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Raumhafen Báo-feng, Wuhan, Ambergrist Herzogtum St. Loris, St. Ives-Pakt17. Juli 3062
Drei Landungsschiffe der Union-Klasse und ein antiker Störenfried formten ein Quadrat auf dem Asphalt des Báo-feng-Raumhafens von Wuhan, das dem 3. Bataillon der Blackwind-Lanciers als Paradeplatz diente. Zwei Züge Infanterie und die Besatzungen eines Panzerzugs bildeten den Hauptanteil der Versammlung, an deren Front sechzehn MechKrieger aufgereiht standen. Eine einzelne Kompanie BattleMechs ragte hinter dem aufmarschierten Bataillon auf. Vier brandneue Helios-Mechs bildeten die mittlere Lanze, die auf beiden Seiten von einer gemischten Lanze flankiert wurde. Die Luft um die Mechs und Landungsschiffe flimmerte in der vom Asphalt des Landefelds aufsteigenden Hitze, aber nicht ein Lancier rührte eine Hand, um sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen.
Warner Doles stieg auf die Paradeplattform zu Majorin Jahna Castillian, die ebenso reglos mit dem Blick auf ihre Truppen in Ruhehaltung wartete. Als Doles' erster Schritt auf die Stahlplattform hallte, nahm Majorin Castillian sofort Haltung an und rief laut: »3. Bataillon, Ju-yi!« Hundert Stiefel knallten mit einem einzigen scharfen Geräusch auf den Asphalt, als das Bataillon vor Doles in Hab-AchtStellung ging.
Drei lange Schritte brachten ihn zu Castillian, die sich umdrehte und zackig salutierte. Die Majorin war ebenso groß wie Doles, und er sah ihr in die Augen: blaue Augen mit kleinen türkisen Flecken, die seinem Blick ruhig standhielten.
Er erwiderte den Gruß und sagte: »Willkommen
auf Ambergrist, Majorin.«
»Danke, Brevet-Oberst Doles.«
Der neue Titel ließ Doles unbehaglich blinzeln. Treyhang Liao hatte
ihm erst an diesem Nachmittag persönlich die Papiere gebracht. Das
war keine vierzig Minuten her. Kein Nachschub, kein Kampfbefehl,
hatte Doles dabei zur Kenntnis genommen. Nur eine wertlose
Beförderung, um seine Geduld zu kaufen.
Er hatte Trey die Begegnung drei Wochen zuvor noch immer nicht
vergeben, auch wenn der Zwischenfall sich so hartnäckig in seinem
Gedächtnis festgesetzt hatte, daß ein Stück Wahrheit daran sein
mußte. Auf die Beförderung war Treyhangs beiläufige Erklärung
gefolgt, daß man das 3. Bataillon gerade aufgesetzt hatte und
Doles' Inspektion erwartete. Damit hatte er keine Zeit mehr gehabt,
über seine Wut oder die volle Bedeutung seines neuen Dienstgrads zu
spekulieren. Das einzige, was ihn jetzt noch interessierte, waren
diese kampfbereiten Truppen, möglicherweise mit genug Ausrüstung,
um beide Bataillone zu versorgen und in den Kampf zu
schicken.
Aber jetzt, hier auf der Plattform, bei der Inspektion der
Soldaten, die ihrerseits ihn begutachteten, brach die volle
Bedeutung seiner neuen Position über Doles herein. Jetzt habe ich die Verantwortung für die ganzen
Blackwind-Lanciers. Für jedes Stück Ausrüstung. Für jedes einzelne
Leben! Nicht nur für die Krieger, an deren Seite er die
Schande von Hustaing durchlitten hatte, die Leute, die ihm willig
in das Feuer des Feindes gefolgt wären, wenn sie dabei ein paar
Konföderationstruppen mit in den Tod nehmen konnten. Jetzt ruhte
auch das Bedürfnis anderer Mitglieder des Lancier-Regiments nach
Führung auf seinen Schultern. Das zwang ihn, die selbstmörderische
Haltung unter die Lupe zu nehmen, die er seit Tormano Liaos Tod
gehegt und gepflegt hatte, und unter kritischer Betrachtung erwies
sie sich als reichlich wertlos. So bin ich
doch nicht wirklich, oder?
