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Palast des Himmels,
Zi-jin Cheng (Verbotene Stadt), Sian Kommunalität Sian,
Konföderation Capella
Die Erinnerung an seine Mutter plagte Sun-Tzu Liao, als er langsam in der Strategischen Kommandozentrale mehrere Stockwerke unter seinem Palast auf Sian auf und ab wanderte.
Seine seidene Amtsrobe knisterte leise bei jedem Schritt, aber das war über der Geräuschkulisse aus geflüsterten Unterhaltungen und gelegentlich hastigem Klappern von Tastaturen kaum wahrnehmbar. Der Raum war nur schwach beleuchtet, und seine Atmosphäre ließ kein Gefühl entspannter Arbeit aufkommen. Scheinwerfer an der Decke schleuderten Inseln von Licht um die einzelnen Konsolen und Tische, die alle daran sitzenden oder stehenden Offiziere isolierten. Hier gab es keine Techs, jeder einzelne Anwesende war ein Offizier vom Rang eines Saoshao oder höher. Vor noch gar nicht langer Zeit hatte dieser Rang noch Kapitän geheißen, aber inzwischen hatte Sun-Tzus Xin-Sheng-Programm auch die militärische Rangordnung der Konföderation erreicht und die bisherigen Bezeichnungen durch chinesische Titel ersetzt. Im Zentrum des Saals standen Talon Zahn und Ion Rush, die höchsten militärischen Berater des Kanzlers. Sie hatten ihrem Fürsten den Rücken zugekehrt und studierten die große Hologrammkarte.
Alles ordentlich, jedermann voll damit beschäftigt, einen Krieg zu führen. Mutter wäre so stolz, dachte Sun-Tzu bitter. Obwohl seit ihrem Tod zehn Jahre verstrichen waren, war Romano Liao derzeit regelmäßig in seinen Gedanken präsent und das war bereits seit Beginn des zweiten Jahres offener Kriegsführung gegen den St. Ives-Pakt so. Ihre geisterhafte Präsenz richtete über jede seiner Aktionen oder Entscheidungen, und er spürte viel zu oft ihr Lächeln.
Nach Romano Liaos Zustimmung hatte Sun-Tzu
keinerlei Verlangen.
Der Drang, seine Schritte zu beschleunigen, um Romanos Präsenz zu
entfliehen, war überwältigend. Aber Sun-Tzus tiefe Verachtung für
spirituellen Unsinn erlaubte ihm, die beunruhigenden Gedanken zu
erkennen und zu erklären. Alte Erinnerungen, beruhigte er sich.
Lebendige Erinnerungen, ausgelöst durch den Streß der drei Monate
seit der letzten Sternenbund-Konferenz. Er variierte seine Schritte
bewußt und blieb in zufälligen Abständen stehen, um über die
Schulter eines plötzlich nervös werdenden Offiziers die Daten einer
Konsole abzulesen.
Er spürte die Anspannung, die sein unerwarteter Besuch auslöste.
Sie schlug ihm von nahezu allen Anwesenden entgegen, und er las die
Bestätigung für sein Gefühl in den häufigen, ängstlichen und
unsicheren Blicken in seine Richtung. Die meisten hier waren alt
genug, sich an den Dienst unter seiner Mutter zu erinnern. Sie alle
wußten, daß ihr Wahnsinn sich an seine Schwester Kali vererbt
hatte, die in ihrem Irrsinn aufging und sich für die Reinkarnation
der hinduistischen Todesgöttin hielt, als die sie von ihrem Kult
von Thugee-Assassinen verehrt wurde. Und Sun-Tzu war klar, daß alle
in seiner Umgebung wachsam Ausschau nach den ersten Anzeichen einer
ähnlichen geistigen Verwirrung bei ihm hielten.
Fast hätte er gelacht. Er gestattete nur selten irgend jemandem,
hinter die schützenden Masken zu blicken, die er aufsetzte. Sich
vorzustellen, sie könnten ihm den Wahnsinn ansehen... Ja, darüber
hätte er beinahe lachen können, wenn
das nicht auch seine größte Angst gewesen wäre.
