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Palast des Himmels,
Zi-jin Cheng (Verbotene Stadt), Sian Kommunalität Sian,
Konföderation Capella
Sun-Tzu Liao vermied es, sich auf den Thron des Himmels zu setzen. Er wanderte langsam am Rand der Empore entlang und täuschte tiefe Nachdenklichkeit vor, während Talon Zahn und Ion Rush ihren Bericht über die jüngste Lage vortrugen. Sein Geist schwamm durch einen Ozean des Chaos, kämpfte gegen die Erinnerung an Romano Liao und versuchte zugleich, die verschiedenen Handlungsstränge zu entwirren, die er in den letzten anderthalb Jahren gewoben hatte. Außerdem war er immer noch besorgt über Sascha Wanlis Verschwinden aus dem Palast und - wie es schien - von Sian. Dieses Wandern war das einzige, was er sich erlauben konnte - was er sich zu erlauben bereit war -, um die aufgestaute Anspannung abzubauen.
In den letzten Wochen seit Kalis Ankündigung war ihm aufgefallen, daß Sascha ihre Pflichten nur noch mechanisch absolviert hatte. Sie hatte eine Haltung gedrückter Ergebenheit an den Tag gelegt, wenn sie vor ihren Fürsten zitiert worden war, so, als hätte sie jedesmal erwartet, ein Erschießungskommando im Thronsaal aufmarschiert zu sehen. Es störte ihn wahrscheinlich mehr, als es ihm hätte ausmachen sollen, daß eine seiner engsten Ratgeberinnen ihn immer noch im selben Licht sah wie seine Mutter, selbst nach einem so offensichtlichen Beispiel ihrer Verschiedenheit. Romano Liao hätte Sascha auf der Stelle erschossen. Und auch wenn Sun-Tzu ihren Tod jederzeit hätte anordnen können, und durchaus auch regelmäßig mit dem Gedanken gespielt hatte, blieb die Tatsache bestehen, daß er seine Entscheidung getroffen hatte und auch dabei geblieben wäre. Trotz aller Erinnerungen an Romano, die ihn weiter plagten, mit deren Haß auf Sascha für ihre Fehlschläge und ihre Schwäche.
Echte Schwäche oder
vorgetäuschte?
Innerhalb einer Nacht war Sascha Wanli, die Direktorin der
Maskirovka, einfach verschwunden. Es gab keinerlei Hinweis darauf,
daß sie den Palast verlassen hatte, aber es bestand natürlich die
Möglichkeit, daß sie einen Geheimgang entdeckt hatte, von dem der
Kanzler nichts ahnte. Aber anschließend keinerlei Kontakt mit der
Maskirovka und eine perfekte Umgehung aller Versuche des
Geheimdienstes, sie aufzuspüren? Das sah nicht nach der Arbeit
einer gebrochenen alten Frau aus. Das verriet Vorbereitung und
Entschlossenheit. Und wenn mich Sascha so
leicht im Stich lassen kann, wie weit kann ich dann meinen anderen
Beratern trauen?
»Unsere letzten Berichte«, berichtete Talon Zahn gerade, »zeigen
Kai Allard-Liao bei fünfzig Prozent Materialstärke und etwa achtzig
Prozent Personal. Seine Verluste auf Capella waren die schwersten,
die er bis jetzt erlitten hat.«
Sun-Tzu verzog das Gesicht. »Aber nicht so schwer, daß er nicht
hätte entkommen können«, stellte er in scharfem Ton fest. Die Falle
auf Capella hatte sich um seinen Vetter geschlossen, aber dann
hatten die 1. St.-Ives-Lanciers sie zerschlagen und sich einen
Fluchtweg freigekämpft. »Nach Ihren Schätzungen hat das
Sarna-Regiment achtzig Prozent Material und sechzig Prozent
Personal verloren.« Die lange Pause, bis Sun-Tzu antwortete, warnte
ihn, daß er einen Fehler begangen hatte.