Er zweifelte, daß er lange auf die Antwort würde warten
müssen.
Castillian nickte ihren Kriegern zu und deutete dann auf die vier
Helios-Mechs, die über der Versammlung
aufragten. »Alle frisch von Warlock«, stellte sie fest. »Und dank
Cassandra Allard-Liao haben wir außerdem noch zwei der brandneuen
KatapultVarianten der Konföderation.«
Sie warf das hellblonde Haar über eine Schulter und sah Doles
fragend an. »Wir müssen nur noch erfahren, wann wir sie
einsetzen.«
Jetzt, wollte Doles antworten.
Jetzt sofort. Aber er konnte dieser
inneren Stimme nicht trauen, bis er genau wußte, wessen Stimme das
war.
»Bringen Sie Ihre Krieger in die Unterkünfte, Majorin«, erklärte
er. »Und dann kommen Sie in der Kommandozentrale vorbei, und ich
bringe Sie auf den neuesten Stand.« Er wollte sich umdrehen, hielt
sich aber gerade noch rechtzeitig zurück. Wenn er Treyhang Liaos
Autorität anerkannte, die Herzogin Candace Liao ihm persönlich
übertragen hatte, war dies der Zeitpunkt, auch wenn es ihm
schwerfiel, die Worte auszusprechen. »Wir rücken aus, sobald wir
den Befehl dazu erhalten.«
Aufmarschgelände der Heimatmiliz, Hazlet,
Nashuar
Herzogtum St. Ives, St. Ives-Pakt
Nashuars Sonne war längst untergegangen, als Subcommander Maurice Fitzgerald ins Büro des Obersts gerufen wurde. Oberst Nevarr stand mit dem Rücken an seinen Schreibtisch gelehnt, die Arme geduldig vor der Brust verschränkt. Der großgewachsene, muskulöse, dabei aber nicht wuchtig wirkende Offizier mit dem störrischen weißblonden Haar und den hellblauen Augen hätte geradewegs aus einer nordischen Heldensaga entsprungen sein können. Jedenfalls eher als aus einem Rekrutierungsposter des St. Ives-Pakts.
Fitz' erster Gedanke war, wie Nevarr es immer noch schaffte, damit durchzukommen, keine Uniform zu tragen, selbst nachdem er den direkten Oberbefehl über die planetare Verteidigung übernommen hatte. Aber der einfache Schnitt der schwarzen, silbergesäumten Montur stand ihm hervorragend, und nach zwei Jahren konnte der junge MechKrieger sich Nevarr auch in keiner anderen Kleidung mehr vorstellen.
»Etwas spät für eine Stabsbesprechung, Oberst«,
begrüßte Fitz seinen Kommandeur.
Nevarr betrachtete ihn eine lange Minute schweigend, dann nickte
er. »Das wird ein Gespräch nur zwischen uns beiden«, stellte er
fest. Der Oberst sprach gewohnheitsmäßig knapp, mit leiser, etwas
heiserer Stimme. Es erinnerte Fitz an den Funkverkehr in einer
Kampfsituation, in der es darauf ankam, sich kurz und präzise
auszudrücken. »Manches bespricht man besser ungestört.«
Einen winzigen Augenblick lang machte Fitzgerald sich Sorgen, ihm
könnte eine Rüge für sein jüngstes Verhalten bevorstehen. Seit
seinem ergebnislosen Zweikampf mit dem Yu
Huang hatte er sich bemüht, den Gefechten, in die er
verwickelt war, eine moralische Dimension zurückzugeben. Am
gestrigen Tag erst hatte Fitzgeralds Lanze einer canopischen
Einheit Territorium überlassen, um nicht in unmittelbarer Nähe
einiger Bauernhöfe kämpfen zu müssen. Aber seine Besorgnis schwand
schnell wieder. Als die Canopier die
Bauernhöfe hinter sich gelassen hatten, haben wir sie zerfetzt.