Sun-Tzu besaß kaum eine Erinnerung an seinen Großvater. Er
erinnerte sich an ihn als einen körperlich gebrechlichen und
geistig verkrüppelten Greis, den einstmals großen Maximilian Liao,
von Hanse Davion im 4. Nachfolgekrieg zerschlagen, so wie die Armee
seiner Vereinigten Sonnen die Konföderation Capella zerschlagen
hatten. Romano hatte ein in Trümmern liegendes Reich geerbt und die
Pflicht, ihm zum Überleben zu verhelfen. Aber die nahezu
vollständige Zerstörung der Konföderation und die Desertion ihrer
älteren Schwester Candace Liao, gefolgt von der Sezession der
gesamten Kommunalität St. Ives, hatte sie um den Verstand gebracht.
Ungebremster Verfolgungswahn und natürliche Skrupellosigkeit hatten
sie zu blutigen Säuberungen des Regierungsapparats, des Militärs
und selbst des Zivillebens gedrängt. Romano hatte ihre Nation mit
eiserner Faust regiert und das Volk durch Terror kontrolliert,
damit niemand auch nur auf den Gedanken kam, Candaces Beispiel zu
folgen und der Konföderation den Rücken zu kehren. Möglicherweise
hatte sie die Nation in dieser Krisenzeit dadurch gerettet, aber
Romanos Erbe verdunkelte Sun-Tzus Amtszeit und würde ihn
wahrscheinlich bis an sein Ende verfolgen.
Und was hast du anders gemacht? Das war
eine Frage, die sich Sun-Tzu regelmäßig selbst stellte, auch wenn
er in ihr häufig einen Anklang von Romanos eisiger Stimme vernahm.
Immer noch waren Gewalt, Einschüchterung und Intrigen alltäglich.
Auch Hinrichtungen und Attentate setzte er als Mittel ein, wenn ihm
das Ergebnis dienlich war... Er hatte Demona Aziz persönlich
erschossen, als sie versucht hatte, Blakes Wort gegen ihn
einzusetzen, und in jüngerer Zeit eine entsprechende Maßnahme
befohlen, um eine sich abzeichnende Krise in der Peripherie
abzuwenden. Und während meiner dreijährigen
Amtszeit als Erster Lord des Neuen Sternenbunds habe ich einen
Krieg angezettelt. Romanos Geist grinste, und er stieß das
Bild entschieden beiseite. Ich bin nicht meine
Mutter.
»Es ist also bestätigt«, erklärte Sun-Tzu mit gewollt tiefer
Stimme, die jedes Anzeichen von Unbehagen überdecken sollte. »Die
Regimentsspitze der 3. Reservekavallerie ist verloren?«
Ion Rush, Meister des Kriegerhauses Imarra, reagierte als erster.
»Bis auf den letzten Mann«, stellte er mit durch seine
Kehlkopfverletzung heiserer Stimme fest. Die Chirurgen hatten den
größten Teil des körperlichen Schadens behoben, den er bei der
Explosion erlitten hatte, die ihn im vorigen Jahr erfaßt hatte,
aber manches ging trotz allem noch über ihre Möglichkeiten der
Rekonstruktion. Natürlich ließ sich dafür anderes inzwischen noch
verbessern...
Rush wandte sich langsam und vorsichtig von der Karte ab, und
Sun-Tzu sah die Schultermuskeln des Hünen zittern und sich
verknoten, als bereiteten sie sich auf eine schwere Last vor.
Beeindruckend. »Die Blackwind-Lanciers haben die Reservekavallerie
ohne jede Unterstützung in Denbars Ho-Lu-Tiefland gestellt. Unsere
Leute haben die Bedrohung durch die Lanciers nicht ernst genug
genommen. «
Ein leichter Auftrag auf einer Welt in einem
Raumsektor, den ich angeblich kontrolliere. Zwei Bataillone
eines der neueren KonföderationsReservekavallerieregimenter hätten
zusammen mit Marshigamas Legionären mehr als ausreichen müssen, um
mit dem Widerstand der Blackwind-Lanciers fertig zu werden. Ihr
Scheitern erschien Sun-Tzu als einer der Punkte, an dem die
Rückeroberung des Paktes ihm zu entgleiten drohte.