»Kai hat die Mechfabriken angegriffen«, stellte Zahn in neutralem
Tonfall fest und vermied es, seinen Kanzler ausdrücklich zu
verbessern. »Dabei hat er denselben Widerstand erwartet, den ihm
der Sarna-Kader bei der vorherigen Begegnung geboten hatte, und er
hat dafür bezahlt. Sein Gewinn auf Capella ist ein Pyrrhussieg. Die
Lanciers sind gezwungen, sich in befreundetes Gebiet
zurückzuziehen, um ihre Verluste auszugleichen. Und Eure Herrschaft
über die Souveränität Sarna ist nach der Zerschlagung ihres besten
Mechregiments noch sicherer als zuvor, mein Kanzler.« Seine dunklen
Augen verengten sich. »Die Falle war nie darauf ausgelegt, Euren
Vetter gefangenzunehmen.«
Kais militärischer Sieg im Austausch gegen
einen noch wertvolleren politischen. Tatsächlich war genau
das der Plan gewesen. Sun-Tzu blieb stehen und setzte sich ruhig
auf den Thron des Himmels. Ein unverzeihlicher Disziplinbruch
seinerseits, aber Zahn brauchte sicher keinen zusätzlichen Grund,
an seinem Herrn und Meister zu zweifeln.
»Sang-Jiang-jun Zahn«, meinte Sun-Tzu mit leiser Stimme und eisigem
Blick. »Ist es wirklich zu viel von meinen Streitkräften verlangt,
die in sie gesetzten Erwartungen gelegentlich zu übertreffen?«
Zahn, der die Erinnerung daran deutlich verstand, daß er es nicht
geschafft hatte, seine eigenen Vorhersagen zum St.-Ives-Konflikt
und die Operation gegen die Chaos-Marken einzuhalten, nahm Haltung
an. »Nein, mein Kanzler«, antwortete er.
Sun-Tzu nahm die Antwort mit einem gnädigen Nicken entgegen, aber
innerlich bedauerte er die unnötige Rüge. »Haben Sie auch etwas
Positives zu berichten?« fragte er und gab Zahn die Chance, sich zu
bewähren.
Der Seniorgeneral enttäuschte ihn nicht. »Wir wissen jetzt, von wo
aus Kuan Yin operiert«, stellte er mit so ruhiger Gewißheit fest,
daß Sun-Tzu ihm augenblicklich glaubte.
So sehr Cassandras entschlossene Verteidigung der Teng-Front auch
den Interessen der Konföderation schadete, gelegentlich erschien
Kuan Yins Allgegenwart Sun-Tzu noch gefährlicher. Sie schien
überall zu sein, humanitäre Hilfe zu verteilen und sich die
Dankbarkeit der Paktbevölkerung zu erwerben, und was noch wichtiger
war, sie hinderte Sun-Tzu daran, sich mit denselben Mitteln eben
diese Dankbarkeit für die Konföderation zu sichern.
»Von wo?« fragte er und kniff erwartungsvoll die Augen zusammen. In
seinem Geist konnte er Romano Liao sehen, die gierig auf diese
Information lauerte, und dieses eine Mal gestattete er sich, ebenso
zu reagieren. Wenn er Kuan Yin aus dem Weg räumen
konnte...
Zahn nickte Ion Rush zu und übergab das Gespräch an den Shiao-zhang
Haus Imarras. »Kittery«, erklärte der gleichmütig und nannte den
Namen eines Planeten im Vereinigten Commonwealth im Ausläufer des
Steiner-Davion-Raums zwischen den beiden Armen des St.
Ives-Paktes.
Kittery? Eine VerCom-Welt? »Sind Sie
sicher?« fragte Sun-Tzu nach.
»Ihre Reiserouten haben sie verraten«, erklärte Zahn. »Hin und her
zwischen den St.-Ives- und Teng-Fronten, ohne eine Sichtung
unterwegs. Das hieß, sie mußte entweder durch den VerCom-Raum oder
durch unbewohnte Systeme springen. Die Geschwindigkeit, mit der sie
die Flugstrecken bewältigt hat, sprach für das
Commonwealth.«
»Sie benutzt die dortigen Ladestationen«, vermutete
Sun-Tzu.