Außerdem ist es noch nie Nevarrs Art gewesen, Rügen hinauszuzögern.
Hier geht es um etwas anderes. »Was zum Beispiel?« fragte er
neugierig.
»Das Überleben Nashuars«, erwiderte Nevarr mit einer Spur von
Ernst. Sein kühler Blick schwankte keine Sekunde.
Das konnte die Einleitung zu einer
ganzen Reihe von Diskussionen sein, von denen sich längst nicht
alle auf sicherem Grund bewegten. Eisige Finger krochen Fitzgeralds
Nacken und Kopfhaut hinauf. »Sie, äh...« Dieses Ratespiel war ihm
zuwider, aber Nevarr wollte offensichtlich seine Haltung zu einem
bestimmten Punkt herausfinden und wartete darauf, daß Fitz einen
Vorstoß machte. »Sie reden dabei nicht von einer Kapitulation vor
der Konföderation, oder?«
Nevarrs Miene blieb unverändert. »Und falls doch?«
Fitzgerald atmete heftig aus. Fast konnte man es einen lauten
Seufzer nennen, so fühlte er sich durch Nevarrs Frage in die Enge
getrieben. Nach kurzem Überlegen antwortete er: »Wenn Sie
meine Empfehlung hören wollen, Oberst:
Ich würde davon abraten. Und dabei spielt nicht zuletzt die
Tatsache eine Rolle, daß Präsidentin Liao den ausdrücklichen Befehl
erteilt hat, Nashuar nicht in die Hände der Konföderation fallen zu
lassen.«
»Das war, bevor die Konföderationskräfte St. Ives überfielen.«
Nevarr stieß sich vom Schreibtisch ab, griff sich einen der für
Besucher bereitstehenden Stühle und setzte sich verkehrt herum
darauf, die verschränkten Arme auf die Rückenlehne gestützt.
»Setzen Sie sich, Maurice.« Fitz nahm sich den anderen Stuhl und
nahm in bewußt steifer Haltung Platz, um sich nicht zu entspannt
auf dieses gefährliche Thema einzulassen. »Nashuar war nur wichtig,
um die Konföderation außerhalb des St.-Ives-Systems zu binden.
Davon abgesehen besitzt unsere Welt keinen intrinsischen
strategischen Wert. Und diese Aufgabe ist hinfällig
geworden.«
Fitz nickte vorsichtig. »Aber wenn Sie das der Präsidentin erklären
würden...«
Der Oberst nahm den Faden auf. »Herzogin Liao hat ihre eigenen
Sorgen - politische Sorgen. Sie könnte es sich niemals erlauben,
öffentlich PaktTerritorium an die Konföderation auszuhändigen.
Nicht, wenn sie die Verteidigung des Paktes aufrechterhalten
will.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie...«
»Ich sage nur«, unterbrach ihn Nevarr, der offenbar wußte, in
welche Richtung Fitz' Frage ging und keine Lust hatte, sie zu
beantworten, »daß irgendwer irgendwo die Verantwortung für die
Bevölkerung Nashuars übernehmen
muß.«
Fitzgerald hätte ihm nicht vollständiger zustimmen können.
Aber das ist keine Entscheidung, die leichthin
getroffen werden kann, auf die persönliche Neigung von zwei
Soldaten hin, selbst wenn einer von ihnen Nashuars militärischer
Koordinator ist. Außerdem standen einer Umsetzung noch
beachtliche Hindernisse im Weg. Fitz rang mit dem größten dieser
Hindernisse, bevor er sich geschlagen gab. »Es wird nicht gelingen.
