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Heimatmilizlager, Lhasa, Tantara Herzogtum St. Loris, St. Ives-Pakt

 

24. September 3062

Cassandra Allard-Liao stand am Fenster ihres Büros im ersten Stock des Gebäudes und sah hinaus auf den leeren Paradeplatz der Heimatmiliz. Tantaras wolkenverhangener Morgenhimmel lag schwer über dem menschenleeren Platz und spiegelte ihre Stimmung genau wieder. Grau. Trostlos. Scharfe Windböen trieben Papierfetzen über den öden Beton.

Ein Fetzen für jedes vom Wind verwehte Mitglied meiner Familie, von den Vorboten des Gewitters, das sich über der Inneren Sphäre zusammenbraut. Kuan Yin, die irgendwo in der Besatzungszone mit ihren Hilfsaktionen unterwegs ist, der sogenannten XinSheng-Kommunalität. Kai und ich selbst, auf Lichtjahre voneinander entfernten Schlachtfeldern. Quentin, begraben in den wachsenden Unruhen im Vereinigten Commonwealth. Mutter... Sie blickte auf den langen Brief hinab, den sie in der rechten Hand hielt. Die Zahlen waren unumstößlich, auch wenn sie es gerne auf den Versuch hätte ankommen lassen. Sie legte die Verigraphnachricht auf einen in der Nähe stehenden Tisch. Mutter... die sich darauf vorbereitet, St. Ives aufzugeben.

Und das möglicherweise Beunruhigendste dabei war, daß die Vorstellung, ihre Zentralwelt zu verlieren Cassandra nicht in dem Maße überraschte oder schockierte, wie sie es erwartet hätte.

Ich hätte dort sein sollen, dachte sie, obwohl ihr klar war, daß sie nichts wirklich hätte ausrichten können. Kai hatte kaum mehr als ein Unentschieden gegen die zahlenmäßig überlegenen Truppen der Konföderation auf St. Ives erzielt, und auch das nur jeweils auf einem Schlachtfeld. Cassandra wünschte sich, sie hätte glauben können, daß ihre Anwesenheit einen Unterschied gemacht hätte, aber die letzten beiden Kriegsjahre hatten sie gelehrt, ihre Grenzen zu erkennen, wenn sie schon sonst nichts gebracht hatten.

Wir hätten Kais Beispiel folgen und den Krieg in die Konföderation tragen sollen. Wieder redete sie sich diese Idee selbst als Wunschdenken aus. Selbst mit der Hilfe der SBVS- und ComGuard-Truppen Victor Steiner-Davions fehlte dem Pakt die Kraft, das eigene Territorium zu verteidigen, geschweige denn, zum Angriff überzugehen. Nashuar und jetzt auch Taga waren gezwungen gewesen, eine neutrale Haltung einzunehmen und auf den Ausgang der Kämpfe auf St. Ives zu warten. Milos war verloren, erneut verloren, und diesmal wahrscheinlich endgültig. Es hat wenig Sinn, auf Konföderationsboden zu kämpfen, wenn man hinterher keine Heimat mehr hat, in die man zurückkehren kann.

Daran zumindest konnte Cassandra ihre Siege und ihren Wert für den Pakt messen. Ich habe die Front gehalten. Wir haben eine Position, auf die wir uns zurückziehen können. Noch ist nicht alles verloren. Der Pakt kontrollierte die Teng-Front, von Spica über St. Loris nach Ambergrist. Und mit drei Fünfteln der nationalen Militärproduktion auf weniger als der Hälfte des Territoriums konzentriert könnten wir theoretisch ewig durchhalten.

Seit wann, Mutter? Cassandra zitterte, nicht vor Kälte, sondern weil ihr klar wurde, wie Candace Liaos endgültige Lösung aussah. Die ganze Zeit über hatte sie Cassandra die Mittel für eine Offensive verweigert, hatte sie von einem System ins nächste geschickt, um die Verteidigung der Teng-Front zu koordinieren. Seit wann hast du gewußt, daß es soweit kommen würde?