Zahn und Rush nickten beide. »Die HustaingRabauken haben einen Teil
der Vorräte erbeutet, die sie auf Indicass ausgeschifft hat«,
erklärte Rush. »Wir haben die Herstellercodes der meisten
Ausrüstungsteile nach Kittery zurückverfolgen können.«
Wo ich nichts gegen sie unternehmen kann, ohne mir Katrina zum Feind zu machen. Ein eisiger Schock zuckte durch Sun-Tzus Eingeweide, auch wenn er sich nichts anmerken ließ. Ein Glück, daß sie das nicht vor Kalis Amoklauf herausgefunden haben. Ein Nervengasanschlag auf dem Boden einer Welt des Vereinigten Commonwealth hätte das Ende der Konföderation bedeuten können. Trotzdem war es ernüchternd, nichts unternehmen zu können. Er versuchte, die Einflüsterungen seiner Mutter zu ignorieren, die ihn aufhetzte, Kittery trotzdem anzugreifen. »Was ist mit den Gasanschlägen?« fragte er, von dem Gedanken an Kalis Wahnsinnsunternehmen an dieses Problem erinnert.
»Nur zwei in den letzten Tagen«, antwortete Zahn. »Der Thugee-Kult scheint sich endlich verausgabt zu haben.«
Sun-Tzu nickte. »Schadensbegrenzung?« Diese
Frage galt dem Oberhaupt Haus Imarras. Den vergangenen Monat über
hatte Ion Rush in Vorbereitung der bevorstehenden Entlassung Sascha
Wanlis eng mit der Maskirovka zusammengearbeitet. Nach deren
Verschwinden hatte er die vorläufige Leitung der Organisation auf
Sian übernommen. »Eure schnelle Aufdeckung der Angriffe und die
Auslieferung Kalis an ein Kriegsverbrechertribunal auf Atreus hat
Euch auf Distanz zu den Greueltaten gebracht und die Auswirkungen
auf die Konföderation begrenzt.«
Sun-Tzu nahm es mit knappem Nicken auf. »Luthien wäre meiner
Ansicht nach eine bessere Wahl gewesen. Das gibt Thomas freie Hand,
der Konföderation zu schaden.« Ich hätte damit
rechnen müssen. Thomas bereitet sich darauf vor, der nächste Erste
Lord des Sternenbunds zu werden, also beantragt er natürlich dieses
Richteramt. Außerdem ist Atreus für die betroffenen Parteien
günstiger gelegen.
Rush hielt Sun-Tzus Blick ohne Zaudern stand.
»Theodore Kurita hat als Erster Lord
Eure Bitte unterstützt, Naomi Centrella in das Tribunal
aufzunehmen«, erinnerte er den Kanzler.
»Ein gutes Indiz dafür, daß der Sternenbund die Konföderation nicht
rundweg verurteilen wird«, pflichtete Sun-Tzu ihm bei. Obwohl diese
Möglichkeit durchaus noch bestand, falls sich das Verfahren
ungünstig entwickelte. »Naomi wird unsere Interessen vertreten«,
erklärte er, obwohl es ihm Unbehagen bereitete, so viel Gewicht auf
ein Ereignis zu legen, über das er keine Kontrolle hatte.
Zahns unglückliche Miene zeigte, daß der ranghöchste General der
Konföderation ebensowenig davon hielt, so entscheidend vom
Verhalten der Magestrix abhängig zu sein. Sun-Tzu spürte auch die
Verärgerung seiner Mutter, allerdings konnte er sich nicht sicher
sein, ob die dem Verfahren gegen ihre Tochter galt oder Sun-Tzus
Bereitschaft, sich von einer Peripheriefürstin vertreten zu lassen.
