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Palast des Himmels,
Zi-jin Cheng (Verbotene Stadt), Sian Kommunalität Sian,
Konföderation Capella
Sun-Tzu Liao gestattete Ion Rush, ihm auf die Empore zu helfen, auf der sich der Thron des Himmels erhob. Seine Beine schafften es kaum, sein Gewicht zu tragen, und Sun-Tzu war sich bewußt, daß der Imarra-Shiao-zhang das Zittern spürte, das ihn gelegentlich trotz seiner besten Bemühungen, es zu unterdrücken, erfaßte. Adrenalin, keine Angst. Sun-Tzu ahnte Romanos Einfluß in dieser Rationalisierung. Wie konnte der Kanzler der mächtigen Konföderation Capella jemals Angst zeigen?
Weil er gerade dem zweiten Anschlag auf sein Leben innerhalb von vier Jahren entgangen ist, antwortete Sun-Tzu sich selbst und verzieh sich ein paar Augenblicke der Schwäche, selbst wenn die Erinnerung an seine Mutter das nicht vermochte. Und wenn er seinen Schock schon irgend jemandem zeigen mußte, hatte Ion Rush sich heute sicher dessen würdig erwiesen. Der Kanzler würde niemals vergessen, wie das heftig aus Rushs Arm zu Boden tropfende Blut fast spurlos von dem dunkelroten Läufer aufgesogen worden war, der sich bis zum Doppelportal des Thronsaals erstreckte. In einer Zeit, in der es schwer war, sich das Vertrauen des Kanzlers zu verdienen, sprachen Ion Rushs Taten eine deutliche Sprache.
Er ließ sich vorsichtig auf den Thron des Himmels sinken, die Hände fest um die schweren hölzernen Armstützen gelegt, und bemerkte die beiden Personen, die immer noch in der offenen Tür standen. Die Maskirovka-Agentin, die sich zum Zeitpunkt des Anschlags auch im Vorraum aufgehalten hatte, wo sie auf die Gelegenheit wartete, einen Bericht abzuliefern, und das Mitglied der Todeskommandos, das als erster zur Stelle gewesen war, als die Schüsse die morgendliche Stille des Palasts zerrissen.
Endlich schloß der Kommandosoldat die Tür des Thronsaals vor der zunehmenden Geschäftigkeit außerhalb und nahm seine Wachposition vor dem Portal wieder ein. Blieb die Mask-Agentin, und ihretwegen hielt Sun-Tzu den Rücken gerade und den Kopf erhoben, in einer Zurschaustellung von Stärke, die er im Augenblick keineswegs fühlte. Die Tür öffnete sich kurz wieder, um Talon Zahn und unmittelbar hinter ihm Sang-shao Michael Hyung-Tsei einzulassen, den Kommandeur des Todeskommando-Bataillons.
Nach Ankunft Hyung-Tseis fühlte Sun-Tzu sich sicher genug, Rush zu entlassen, damit er einen MedTech aufsuchen konnte. Der Imarra-Meister hatte mindestens zwei Kugeln im rechten Arm stecken, und die Krallen des leichten Exoskeletts, das der Attentäter getragen hatte, hatten die Haut über seiner Brust aufgerissen. Sun-Tzu sah die graue, seilartige Myomermuskulatur im Brustkorb Rushs unter einer dünnen Schicht Blut pulsieren. Sie erinnerte ihn daran, wie Rush die dünne Panzerung des Attentäters durchschlagen und die darunterliegende Brust des Mannes eingedrückt hatte, und plötzlich fühlte er sich in Ion Rushs Nähe nicht mehr so wohl wie noch Augenblicke zuvor.
»Danke, Ion«, sagte er fast flüsternd. »Bitte ziehen Sie sich jetzt zurück und lassen Sie Ihre Verletzungen versorgen.«
Rush nickte, obwohl ihn seine Wunden nicht
weiter zu stören schienen. »Sofort, mein Kanzler.«
Michael Hyung-Tsei verneigte sich vor Ion Rush, als der Shiao-zhang
an ihm vorbeiging, und die Myomermuskeln in seinen Schultern wogten
eindrucksvoll. Danach lieh sich der Kommandeur der Leibgarde des
Kanzlers Talon Zahns Pistole und tastete die Maskirovka-Agentin
nach versteckten Waffen ab. Sie ließ es mit einem Ausdruck von
Desinteresse über sich ergehen - beinahe amüsiert. Sun-Tzu
ignorierte den Anflug von beleidigtem Stolz, der über Zahns Gesicht
huschte. Wenn Sascha mich so leicht verraten
und zu Candace überlaufen konnte, wie kann ich dann noch irgend
jemandem vertrauen?