Cassandra wandte sich von der Einöde vor ihrem Fenster ab, entschlossen, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Die Kosaken brauchten Nachschub, ebenso wie Treyhang Liaos Bewegung Freies Capella. Es mußte ein Überfall auf Indicass vorbereitet werden. Wenn es schon nicht möglich war, den Planeten zurückzuerobern, mußten sie zumindest die CeresMetall-Fabriken für die Konföderation unbrauchbar machen. Es war vielleicht keine ruhmreiche oder verlockende Arbeit, und sicher nicht die Entscheidungsschlacht, die sie sich zu Beginn des Kriegs um den St Ives-Pakt erhofft hatte. Aber auch diese Arbeit mußte getan werden. Und es war ihre Arbeit.

Cassandra kannte ihre Pflicht.

 

* * *
Sem-po-Berge, Distrikt Vedray, Ambergrist Herzogtum St. Loris, St. Ives-Pakt

Die Wut war verbraucht. Der Zorn war verraucht. Der Rachedurst hatte Pflichtgefühl Platz gemacht. Der Pflicht eines Janshi, eines Kriegers.

Die Temperatur im Innern des Imperator-Cockpits stieg um mehrere Grad, als Oberst Warner Doles eine weitere Breitseite abfeuerte, während er den überschweren Mech vorsichtig den schwierigen, geröllbedeckten Steinschlagabhang in Ambergrists Sempo-Massiv hinunterbewegte. Die Laserstrahlen zuckten in den Rücken des flüchtenden Marodeur, schnitten tief in dessen rechten Arm und quer über seine Heckpartie. Bündelmunition aus den LB-XAutokanonen, die dem Imperator als Arme dienten, scheuerten die verbliebene Panzerung weg. Ein paar der Splittergranaten suchten nach einer Bresche, fanden aber keine.

Warner grunzte verärgert, dann spannte er sich, als der taurische MechKrieger seine Maschine drehte und mit der rechten Arm-PPK zurückschoß. Der künstliche Blitzschlag peitschte über das linke Mechbein und ließ die Panzerung in einem grellglühenden Sturzbach zu Boden strömen.

Entlang der Hänge und Rinnen an der Nordwand des Wei-shi-ji stießen die Blackwind-Lanciers gegen das Lager der Taurischen Veliten vor. Dadurch, daß er heimlich ein Bataillon durch einen erst kurz zuvor von der 3. Konföderations-Reservekavallerie aufgegebenen Paß geschickt hatte, war es Doles gelungen, die Peripherie-Einheit mit diesem Überfall im Morgengrauen zu überraschen. Die Wachkompanie war zurück in das Hauptkontingent der Einheit gedrängt worden, dessen Mitglieder hastig aufgesessen und sich zum Kampf gestellt hatten. Doch selbst so sorgte ihre veraltete Bewaffnung für einen ungleichen Kampf. Ihr Pech, dachte er ohne großes Mitgefühl, aber auch ohne echte Bösartigkeit. Sie haben in diesem Krieg ohnehin nichts verloren.

Bei der nächsten Salve beschränkte Doles den Waffeneinsatz auf die Autokanonen und einen einzelnen schweren Laser. Er sah keinen Grund, seinen Mech in einem Gefecht zu überhitzen, das so eindeutig zu seinen Gunsten verlief. Der auf modernen Schlachtfeldern antiquiert wirkende Marodeur, wenn er auch trotzdem noch ein zäher Gegner war, drehte sich in den Angriff und fing diesmal den Schaden mit der Frontpanzerung auf. Seine beiden PPKs und die Autokanone gaben Antwort, und die schillernde elektrische Energie der Partikelprojektorkanonen zog tiefe Narben über beide Torsoseiten des Imperator, während die AK-Granaten auf das schon angeschlagene linke Bein einhämmerten. Eine Speerschleuder, ein leichter ArtillerieMech, tauchte hinter einer Erhebung im Hintergrund auf und feuerte zwei Salven Kurzstreckenraketen ab. Über die Hälfte der in Korkenzieherwindungen herabstürzenden Geschosse fanden ihr Ziel und rissen Krater in die dicke Panzerung, die zum Schutz der internen Struktur des Paktmechs diente.

