und meiner?«
Candace schüttelte langsam den Kopf. »Das hier war nie unser Kampf. Er ist das Ergebnis der Entscheidung, die der Pakt vor über dreißig Jahren mit dem Lösen der Bindung an die Konföderation getroffen hat.«
»Aber wir kämpfen bis zum bitteren Ende«, drängte Seng ihre Herrscherin.
Candace Liao drehte sich zu ihrer Freundin und Beraterin um, sah ihr ins Gesicht und wiegelte ab. Seng sollte alle Möglichkeiten im Auge behalten, so wie sie es auch tat. »Wir werden tun, was nötig ist, hier und anderswo«, stellte sie ernst fest. Das war nicht als Bestätigung der ihr von Seng gestellten Frage gedacht, und an deren Gesichtsausdruck war zu erkennen, daß sie es wußte. »Hier und heute bedeutet es, daß wir kämpfen. Symbolische Siege mögen keinen Krieg entscheiden, aber sie sind trotzdem die Anstrengung wert. Mein Volk verdient und verlangt nichts weniger als unser Bestes.«
»Und später?« fragte Seng fast im Flüsterton.
»Ein später gibt es nicht«, erklärte Candace entschieden. »Später ist Karma.« Dann wirkte ihr Ton gedrückter. »Später hoffen wir, daß genug vom Pakt übrig bleibt, das sich zu retten lohnt. Es ist die einzige Lösung, die uns noch bleibt, den Sturm auszureiten, egal was es kostet.«

Battletech 46: Die Natur des Kriegers
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