Die Paktstreitkräfte würden Sie - uns - zu Verrätern erklären und
einfach jemand anderem den Befehl übergeben.« Er schüttelte den
Kopf. »Gleichgültig wie hoch der Preis für Nashuar ist, wir haben
die Konföderation zu lange im Patt gehalten, um jetzt ein Aufgeben
zu rechtfertigen.«
Nevarr nickte mit grimmigem Lächeln. Sein Blick wirkte beängstigend
wild. »Stimmt, aber was wäre mit einem Waffenstillstand?«
Ein Waffenstillstand? Fitz wippte vor
und zurück, während er es sich durch den Kopf gehen ließ. »Ein
neutraler Putsch?« fragte er in einem Versuch, das Konzept in Worte
zu fassen.
»Exakt.« Nevarr stand auf, trat hinter seinen Schreibtisch und
holte ein Holobild aus der Schublade, das er hinüber zu Fitzgerald
schob. »Erkennen Sie das wieder?«
Fitz sah nach unten. Und ob er das Bild erkannte. Um genau zu sein,
hätte er darauf gewettet, daß es aus dem Gefechts-ROM seines
Men Shen stammte. »Das ist der
Yu Huang, gegen den ich letzten Monat
gekämpft habe«, erklärte er. »Er gehört zu den Truppen, die den
Blackwind-Lanciers das Licht ausgeblasen haben.«
»Er gehört zur BefehlsKompanie der Nachtreiter«, fügte Nevarr
hinzu. »Das« - er beugte sich über den Schreibtisch und tippte mit
dem Zeigefinger auf den Yu Huang - »ist
der Mech von Oberst Amanda GahnSkeeng, der Regimentskommandeurin.«
Er machte eine Pause und gab Fitzgerald Gelegenheit, diese
Information zu verarbeiten. »Sie hat Sie abziehen lassen, Maurice.
Und das hätte sie nicht nötig gehabt. Das teilt uns etwas über sie
mit, das wir benutzen können.«
»Sie glauben tatsächlich, sie würde einem Waffenstillstand
zustimmen?« fragte Fitz, der Nevarr wirklich glauben
wollte.
Sein Kommandeur nickte. »Wenn ihr der Vorschlag auf die richtige
Weise gemacht wird, von der richtigen Person.« Er starrte
Fitzgerald bedeutungsschwer an.
Plötzlich war dessen Mund wie ausgetrocknet. Er schluckte hart.
»Von mir?« Nevarr nickte wieder. »Sie erwarten von mir, daß ich
allein in meinem Men Shen...«
»Nicht im Men Shen«, unterbrach Nevarr.
»Und bevor Sie fragen, auch nicht in Ihrem alten Totschläger. Erstens wäre das zu herausfordernd,
und zweitens kann ich nicht riskieren, einen BattleMech zu
verlieren, falls die Nachtreiter sich entscheiden anzugreifen, ohne
Sie zu Ende anzuhören, oder Sie anschließend
gefangennehmen.«
Fitzgerald schaffte es nicht, den Schock zu verbergen. »Sie machen
mir nichts vor, was, Oberst? Soll ich etwa zu Fuß
losmarschieren?«
Nevarr kam wieder um den Schreibtisch und setzte sich halb auf die
Vorderkante. »Ich habe Ihren alten J.
Edgar warten und einsatzbereit machen lassen. Wenn Sie
gezwungen sind, die Flucht zu ergreifen, haben Sie in dem
Schwebepanzer die beste Chance, es zurück zu schaffen.«
Mit einem fünfundzwanzig Tonnen schweren Luftkissenpanzer zu einem
Regiment BattleMechs. Ohne irgendeine Unterstützung. Ohne
irgendeine Garantie, wie man ihn aufnehmen würde. Und Fitz hatte
seit über einem Jahr nicht mehr an den Kontrollen des J. Edgar gesessen. Sowas nenne
ich eine echte Außenseiterwette. »Einverstanden«, erklärte
er, bevor er es sich selbst ausreden konnte.
Nevarr hat recht, dachte er, als er dem
Oberst die Hand schüttelte, um die Übereinkunft zu besiegeln.
Jemand muß die Verantwortung
übernehmen. Und wie bei den meisten Außenseiterwetten war
der potentielle Gewinn das Risiko wert.