Dieses Problem zumindest stand kurz vor
der Beseitigung, wenn Zahn Smithson erst zurück zu ihrer Einheit
schaffte. Nur drei Menschen auf Sian wußten, daß Tricia Smithson
eine Liao-Agentin war. Einer aus einer Reihe capellanischer
Maulwürfe, deren Einschleusung in den Pakt Sun-Tzu vor Jahren
befohlen hatte. Und das wußten nur zwei
Menschen auf der Zentralwelt. Smithson würde die Lanciers
neutralisieren, so wie sie die Einheit als Auslöser für den Krieg
beschafft hatte, als das nötig geworden war.
Sang-Jiang-jun Talon Zahn, Senior-General des Capellanischen Heers,
hatte sich noch nicht umgedreht. Er warf dem Imarra-Meister einen
kurzen Blick zu und nickte als Zustimmung zu dessen Kommentar
fahrig, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Hologrammkarte
konzentrierte. Nach ein paar Sekunden fügte er hinzu: »Sang-shao
Oravey war ungeeignet für diese Position. Eine Schande, daß er uns
elf gute Krieger gekostet hat. «
Der Kanzler überspielte seine Verärgerung, indem er sorgfältig eine
Falte im Ärmel seiner hellbraunen Seidenrobe glättete. Nur die
Freiheiten, die Sun-Tzu Zahn gewohnheitsmäßig zugestand,
verzögerten eine scharfe Antwort auf die achtlose Haltung des
Generals. So jung Zahn auch war - mit seinen sechsunddreißig Jahren
nämlich nur sechs Jahre älter als der Kanzler -, besaß der Mann
doch den schärfsten strategischen Blick, den Sun-Tzu je erlebt
hatte. Zahn war dem Kanzler aufgefallen, weil er sagte, was er
dachte, ungeachtet dessen, was er annahm, daß SunTzu hören
wollte. Sun-Tzu konnte kein Interesse
daran haben, diesen Zug seines Hauptgenerals zu unterdrücken.
Trotzdem konnte er nicht zulassen, daß die Privilegien, die er Zahn
zugestand, die anderen anwesenden Offiziere infizierte.
»Ich erinnere Sie daran, Jiang-jun Zahn, daß Peter Oravey
capellanischer Bürger war.« Sun-Tzus Ton war neutral, nur die
Verkürzung der Rangbezeichnung ließ seine Mißbilligung erkennen.
»Das macht seinen Tod auf jeden Fall zu einem Verlust.« Bürger der
Konföderation nahmen ihre Bürgerrechte sehr ernst, weil sie sie
nicht automatisch erhielten, sondern sich dieses Privileg erst
verdienen mußten.
Nun drehte Zahn sich von der holographischen Karte zu seinem
Fürsten um. »Duì-bu-qui, mein Kanzler«, entschuldigte er sich und
nickte zustimmend. »Ich wollte keineswegs etwas anderes andeuten.
Was ich eigentlich sagen wollte, war, daß es mein Fehler war, ihn
nicht von diesem Posten abzuziehen. Er hat Eure Xin-Sheng-Bewegung
und deren Ruf nach einer Revitalisierung unserer nationalen
Anstrengungen nicht wirklich verstanden und daher seinen
›hoffnungslosen Kampf‹ gesucht. «
»Dumm«, stimmte Sun-Tzu ruhig zu und hielt seine Wut im Zaum. Das
Syndrom des ›hoffnungslosen Kampfes‹ war ein weiteres Erbe aus der
Regierungszeit seiner Mutter. Seine Essenz bestand darin, daß ein
capellanischer Offizier in eine selbstmörderische Schlacht zog, um
ein Märtyrer der Nation zu werden, statt zu riskieren, eine
Niederlage oder, was unter Umständen noch schlimmer sein konnte,
einen knappen Sieg zu überleben. In jenen Jahren hatten häufig
Kriegsgericht und Erschießungskommando auf jeden gewartet, der in
seiner Pflicht dem Staat gegenüber versagt und es nicht geschafft
hatte, einen deutlichen Sieg zu erringen. Das Xin-Sheng-Programm
war während Sun-Tzus kurzer Amtszeit als Erster Lord entstanden,
als er jedes Quentchen Prestige und Macht aus diesem Sternenbundamt
gezogen hatte, das er nur herausziehen konnte. Die Neugeburt, so die wörtliche Übersetzung, war eine
nationalistische Anstrengung, alle Aspekte der Konföderation
Capella zu stärken und Probleme wie den ›hoffnungslosen Kampf‹ zu
beseitigen. Sun-Tzu hatte bessere Ergebnisse erhofft - und
erwartet.