»Ich bleibe hier im Saal, mein Kanzler«, erklärte Hyung-Tsei, ohne
Zahns Dián-ya-Laserpistole zurückzugeben. Er stellte sich an der
Tür des Thronsaals auf, die Pistole entsichert und schußbereit vor
der breiten Brust.
In den Zeiten seiner Mutter hätte Hyung-Tsei für ein derartiges
Versagen der Sicherheitsvorkehrungen mit dem Leben bezahlt, das war
Sun-Tzu klar. Auch wenn er nicht dabei gewesen war. So wie Sascha für ihr Versagen hätte bezahlen
müssen, erinnerte Romano ihn, und ihre geisterhafte Präsenz
in seinen Gedanken ermahnte ihn, diesen Fehler nicht zu
wiederholen. Aber Sun-Tzu brauchte diese Menschen und konnte sich
die blinde Wut seiner Mutter nicht leisten, so sehr es auch sein
persönliches Verlangen nach Rache befriedigt hätte, ihr
nachzugeben.
Das bin nicht ich, dachte er, obwohl er
sich fragte, wen er eigentlich noch zu überzeugen versuchte.
Angesichts der direkten Wahl zwischen Saschas Tod und ihrer
Desertion in den Pakt fiel es ihm schwer, Romanos Standpunkt zu
widerlegen.
Sun-Tzu fand seine Stimme wieder und legte eine Entschlossenheit
hinein, die alle noch verbliebene Unsicherheit überdeckte. »Ich
will wissen, wie das geschehen konnte«, informierte er den
Todeskommando-Offizier. »Sian gilt als sichere Welt, und Zi-jin
Cheng als meine persönliche Festung. Von der Heiligkeit des Palasts
des Himmels ganz zu schweigen.«
Hyung-Tsei nickte verstehend und flüsterte kurz in ein an seinem
Uniformkragen befestigtes Mikrophon. Ein zweites dünnes Kabel
führte zu einem Ohrstöpsel. Er stand erkennbar in ständigem Kontakt
mit seinen Leuten, und ebenso deutlich dachte er im Augenblick
nicht daran, die Sicherheit des Kanzlers irgend jemand anderem zu
überlassen.
»Candace?« fragte Talon Zahn in einem Bruch der Tradition, die von
ihm verlangte zu schweigen, bis der Kanzler ihn ansprach. Er kam
näher, blieb aber in respektvollem Abstand vor der Empore
stehen.
Die Besorgnis in Zahns Stimme, möglicherweise echt, vielleicht auch
nur gespielt, reichte zumindest aus, ihm Sun-Tzus Zorn zu ersparen.
Der Kanzler war um nichts weniger gespannt auf Antwort. Er glaubte
nicht daran, daß seine Tante den Anschlag genehmigt hatte, obwohl
die zeitliche Übereinstimmung mit der Invasion St. Ives durch
Konföderationstruppen darauf hinzudeuten schien.
»Was meinen Sie?« fragte er die MaskirovkaAgentin. Er erkannte sie
als den Maulwurf wieder, den er ursprünglich in die Organisation
seines Onkels Tormano eingeschleust hatte. Nach ihrer Entdeckung
war sie in die Abteilung Bing-xin-záng der Maskirovka versetzt
worden und leitete dort die Überwachung und Durchsetzung der
Loyalität der Konföderation ihrem Kanzler gegenüber. Nancy Bao Lee.
Sie stand auf der Liste potentieller Nachfolger Sascha Wanlis, eine
Empfehlung, die ihr in diesem Augenblick ganz und gar nicht
half.