Beides, entschied er. »Wir. müssen
zeigen, daß wir an einem gerechten Urteil interessiert sind«,
fühlte er sich genötigt, seinen Entschluß zu erklären. »Eine
Direktvertretung der Konföderation wäre mit Sicherheit abgewiesen
worden.«
Ion Rush sah den Kanzler nur gelassen an und akzeptierte dessen
Erklärung. Talon Zahns Unbehagen schien jedoch eine andere Ursache
zu haben. »Ich bezweifle, daß es irgendeinen Unterschied gemacht
hätte, wäre das Vereinigte Commonwealth nicht gerade selbst in
erheblichen Schwierigkeiten. Katrina hätte die Gelegenheit genutzt,
ihre ganze Nation gegen Euch zu mobilisieren.«
Und unvoreingenommen betrachtet hätte Sun-Tzu ihr das nicht
übelnehmen können. Das Timing wäre perfekt gewesen. Eine humanitäre
Entschuldigung für eine Invasion, während der überwiegende Teil der
gegnerischen Streitkräfte anderweitig gebunden ist.
Katrina Steiner-Davions Armeen hätten sein kleineres Reich ein für
allemal überrollt, ohne Rücksicht auf ihr lockeres Bündnis. Zum
Glück für die Konföderation hatte Katrina erheblich mehr
Schwierigkeiten damit, zwei Nationen zu regieren, als sie
wahrscheinlich erwartet hatte.
»Wie sieht unsere militärische Lage aus?« fragte er.
»Täuschend gut«, stellte Zahn so geradeheraus wie immer fest.
»Jedenfalls wenn man sich auf unsere jüngsten Erfolge verläßt. Die
Wirkung des Schwarzer-Lenz-Schocks auf die Defensivkapazitäten des
St. Ives-Pakts haben uns ungeheure Gewinne ermöglicht, nicht
zuletzt die vollständige Kontrolle über Indicass. Aber alle unsere
Einheiten erleiden schwere Verluste, und die Paktbevölkerung läßt
sich immer schwieriger kontrollieren. Die Rebellenaktivität nimmt
zu.« Er machte eine dramatische Pause. »Die Todeswache ist auf eine
Minute fünfundvierzig Sekunden gesunken.«
»Wissen Sie, was uns fehlt?« fragte Sun-Tzu, offensichtlich
rhetorisch. »Ein Ziel.« Die Antwort spiegelte das Chaos in seinem
Geist ebenso wider wie das in seinem Reich. »Im letzten Jahr haben
wir unser Ziel aus den Augen verloren, und unsere Regimenter sind
in einem Krieg um seiner selbst willen gefangen.« Seine jadegrünen
Augen zogen die Blikke seiner beiden Berater an. »Wir müssen die
Legitimität unserer Herrschaft beweisen.«
Zahn runzelte fragend die Stirn. »Haben wir das nicht bereits
getan? Indem wir uns im Pakt etabliert und deutlich gemacht haben,
daß in einigen Systemen der Wunsch nach der Rückkehr in die
Konföderation besteht?«
»Das genügt nicht«, erwiderte Sun-Tzu mit einem leichten
Kopfschütteln. »Wir brauchen mehr. Etwas Symbolisches, das beide
Seiten des St.-IvesKonflikts anerkennen müssen.«
Ion Rush beugte sich vor, ein Berg von einen Mann, der nach einer
Richtung suchte, in die er fallen konnte: »Habt Ihr einen
Vorschlag, mein Kanzler?«
Sun-Tzu nickte. Vor seinem inneren Auge sah er den Faden, der die
Knoten lösen konnte. So viele fehlgeschlagene
Versuche, erinnerte er sich. Aber damit
könnte es gelingen. Er fuhr mit der Kante eines einzelnen
langen Fingernagels über die Armstütze des Thronsessels, und die
rasiermesserscharfe Schneide zog eine dünne Spur in das dunkle
Holz. Ein Weg durch dunkle Schatten.
Als er weitersprach, war es auf Englisch, und er zitierte in
melodischem Flüsterton einen alten Scherzreim: »As I was walking to
St. Ives...«