»Und wie genau ist der Gesamtzustand meiner Streitkräfte?« fragte
er.
»Ziemlich solide«, kam Zahns schnelle Antwort, und seine dunklen
Augen funkelten mit plötzlicher Lebendigkeit. Nicht einmal der
ranghöchste General der Konföderation war immun gegen die Freude,
seinem Fürsten gute Nachrichten überbringen zu können, stellte
Sun-Tzu fest. »Die Prestigeeinheiten wie die Kriegerhäuser gehen in
ihren Anstrengungen für Euch bis an die Grenzen ihrer
Möglichkeiten. Auch unsere langetablierten Hilfsregimenter leisten
gute Arbeit, besonders in den Chaos-Marken und gegen St. Ives.
Soweit es noch Probleme gibt, sind sie auf Einheiten wie die
Konföderations-Reservekavallerie begrenzt, die zu lange nur
Garnisonsaufgaben erledigt haben und kaum Gelegenheit hatten, ihre
Fähigkeiten zu trainieren.«
Ion Rush nickte zustimmend. »Und die größte Verbesserung haben wir
bei den Söldnereinheiten gesehen, die Euer Angebot der
capellanischen Bürgerrechte angenommen haben und reguläre
Linienregimenter geworden sind.« Es schien fast, als wolle der
sauertöpfige alte Krieger lächeln, so zuckten seine Mundwinkel.
»Little Richards Panzerbrigade ist disziplinierter als je zuvor, um
zu beweisen, daß sie dieses Privileg ebenso verdienen wie die
Tau-CetiRanger.« Das Zucken stoppte. »Natürlich würden sie das
Angebot ablehnen, wenn es ihnen gemacht würde.«
Der Kanzler merkte sich die verhüllte Warnung. Nicht, daß er je
geplant gehabt hätte, der Brigade die Bürgerrechte anzubieten, aber
das Wissen, daß sie für den Wettstreit mit den Rangern lebten, ließ
sich auf andere Weise ausnutzen. »Was ist mit McCarron's Armored
Cavalry?« fragte er nach der eindrucksvollen, fünf Regimenter
starken Söldnereinheit, die dieses Angebot als erste erhalten und
angenommen hatte.
»Drei Regimenter sichern unsere hinteren Linien«, antwortete Zahn
mit einer Geste zur Karte. »Sie stellen derzeit den Großteil meiner
strategischen Reserve an der St. Ives-Front. Ein Regiment hält
Brighton in der Xin-Sheng-Kommunalität. Und die Nachtreiter...« Er
machte eine dramatische Pause, »... stehen auf Nashuar.«
Sun-Tzu trat vor, um sich die große Hologrammkarte anzusehen. In
der Anzeige erstreckte sich der St. Ives-Pakt vom Boden bis zu
einer Höhe von fast zwei Metern. Seine kern- und randwärtigen
Ausläufer waren jetzt durch die Konföderationspräsenz auf Denbar
und Indicass voneinander getrennt. In die Karte einprogrammierte
grüne Pfeile kennzeichneten die beiden Ausläufer als die ›St.
Ives‹- und die ›Teng‹-Front, benannt nach den Welten am äußersten
Ende beider Gebiete. Die Konföderationssysteme entlang der
spinwärtigen Grenze des Pakts leuchteten dunkelgrün, die sieben
besetzten Paktsysteme der sogenannten Xin-Sheng-Kommunalität
hellgrün. Einzelne Systeme wie das von Denbar wechselten
gelegentlich in einem kurzen Flackern von Hellgrün zu Rot, um
bewaffneten Widerstand gegen die Rückkehr der Konföderation
anzuzeigen. Die elf noch unbesetzten Systeme des Pakts glühten in
rotem Licht.
»Die Nachtreiter?« griff Sun-Tzu Zahns Andeutung auf.
