17

Palast des Himmels,
Zi-jin Cheng (Verbotene Stadt), Sian Kommunalität Sian, Konföderation Capella

4. Juni 3062

Sun-Tzu Liao vermied es, sich auf den Thron des Himmels zu setzen. Er wanderte langsam am Rand der Empore entlang und täuschte tiefe Nachdenklichkeit vor, während Talon Zahn und Ion Rush ihren Bericht über die jüngste Lage vortrugen. Sein Geist schwamm durch einen Ozean des Chaos, kämpfte gegen die Erinnerung an Romano Liao und versuchte zugleich, die verschiedenen Handlungsstränge zu entwirren, die er in den letzten anderthalb Jahren gewoben hatte. Außerdem war er immer noch besorgt über Sascha Wanlis Verschwinden aus dem Palast und - wie es schien - von Sian. Dieses Wandern war das einzige, was er sich erlauben konnte - was er sich zu erlauben bereit war -, um die aufgestaute Anspannung abzubauen.

In den letzten Wochen seit Kalis Ankündigung war ihm aufgefallen, daß Sascha ihre Pflichten nur noch mechanisch absolviert hatte. Sie hatte eine Haltung gedrückter Ergebenheit an den Tag gelegt, wenn sie vor ihren Fürsten zitiert worden war, so, als hätte sie jedesmal erwartet, ein Erschießungskommando im Thronsaal aufmarschiert zu sehen. Es störte ihn wahrscheinlich mehr, als es ihm hätte ausmachen sollen, daß eine seiner engsten Ratgeberinnen ihn immer noch im selben Licht sah wie seine Mutter, selbst nach einem so offensichtlichen Beispiel ihrer Verschiedenheit. Romano Liao hätte Sascha auf der Stelle erschossen. Und auch wenn Sun-Tzu ihren Tod jederzeit hätte anordnen können, und durchaus auch regelmäßig mit dem Gedanken gespielt hatte, blieb die Tatsache bestehen, daß er seine Entscheidung getroffen hatte und auch dabei geblieben wäre. Trotz aller Erinnerungen an Romano, die ihn weiter plagten, mit deren Haß auf Sascha für ihre Fehlschläge und ihre Schwäche.