»Ich halte das für wenig wahrscheinlich«, antwortete sie mit gerade
dem richtigen Maß an Zögern für eine offene Antwort auf eine Frage
des Kanzlers. Ihre sanften braunen Augen täuschten über die Stärke
hinweg, die hinter ihnen lag. »Unmittelbar vor dem Anschlag rief er
›Liao!‹, was für mich einen Auftraggeber ohne Verbindung zum Pakt
nahelegt.« Sun-Tzu erinnerte sich an den Haß und die Verachtung,
die der Attentäter in seinen Familiennamen gelegt hatte. Es war die
einzige Warnung gewesen, und selbst das hatte kaum genügt, um Ion
Rush die Zeit zu geben, Sun-Tzu zu packen und hinter eine schwere
Mahagonikommode zu werfen. Mehr verlorenes Karma. Nein, kein Agent Candaces. Und es kann auch kaum ein
Offiziersrenegat aus dem Pakt gewesen sein.
Er bedankte sich bei Lee mit einem leichten Nikken. Nicht schlecht,
wenn man bedachte, wie kurz sie erst in der Analytischen Sektion
der Finte arbeitete.
»Sie haben etwas für mich?« fragte er dann, in Erinnerung an den
Eintrag in seinem Kalender.
»Meine Sektion ist eine von dreien, die das
Kriegsverbrechertribunal auf Atreus überwacht, vor dem Eure
Schwester sich verantworten muß. Gestern haben die Anwälte ihre
Eröffnungsreden gehalten. Ich soll Euch den Bericht überbringen.«
Sie hielt eine kleine Diskette hoch.
Der Kanzler bemerkte, daß Hyung-Tsei zuckte, bevor der
Kommandosoldat sich beruhigte, daß sie keine Waffe besaß, die ihm
entgangen war. Das machte Sun-Tzu ihrer Begründung für die
Anwesenheit zum Zeitpunkt des Attentats gegenüber mißtrauisch. »Ich
sehe ihn mir später an«, erwiderte er langsam. »Geben Sie mir eine
Zusammenfassung.«
Sie zögerte keine Sekunde - was für sie sprach. »Die Anklage hat
unbestimmte Versprechungen gemacht, eine Absicht von Seiten der
Konföderation nachzuweisen, vor allem in Form mangelnder Kontrolle
einer offensichtlichen Handlangerin. Die Verteidigung plädiert auf
Unschuld wegen Wahnsinn, auch wenn sie es diplomatischer ausdrückt
als ich, mein Kanzler.«
»Noch etwas?« hakte Sun-Tzu nach, der ein leichtes Zögern Bao Lees
spürte, ob sie weitersprechen sollte.
»Kali mußte aus dem Saal entfernt werden. Offiziell wegen
›Mißachtung der Autorität des Tribunals‹. In Wirklichkeit hat sie
sich geweigert, still zu sein und in einem fort mit einer von den
Zeichen angekündigten letzten Abrechnung gedroht.«
Das kann unsere Argumentation nur
stärken, stellte Sun-Tzu fest. »Was uns zu einem anderen
Punkt bringt. Candace könnte noch immer hoffen, die Greueltaten des
Schwarzen Lenz gegen uns auszuspielen, sei es vor dem Tribunal oder
den Lordräten des Sternenbunds, sollte ich noch einmal eine Sitzung
des Hohen Rats besuchen. Die Feststellung, daß ihr Pakt einen
Mordanschlag in Auftrag gegeben hätte, würde ihre Glaubwürdigkeit
unterminieren.«
»Wer dann?« fragte Zahn und warf Lee einen versteckten Blick zu.
»Der Widerstand in den ChaosMarken hat an Heftigkeit
gewonnen.«
Sun-Tzu verstand, daß es sich um eine subtile Frage danach
handelte, ob Blakes Wort wie hinter dem früheren so auch hinter
diesem Anschlag stecken konnte. »Der Anschlag der Toyama auf mein
Leben hat sie einiges an Mitteln gekostet«, erwiderte er und nahm
Nancy Bao Lee damit in den engen Kreis jener Personen auf, die von
dem Anschlag während seines Aufenthalts auf der
Magistratszentralwelt Canopus wußten. Er hatte vor, ihr die Leitung
der Untersuchung dieses jüngsten Attentats zu übertragen, und dazu
benötigte sie diese Information. »Die ShengliWaffenfabrik auf
Victoria wurde mit ihren großzügigen Reparationen komplett
umgebaut. Ich bezweifle, daß Cameron St. Jamais seinen wachsenden
Einfluß jetzt schon für einen so geringen Ertrag aufs Spiel
setzt.«
Trotzdem konnte es von Vorteil sein, wenn entsprechende
Gerüchte in Umlauf kamen. Dasselbe galt
für die Beziehungen zum Pakt. Er blickte zu Nancy Bao Lee.