»Sie leisten auf Nashuar eine hundsmiserable Arbeit«, stellte der
General nüchtern fest. »Die höchste Verlustrate unter der
Zivilbevölkerung all unserer Einheiten. Sie behandeln friedlichen
zivilen Ungehorsam wie militärischen Widerstand.« Sein ruhiger
Blick wurde einen Moment lang unsicher. »Die Todeswache ist von
drei Minuten in der vorigen Woche auf zweieinhalb
gesunken.«
Die Todeswache war ein Begriff, den Sun-Tzu von seinem Vater Tsen
Shang gelernt und seinerseits Talon Zahn erklärt hatte. Als Chef
des MaskirovkaGeheimdienstes unter Romano war Shang für die
Durchführung zahlreicher ihrer Säuberungsaktionen verantwortlich
gewesen. »Sie waren im ersten Jahr ihrer offiziellen Amtszeit so schnell und hart«, hatte er
bei einer der seltenen Gelegenheiten erklärt, zu denen er mit
seinem Sohn ein Glas Pflaumenwein trank, »daß die Todeswache auf
acht Minuten sank. Alle acht Minuten starb ein capellanischer
Bürger von der Hand der Finte. Wo es uns nicht gelang, das Reich
vor Verrat von außen zu beschützen, waren wir gegen unserer eigenes
Volk von skrupelloser Effizienz.«
In diesem Krieg stirbt alle zweieinhalb
Minuten ein capellanischer Bürger, wenn man die Bevölkerung des
Paktes mitzählt, die ebenfalls Capellaner sind, wenn auch noch
nicht Bürger der Konföderation. Sun-Tzu konnte daran keinen
Gefallen finden, besonders nicht, nachdem über fünfundneunzig
Prozent der Opfer Zivilisten waren und all seine Bemühungen, dem
Gemetzel ein Ende zu machen, ohne Erfolg blieben. In der vorigen
Woche waren es noch drei Minuten gewesen.
Was sind schon dreißig Sekunden? fragte
Romanos Geist.
Fast fünfunddreißigtausend capellanische
Bürger, erwiderte Sun-Tzu. Wenn er einen Unterschied
zwischen seiner Herrschaft und der Romanos etablieren wollte, mußte
es in Bereichen wie diesem geschehen. Während seine Mutter keinen
weiteren Gedanken daran verschwendet hätte, so viele ihrer
Untertanen zu opfern, nahm Sun-Tzu ihren Tod zumindest zur Kenntnis
und versuchte sicherzustellen, daß der Gewinn ihr Opfer wert
war.
»Man kann ihnen kaum vorwerfen, daß sie etwas übereifrig sind, wenn
es darum geht, sich zu schützen«, meinte Ion Rush leise.
Zahn nickte, aber Sun-Tzu war anderer Ansicht. Die Nachtreiter
waren ein Jahr zuvor eingesetzt worden, um den Widerstand auf Wei
in den Umstrittenen Territorien zu brechen, und dort mit Nervengas
empfangen worden, das die rebellische planetare Regierung aus einem
ABC-Endlager geborgen hatte. Ein Bataillon Elite-Krieger war in
wenigen Minuten gefallen, ohne einen Schuß abzugeben. Und es war
kein angenehmer Tod gewesen, den Holobildern nach zu schließen, die
von der Maskirovka aufgenommen worden waren. Sun-Tzu verstand das
mörderische Benehmen der Nachtreiter, aber er dachte nicht daran,
es zu dulden, wo es capellanische Leben kostete.
»Schicken Sie Jiang-jun Baxter noch eine Nachricht mit meiner
Unterschrift.« Er bezweifelte zwar, daß es etwas helfen würde, aber
mit einem gezielten Befehl, der die Nachtreiter von der Front
abzog, hätte er riskiert, die Cavalry gegen sich aufzubringen.
»Können wir ein zweites Cavalry-Regiment nach Nashuar verlegen, um
bei der Befriedung des Planeten zu helfen?«
Zahn und Rush schüttelten beide den Kopf, aber es war Zahn, der die
Frage aufnahm. »Das würde unser Logistiknetz gefährden. Wir sind so
schon an der Grenze seiner Möglichkeiten, weil wir in zu vielen
Richtungen aktiv sind.«
Was eine verhüllte Kritik an meiner
Entscheidung darstellt, keine Truppen aus den Chaos-Marken
abzuziehen. Im Tumult der gemeinsamen Marik-LiaoOffensive
3057 hatten über fünfzig ehemalige capellanische Systeme das Joch
des Vereinigten Commonwealth abgeschüttelt. Die meisten dieser
Welten hatten sich ihres capellanischen Erbes besonnen und waren
ohne großen Widerstand in die Konföderation heimgekehrt. Aber ein
großer Raumsektor in der Nähe des Solsystems widersetzte sich der
Wiedereingliederung in die Konföderation Capella und hatte sich von
allen Großen Häusern unabhängig erklärt. Die Bemühungen, sie
zurückzuholen, zehrten an den für den St. Ives-Konflikt verfügbaren
Kräften.