Das ließ den Kampf ausgeglichener erscheinen. Jedenfalls gegen Doles. Der Funkverkehr deutete das Auftauchen weiterer Verstärkungen entlang der Gefechtslinien an, aber bis jetzt bestand deswegen noch kein Grund zur Sorge.

»Position halten«, befahl Doles, in dessen Einschätzung der Lage sich eine Spur von Vorsicht einschlich. »Nur entlang der Linie bewegen. Wir schlagen zu und verschwinden.«

Noch vor einem Monat, möglicherweise zwei, wäre er mit einem derartigen Schlachtplan nicht zufrieden gewesen. Ich hätte sie vernichten wollen, sie niederwalzen. Und hätte dafür möglicherweise meine ganze Einheit riskiert. Inzwischen fühlte er diesen Drang nicht mehr. Er hatte keine Angst, seine Gefährlichkeit zu verlieren. Im Gegenteil, heute war er ein gefährlicherer Gegner als zuvor. Weil er keine Fehler mehr beging.

Wie der SpeerschleuderPilot gerade einen gemacht hatte.
Der Marodeur hielt jetzt, nachdem er sich einer gewissen Unterstützung sicher sein konnte, die Stellung zum Schlagabtausch mit Doles' Imperator, während die Speerschleuder sich nur etwas an dem Querkamm entlang bewegte, der ihre untere Rumpfhälfte verdeckte. Von der Erregung des Kampfes nicht weniger angeheizt als vom zunehmenden Hitzestau im Innern der Kanzel, zog Doles das Fadenkreuz vom Torso des schweren Peripherie-Mechs auf die Brustpartie der Speerschleuder. Die Zielklammer veränderte ihre Farbe von Rot zum leuchtenden Goldgelb einer sicheren Zielerfassung. Der Oberst wartete die heftige Erschütterung ab, die zwei weitere PPK-Treffer des VelitenMarodeur durch seine Maschine jagten, dann feuerte er seinerseits auf den leichteren Mech.
Ein schwerer und zwei seiner mittelschweren Laserschüsse bohrten sich in den Kamm vor den Beinen der Speerschleuder, zerkochten das dünne Gebirgsgras und brachten den Boden darunter zum Schwelen. Alle anderen Waffen fanden ihr Ziel auf der oberen Torsohälfte des taurischen Mechs, auf den Armen und, besonders gefährlich, auf dem Kopf. Mehrere AK-Splittergranaten überschütteten die helmartige Cockpitpanzerung mit dem Stakkatoeffekt überdimensionaler Schrotflintenmunition, schälten die Panzerung weg und schüttelten den Krieger im Innern der Kanzel ohne Zweifel gehörig durch. Doles verzog mitfühlend das Gesicht, denn er wußte, welche Tortur der Taurier gerade durchmachte, der von dem Bombardement zwischen Gurten und Pilotenliege hin und hergeschleudert wurde.
Eine zu harte Tortur, wie es schien. Das Taktikprogramm des Imperator-Bordcomputers registrierte keine Bresche in der Panzerung, und Doles sah auch auf dem Sichtschirm nichts, was darauf hingedeutet hätte. Trotzdem kippte die Speerschleuder nach hinten weg. Warner Doles beneidete ihren Piloten nicht um die Kopfschmerzen, die ihn erwarteten, wenn er wieder zu sich kam.
Der Marodeur rückte ungerührt weiter auf kurze Distanz vor und tauschte diesmal eine der PPKs gegen seine mittelschweren Laser ein. Doles drehte seinen überschweren Mech nach links, um das beschädigte Bein zu schützen. Die Autokanone des Veliten erwischte es trotzdem und schälte die letzten Panzerreste davon, während die PPK sich in die noch unbeschädigten Panzerschichten auf dem rechten Bein des Imperator stürzte.