Echte Schwäche oder vorgetäuschte?
Innerhalb einer Nacht war Sascha Wanli, die Direktorin der Maskirovka, einfach verschwunden. Es gab keinerlei Hinweis darauf, daß sie den Palast verlassen hatte, aber es bestand natürlich die Möglichkeit, daß sie einen Geheimgang entdeckt hatte, von dem der Kanzler nichts ahnte. Aber anschließend keinerlei Kontakt mit der Maskirovka und eine perfekte Umgehung aller Versuche des Geheimdienstes, sie aufzuspüren? Das sah nicht nach der Arbeit einer gebrochenen alten Frau aus. Das verriet Vorbereitung und Entschlossenheit. Und wenn mich Sascha so leicht im Stich lassen kann, wie weit kann ich dann meinen anderen Beratern trauen?
»Unsere letzten Berichte«, berichtete Talon Zahn gerade, »zeigen Kai Allard-Liao bei fünfzig Prozent Materialstärke und etwa achtzig Prozent Personal. Seine Verluste auf Capella waren die schwersten, die er bis jetzt erlitten hat.«
Sun-Tzu verzog das Gesicht. »Aber nicht so schwer, daß er nicht hätte entkommen können«, stellte er in scharfem Ton fest. Die Falle auf Capella hatte sich um seinen Vetter geschlossen, aber dann hatten die 1. St.-Ives-Lanciers sie zerschlagen und sich einen Fluchtweg freigekämpft. »Nach Ihren Schätzungen hat das Sarna-Regiment achtzig Prozent Material und sechzig Prozent Personal verloren.« Die lange Pause, bis Sun-Tzu antwortete, warnte ihn, daß er einen Fehler begangen hatte.
»Kai hat die Mechfabriken angegriffen«, stellte Zahn in neutralem Tonfall fest und vermied es, seinen Kanzler ausdrücklich zu verbessern. »Dabei hat er denselben Widerstand erwartet, den ihm der Sarna-Kader bei der vorherigen Begegnung geboten hatte, und er hat dafür bezahlt. Sein Gewinn auf Capella ist ein Pyrrhussieg. Die Lanciers sind gezwungen, sich in befreundetes Gebiet zurückzuziehen, um ihre Verluste auszugleichen. Und Eure Herrschaft über die Souveränität Sarna ist nach der Zerschlagung ihres besten Mechregiments noch sicherer als zuvor, mein Kanzler.« Seine dunklen Augen verengten sich. »Die Falle war nie darauf ausgelegt, Euren Vetter gefangenzunehmen.«
Kais militärischer Sieg im Austausch gegen einen noch wertvolleren politischen. Tatsächlich war genau das der Plan gewesen. Sun-Tzu blieb stehen und setzte sich ruhig auf den Thron des Himmels. Ein unverzeihlicher Disziplinbruch seinerseits, aber Zahn brauchte sicher keinen zusätzlichen Grund, an seinem Herrn und Meister zu zweifeln.
»Sang-Jiang-jun Zahn«, meinte Sun-Tzu mit leiser Stimme und eisigem Blick. »Ist es wirklich zu viel von meinen Streitkräften verlangt, die in sie gesetzten Erwartungen gelegentlich zu übertreffen?«
Zahn, der die Erinnerung daran deutlich verstand, daß er es nicht geschafft hatte, seine eigenen Vorhersagen zum St.-Ives-Konflikt und die Operation gegen die Chaos-Marken einzuhalten, nahm Haltung an. »Nein, mein Kanzler«, antwortete er.
Sun-Tzu nahm die Antwort mit einem gnädigen Nicken entgegen, aber innerlich bedauerte er die unnötige Rüge. »Haben Sie auch etwas Positives zu berichten?« fragte er und gab Zahn die Chance, sich zu bewähren.
Der Seniorgeneral enttäuschte ihn nicht. »Wir wissen jetzt, von wo aus Kuan Yin operiert«, stellte er mit so ruhiger Gewißheit fest, daß Sun-Tzu ihm augenblicklich glaubte.
So sehr Cassandras entschlossene Verteidigung der Teng-Front auch den Interessen der Konföderation schadete, gelegentlich erschien Kuan Yins Allgegenwart Sun-Tzu noch gefährlicher. Sie schien überall zu sein, humanitäre Hilfe zu verteilen und sich die Dankbarkeit der Paktbevölkerung zu erwerben, und was noch wichtiger war, sie hinderte Sun-Tzu daran, sich mit denselben Mitteln eben diese Dankbarkeit für die Konföderation zu sichern.
»Von wo?« fragte er und kniff erwartungsvoll die Augen zusammen. In seinem Geist konnte er Romano Liao sehen, die gierig auf diese Information lauerte, und dieses eine Mal gestattete er sich, ebenso zu reagieren. Wenn er Kuan Yin aus dem Weg räumen konnte...
Zahn nickte Ion Rush zu und übergab das Gespräch an den Shiao-zhang Haus Imarras. »Kittery«, erklärte der gleichmütig und nannte den Namen eines Planeten im Vereinigten Commonwealth im Ausläufer des Steiner-Davion-Raums zwischen den beiden Armen des St. Ives-Paktes.
Kittery? Eine VerCom-Welt? »Sind Sie sicher?« fragte Sun-Tzu nach.
»Ihre Reiserouten haben sie verraten«, erklärte Zahn. »Hin und her zwischen den St.-Ives- und Teng-Fronten, ohne eine Sichtung unterwegs. Das hieß, sie mußte entweder durch den VerCom-Raum oder durch unbewohnte Systeme springen. Die Geschwindigkeit, mit der sie die Flugstrecken bewältigt hat, sprach für das Commonwealth.«
»Sie benutzt die dortigen Ladestationen«, vermutete Sun-Tzu.
Zahn und Rush nickten beide. »Die HustaingRabauken haben einen Teil der Vorräte erbeutet, die sie auf Indicass ausgeschifft hat«, erklärte Rush. »Wir haben die Herstellercodes der meisten Ausrüstungsteile nach Kittery zurückverfolgen können.«