Aber das war Sun-Tzu egal. Es waren capellanische Systeme, und sie
würden heim in sein Reich kommen. Wir ziehen
uns nicht zurück. Er wollte frustriert um sich schlagen,
gestattete sich aber nur einen Hauch von Verärgerung im Tonfall
seiner Antwort. »Ich besorge Ihnen weitere Truppen«, versprach er
mit einem harten, starren Blick aus seinen jadegrünen
Augen.
Falls Talon Zahn die Verärgerung seines Fürsten bemerkte, ließ er
sich davon nicht beeindrucken. »Die brauche ich auch. Die Ankunft
von Sternenbund-Truppen gibt dem Pakt eine größere taktische
Freiheit, als mir lieb ist.« Er strich mit einer Hand durch die
Karte, entlang der Grenze zwischen der Konföderation und dem St.
Ives-Pakt. Als er weitersprach, klang seine Stimme besorgt, dabei
aber doch fest. »Das Konzept der ›Front‹ ist in einem
interstellaren Konflikt relativ abstrakt, mein Kanzler.
Sprungschiffe können die besetzten Systeme zu leicht umgehen und
ins Territorium der Konföderation eindringen. Ich habe keinen
Bedarf an Paktregimentern, die sich die Anstrengungen Eures Cousins
Kai zum Vorbild nehmen. Er macht uns schon genug
Schwierigkeiten.«
»Die meisten Nachkommen Candaces sind ein Problem«, stellte Sun-Tzu
fest. Und Kai ist der schlimmste von allen.« Er durchschaute Zahns
Versuch, das gefährliche Thema Chaos-Marken fallen zu lassen, und
trotzdem seine Botschaft an den Mann zu bringen. Der Gedanke an
seine Vettern und Kusinen ließ Sun-Tzu einsehen, daß der Mann recht
hatte. Kuan Yin und ihre humanitären Bemühungen in der Gefechtszone
kamen Sun-Tzus Anstrengungen in diesem Bereich regelmäßig zuvor.
Und Cassandras Guerillafeldzug bremste seinen Vormarsch an der
Teng-Front und sorgte sogar gelegentlich für kleinere
Rückschläge.
Kai Allard-Liao war der älteste Sohn seiner Tante Candace und
Thronerbe des Pakts. Außerdem war er einer der gefährlichsten
MechKrieger, die es in der Inneren Sphäre je gegeben hatte, und
seine 1. St. Ives-Lanciers drohten,, die ganze St. Ives-Front zum
Zusammenbruch zu bringen. Nachdem Sternenbund- und
ComGuard-Einheiten im Paktgebiet eingetroffen waren, um die
nachlassenden Abwehrkräfte zu verstärken, war Kai in die Offensive
gegangen und hatte seine Lanciers über die Grenze in den
capellanischen Raum geführt. Seit zwei Monaten war er unterwegs und
griff die Nachschubinfrastruktur an, von der Sun-Tzus Militär
abhängig war. Sein letzter Schlag gegen die Necromo-Raumwerften
hatte der Konföderation bis zur Reparatur die Möglichkeit zur
Produktion oder Instandsetzung zahlreicher Klassen militärischer
Landungsschiffe genommen, die von entscheidender Bedeutung für das
Absetzen von Bodentruppen und BattleMechs auf einer
Planetenoberfläche waren. Im Grunde hatte er eine dritte Front des
St. Ives-Konflikts eröffnet, die ›Kai Allard-Liao‹Front. Und da
niemand vorhersagen konnte, wo er als nächstes zuschlagen würde,
zwang er Sun-Tzu, gute Truppen in dem Bemühen zu binden, seine
Angriffe zu begrenzen.