»Gleichgültig, was die Maskirovka herausfindet, ich möchte eine
Anzahl glaubhafter Berichte darüber sehen, wie der Pakt oder Blakes
Wort diesen Anschlag unterstützt haben.« Warum
sich damit zufriedengeben? Die Frage kam von seiner Mutter,
aber Sun-Tzu stimmte ihr zu. »Setzen Sie einen dritten Bericht über
Katrina Steiner-Davion auf und erwähnen Sie auch George Hasek.
Geben Sie alle Berichte über inoffizielle Kanäle frei.«
Zahn gab mit einem grimmigen Nicken seine Zustimmung zu dieser
Möglichkeit zu verstehen, der Konföderation auf leichte Weise
zusätzliches politisches Kapital zu verschaffen. Nancy Bao Lee
lächelte in offener Bewunderung. »Brillant, mein Kanzler. Ich werde
die Erstellung persönlich überwachen und einen weiteren Bericht
hinzufügen, der detailliert beschreibt, wie Sascha Wanli den
Anschlag als Teil des Blutpreises, den Candace für ihren Schutz
fordert, arrangiert hat.«
Sun-Tzu hatte das Kompliment als offenen Versuch Lees abtun wollen,
für die Wahl des nächsten Maskirovka-Direktors Punkte zu machen.
Ihre Schußbemerkung aber erregte sein unmittelbares und tiefes
Interesse. »Halten Sie es für denkbar, daß Sascha wirklich etwas damit zu tun hatte?« fragte er. Wie
es Sascha Wanli gelungen war, aus der Konföderation in den St.
Ives-Pakt zu fliehen, war noch immer nicht geklärt, und es mochte
sich herausstellen, daß der Attentäter und seine Ausrüstung auf
ähnlichem Weg nach Sian geschmuggelt worden waren.
Wieder ließ Lee in ihrer Antwort nur das leiseste Zögern erkennen.
Genug, um die Untersuchung offenzuhalten, und das sicherlich unter
ihrer Leitung. »Nein, nicht wirklich«, erklärte sie. »Es entspricht
nicht Sascha Wanlis Stil. Aber ich werde die Möglichkeit sicher
untersuchen.«
Diesmal gestattete Sun-Tzu ihr die Übernahme weiterer
Verantwortung. »Tun Sie das«, ordnete er an. »Erstatten Sie mir bis
auf weiteres über Ion Rush Bericht.« Damit wurde sie aus dem Kreis
seiner Berater gedrängt und fand sich damit einen Schritt weiter
vom Titel der Direktorin entfernt. Außerdem sorgte es für ein
gesundes Mißtrauen Nancy Bao Lees dem Imarra-Meister gegenüber, der
jetzt zwischen ihre Arbeit und die direkte Anerkennung des Kanzlers
trat. Gut, dachte dieser. Ich möchte, daß ihr einander als Rivalen betrachtet.
Verschwörungen erfordern Zusammenarbeit, und wenn ich euch schon
nicht vertrauen kann, kann ich mir wenigstens sicher sein, daß ihr
nicht gegen mich kooperiert. Gegen meine Konföderation. Denn
eines war sicher. SunTzu würde niemals wieder jemandem gestatten,
seiner Nation solchen Schaden zuzufügen, wie Sascha Wanli es getan
hatte.
»Noch etwas«, wandte er sich an die MaskirovkaAgentin. »Ich will
wissen, wie Sascha Sian verlassen hat.« Er stockte einen
Augenblick, entschloß sich aber fast augenblicklich, den gewählten
Weg weiterzuverfolgen. »Und ich will, daß sie zum Schweigen
gebracht wird.« Nancy Bao Lee nahm den Befehl ohne erkennbare
Reaktion zur Kenntnis, während Zahn zusammenzuckte, gefolgt von
grimmiger Entschlossenheit.
Vielleicht hatte Romano recht, und ich hätte
Sascha damals gar nicht lebend aus dem Raum treten lassen
dürfen.
Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Auf
St. Ives schadet sie der Konföderation weiter, und das kann ich
nicht gestatten.
Seine Mutter mochte nicht immer bei vollem Verstand gewesen sein,
aber das bedeutete nicht, daß sie nicht gelegentlich auch recht
gehabt hatte.