Ein Verzweiflungsangriff, schätzte Doles die Aktion seines Gegners ein. Entweder das, oder er weiß, daß weitere Verstärkung unterwegs ist. »Rückzug vorbereiten«, gab er über die allgemeine Befehlsfrequenz an sein Bataillon durch. »Feuer auf die verwundbarsten Ziele konzentrieren.« Da sein Mech die langsamste Maschine der Einheit war, mußte er den Rückzug früher einleiten als seine Leute. Aber vorher wollte er noch einen ›Abschuß‹ auf seinem Konto verbuchen. Der taurische Mechpilot war entweder unfähig zu erkennen, wann er unterlegen war, oder er weigerte sich, es einzugestehen. Der Imperator konnte länger als dessen Marodeur volle Breitseiten abfeuern, besaß eine um die Hälfte stärkere Panzerung und war zudem zu noch etwas in der Lage, was dem älteren Mech unmöglich war.
Er konnte springen.
Doles leitete superheißes Plasma aus dem Fusionsreaktor in die Reaktionskammern der Sprungdüsen und lenkte den Imperator in einem neunzig Meter weiten Drehflug in den Rücken des Marodeur. Der Peripherie-MechKrieger erkannte seinen Fehler und versuchte, seinen Kampfkoloß zu wenden, aber es war zu spät. Lichtwerfer schleuderten konzentrierte rubinrote Energieimpulse auf dessen bereits angeschlagenen Rücken und die Torsoflanken, verdampften, was an Panzerresten dort noch zu finden war, und bohrten sich tief in die interne Skelettstruktur. Die Autokanonen hämmerten überdimensionale Schrotmunition in die Breschen, und jeder einzelne Granatsplitter drang als Querschläger auf der Suche nach verwundbaren Bauteilen noch tiefer ein als sein Vorgänger.
Und die gab es im Übermaß. Die letzten Megajoule an Energiebeschuß durchtrennten die Halterung der über der rechten Schulter des Marodeur aufragenden 50mm-Autokanone und ließen die riesige Waffe wegbrechen. Gleichzeitig reduzierten die edelsteinfarbenen Lichtbolzen des Impulslasers die Reaktorabschirmung. Flammen schlugen durch die Risse in der Mechpanzerung, als der Fusionsreaktor seine Abwärme gezielt in die interne Struktur leitete. Dann rissen die AK-Salven das Gyroskopgehäuse los, und die ganze riesige Kampfmaschine brach flammend und zerborsten zusammen wie eine Marionette, deren Fäden man zerschnitten hatte.
Soviel zu einigen Millionen Pao an taurischem Staatseigentum, dachte Doles, wuchtete seinen titanenhaften Imperator um das Wrack des Marodeur und kehrte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.
Auf der nächsten Anhöhe hielt Doles kurz an, um das Schlachtfeld zu betrachten. Seine Krieger hielten sich in halbwegs ordentlicher Gefechtslinie und waren dabei, die Postenkompanie zu erledigen. In der Ferne zeichnete sein Mechcomputer ein anrückendes Bataillon der Gegenseite. Auf der Sichtprojektion erschienen Symbole für schwere Mechs, flankiert von leichter Unterstützung. Er senkte das Kinn und aktivierte das in den Neurohelm eingebaute Mikrophon.
»Zwanzig Sekunden bis zum Abzug«, befahl er. »Keine Helden, keine Märtyrer. Wer die Zeit braucht, rückt sofort ab.«
Erst einzeln und paarweise, dann in kompletten Lanzen lösten sich die schwereren, langsameren Mechs der Blackwind-Lanciers aus dem Gefecht. Sie formierten sich zu einer soliden Nachhut, die den Veliten gewachsen war, selbst wenn es denen gelang, die abziehenden Lanciers einzuholen.
Doles nickte, zufrieden mit den Leistungen dieses Tages und stolz auf seine Einheit. Heute hatten sie einen Sieg errungen, aber Ambergrists Probleme ließen sich nicht an einem Tag lösen, vermutlich nicht einmal in einem Monat. Es würde weitere Kämpfe geben. Vormärsche, Rückzüge und nur allzu wahrscheinlich brutale Feldschlachten, in denen die Lanciers einen Sieg erringen oder eine schwere Niederlage erleiden würden. Krieger und Maschinen würden fallen, zerstört, gefangen, manchmal gegen Lösegeld ausgetauscht werden. Das war die Natur des Krieges. Und das war seine Arbeit. Mehr nicht.

Battletech 46: Die Natur des Kriegers
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