Wo ich nichts gegen sie unternehmen kann, ohne mir Katrina zum Feind zu machen. Ein eisiger Schock zuckte durch Sun-Tzus Eingeweide, auch wenn er sich nichts anmerken ließ. Ein Glück, daß sie das nicht vor Kalis Amoklauf herausgefunden haben. Ein Nervengasanschlag auf dem Boden einer Welt des Vereinigten Commonwealth hätte das Ende der Konföderation bedeuten können. Trotzdem war es ernüchternd, nichts unternehmen zu können. Er versuchte, die Einflüsterungen seiner Mutter zu ignorieren, die ihn aufhetzte, Kittery trotzdem anzugreifen. »Was ist mit den Gasanschlägen?« fragte er, von dem Gedanken an Kalis Wahnsinnsunternehmen an dieses Problem erinnert.

»Nur zwei in den letzten Tagen«, antwortete Zahn. »Der Thugee-Kult scheint sich endlich verausgabt zu haben.«

Sun-Tzu nickte. »Schadensbegrenzung?« Diese Frage galt dem Oberhaupt Haus Imarras. Den vergangenen Monat über hatte Ion Rush in Vorbereitung der bevorstehenden Entlassung Sascha Wanlis eng mit der Maskirovka zusammengearbeitet. Nach deren Verschwinden hatte er die vorläufige Leitung der Organisation auf Sian übernommen. »Eure schnelle Aufdeckung der Angriffe und die Auslieferung Kalis an ein Kriegsverbrechertribunal auf Atreus hat Euch auf Distanz zu den Greueltaten gebracht und die Auswirkungen auf die Konföderation begrenzt.«
Sun-Tzu nahm es mit knappem Nicken auf. »Luthien wäre meiner Ansicht nach eine bessere Wahl gewesen. Das gibt Thomas freie Hand, der Konföderation zu schaden.« Ich hätte damit rechnen müssen. Thomas bereitet sich darauf vor, der nächste Erste Lord des Sternenbunds zu werden, also beantragt er natürlich dieses Richteramt. Außerdem ist Atreus für die betroffenen Parteien günstiger gelegen.
Rush hielt Sun-Tzus Blick ohne Zaudern stand.
»Theodore Kurita hat als Erster Lord Eure Bitte unterstützt, Naomi Centrella in das Tribunal aufzunehmen«, erinnerte er den Kanzler.
»Ein gutes Indiz dafür, daß der Sternenbund die Konföderation nicht rundweg verurteilen wird«, pflichtete Sun-Tzu ihm bei. Obwohl diese Möglichkeit durchaus noch bestand, falls sich das Verfahren ungünstig entwickelte. »Naomi wird unsere Interessen vertreten«, erklärte er, obwohl es ihm Unbehagen bereitete, so viel Gewicht auf ein Ereignis zu legen, über das er keine Kontrolle hatte.
Zahns unglückliche Miene zeigte, daß der ranghöchste General der Konföderation ebensowenig davon hielt, so entscheidend vom Verhalten der Magestrix abhängig zu sein. Sun-Tzu spürte auch die Verärgerung seiner Mutter, allerdings konnte er sich nicht sicher sein, ob die dem Verfahren gegen ihre Tochter galt oder Sun-Tzus Bereitschaft, sich von einer Peripheriefürstin vertreten zu lassen. Beides, entschied er. »Wir. müssen zeigen, daß wir an einem gerechten Urteil interessiert sind«, fühlte er sich genötigt, seinen Entschluß zu erklären. »Eine Direktvertretung der Konföderation wäre mit Sicherheit abgewiesen worden.«