So viele Gegner, und alle sind sie
Liao. »Und was ist mit meinem Onkel?« fragte er. Tormano
Liao war vor dem Ausbruch des 4. Nachfolgekriegs von Maximilian
verstoßen worden. Seine von Davion unterstützte Bewegung Freies
Capella war seither zu einem Dorn im Fleisch der Konföderation
geworden und hatte erst gegen Romano und dann gegen SunTzu
operiert. Kai hatte sie ein paar Jahre lang übernommen und als
humanitäre Hilfsorganisation geführt, während Tormano sich Katrina
Steiner-Davion als persönlicher Adjutant angedient hatte. Nach der
Sternenbund-Konferenz hatte Tormano sich aus Katrinas Diensten
beurlauben lassen. Das versprach Ärger.
»Wie wir es bereits vermutet haben«, erwiderte Ion Rush. »Die
Maskirovka bestätigt, daß das militärische Wiederauftauchen der
Bewegung Freies Capella seine Arbeit war. Sie ist hauptsächlich im
eskalierenden Konflikt in Tikonov aktiv, wahrscheinlich als Folge
einer Übereinkunft mit Katrina, um eine offene Rebellion
abzuwehren.«
Zahn nickte. »Ein Stellvertreterkrieg«, stellte er mit zu einem
Strich zusammengepreßten Lippen fest. »Die von uns unterstützten
Kräfte des Freien Tikonov gegen einen Großteil von Freies
Capella.«
Und auf beiden Seiten fallen nur
Capellaner, erkannte Sun-Tzu. Ja, das
ist Katrinas Stil. Auch Tikonov war eine ehemalige
capellanische Kommunalität, die im 4. Nachfolgekrieg abgefallen und
von den Steiner-Davions unterworfen worden war, statt als
unabhängiger Staat weiterzuexistieren. Tikonov war SunTzus
langfristiges Spiel gegen Katrina, aber Tormanos Einmischung dort
und im Pakt verlangten eine sofortige Reaktion. Mich täuschst du nicht, Onkel. Tormano waren die
Unabhängigkeit des St. Ives-Paktes oder die Rebellion Tikonovs
gleichgültig. Er will den Thron des Himmels
besteigen, und das ist sein Versuch, sich die Legitimation dafür zu
verschaffen.
Sun-Tzu war allerdings noch nicht bereit, den Thron
aufzugeben.
Aber wie sollte er mit ihm fertig werden? Wie konnte er mit ihnen
allen fertig werden?
Romano flüsterte ihm die Antwort ein, und SunTzu zuckte sichtlich
zusammen.
Töte sie, kam die Antwort. Brutal und
offen, so wie Romano es gewesen war. Er schüttelte den Kopf, dann
bemerkte er den fragenden Blick Ion Rushs und Talon Zahns. Die
beiden hatten seinen Moment der Schwäche offenbar bemerkt, und das
verlangte eine Antwort.
»Ich habe da ein paar Ideen«, erklärte er langsam und täuschte vor,
sein sichtbares Erschrecken sei das äußere Anzeichen eines
Gedankenblitzes gewesen. Er lächelte mit hartem, grausamem Blick,
weil er wußte, daß es von ihm erwartet wurde. »Halten Sie mich auf
dem laufenden«, befahl er und drehte sich zum Gehen.
»Habt Ihr in der Zwischenzeit noch einen Wunsch?« fragte Zahn und
unterbrach den Abgang des Kanzlers.
Sun-Tzu war sich nicht sicher, ob sein General nur effizient wie
üblich war oder etwa herauszufinden versuchte, ob er log. Er warf
ihm einen eisigen Blick zu. »Ein paar handfeste militärische Siege
wären nett«, stellte er kühl fest. In der
Zwischenzeit kümmere ich mich um meine Familie.
Wie? fragte ihn seine Mutter aus den dunklen Abgründen
seines Geistes.
Ich bin mir nicht sicher, erwiderte er.
Aber es muß einen Weg geben.
Zahns dunkle Augen blinzelten, aber davon abgesehen ließ er sich
keinerlei Unbehagen anmerken. »Dui, mein Kanzler.« Natürlich.
Sun-Tzu erwiderte Talon Zahns Verbeugung mit einem kurzen Nicken,
dann drehte er sich um und verließ die Strategische
Kommandozentrale. Romanos Geist folgte ihm.