Ion Rush sah den Kanzler nur gelassen an und akzeptierte dessen Erklärung. Talon Zahns Unbehagen schien jedoch eine andere Ursache zu haben. »Ich bezweifle, daß es irgendeinen Unterschied gemacht hätte, wäre das Vereinigte Commonwealth nicht gerade selbst in erheblichen Schwierigkeiten. Katrina hätte die Gelegenheit genutzt, ihre ganze Nation gegen Euch zu mobilisieren.«
Und unvoreingenommen betrachtet hätte Sun-Tzu ihr das nicht übelnehmen können. Das Timing wäre perfekt gewesen. Eine humanitäre Entschuldigung für eine Invasion, während der überwiegende Teil der gegnerischen Streitkräfte anderweitig gebunden ist.
Katrina Steiner-Davions Armeen hätten sein kleineres Reich ein für allemal überrollt, ohne Rücksicht auf ihr lockeres Bündnis. Zum Glück für die Konföderation hatte Katrina erheblich mehr Schwierigkeiten damit, zwei Nationen zu regieren, als sie wahrscheinlich erwartet hatte.
»Wie sieht unsere militärische Lage aus?« fragte er.
»Täuschend gut«, stellte Zahn so geradeheraus wie immer fest. »Jedenfalls wenn man sich auf unsere jüngsten Erfolge verläßt. Die Wirkung des Schwarzer-Lenz-Schocks auf die Defensivkapazitäten des St. Ives-Pakts haben uns ungeheure Gewinne ermöglicht, nicht zuletzt die vollständige Kontrolle über Indicass. Aber alle unsere Einheiten erleiden schwere Verluste, und die Paktbevölkerung läßt sich immer schwieriger kontrollieren. Die Rebellenaktivität nimmt zu.« Er machte eine dramatische Pause. »Die Todeswache ist auf eine Minute fünfundvierzig Sekunden gesunken.«
»Wissen Sie, was uns fehlt?« fragte Sun-Tzu, offensichtlich rhetorisch. »Ein Ziel.« Die Antwort spiegelte das Chaos in seinem Geist ebenso wider wie das in seinem Reich. »Im letzten Jahr haben wir unser Ziel aus den Augen verloren, und unsere Regimenter sind in einem Krieg um seiner selbst willen gefangen.« Seine jadegrünen Augen zogen die Blikke seiner beiden Berater an. »Wir müssen die Legitimität unserer Herrschaft beweisen.«
Zahn runzelte fragend die Stirn. »Haben wir das nicht bereits getan? Indem wir uns im Pakt etabliert und deutlich gemacht haben, daß in einigen Systemen der Wunsch nach der Rückkehr in die Konföderation besteht?«
»Das genügt nicht«, erwiderte Sun-Tzu mit einem leichten Kopfschütteln. »Wir brauchen mehr. Etwas Symbolisches, das beide Seiten des St.-IvesKonflikts anerkennen müssen.«
Ion Rush beugte sich vor, ein Berg von einen Mann, der nach einer Richtung suchte, in die er fallen konnte: »Habt Ihr einen Vorschlag, mein Kanzler?«
Sun-Tzu nickte. Vor seinem inneren Auge sah er den Faden, der die Knoten lösen konnte. So viele fehlgeschlagene Versuche, erinnerte er sich. Aber damit könnte es gelingen. Er fuhr mit der Kante eines einzelnen langen Fingernagels über die Armstütze des Thronsessels, und die rasiermesserscharfe Schneide zog eine dünne Spur in das dunkle Holz. Ein Weg durch dunkle Schatten.
Als er weitersprach, war es auf Englisch, und er zitierte in melodischem Flüsterton einen alten Scherzreim: »As I was walking to St. Ives...«

Battletech 46: Die Natur des Kriegers
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