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Palast des Himmels,
Zi-jin Cheng (Verbotene Stadt), Sian Kommunalität Sian, Konföderation Capella

25. Februar 3062

Die Erinnerung an seine Mutter plagte Sun-Tzu Liao, als er langsam in der Strategischen Kommandozentrale mehrere Stockwerke unter seinem Palast auf Sian auf und ab wanderte.

Seine seidene Amtsrobe knisterte leise bei jedem Schritt, aber das war über der Geräuschkulisse aus geflüsterten Unterhaltungen und gelegentlich hastigem Klappern von Tastaturen kaum wahrnehmbar. Der Raum war nur schwach beleuchtet, und seine Atmosphäre ließ kein Gefühl entspannter Arbeit aufkommen. Scheinwerfer an der Decke schleuderten Inseln von Licht um die einzelnen Konsolen und Tische, die alle daran sitzenden oder stehenden Offiziere isolierten. Hier gab es keine Techs, jeder einzelne Anwesende war ein Offizier vom Rang eines Saoshao oder höher. Vor noch gar nicht langer Zeit hatte dieser Rang noch Kapitän geheißen, aber inzwischen hatte Sun-Tzus Xin-Sheng-Programm auch die militärische Rangordnung der Konföderation erreicht und die bisherigen Bezeichnungen durch chinesische Titel ersetzt. Im Zentrum des Saals standen Talon Zahn und Ion Rush, die höchsten militärischen Berater des Kanzlers. Sie hatten ihrem Fürsten den Rücken zugekehrt und studierten die große Hologrammkarte.

Alles ordentlich, jedermann voll damit beschäftigt, einen Krieg zu führen. Mutter wäre so stolz, dachte Sun-Tzu bitter. Obwohl seit ihrem Tod zehn Jahre verstrichen waren, war Romano Liao derzeit regelmäßig in seinen Gedanken präsent und das war bereits seit Beginn des zweiten Jahres offener Kriegsführung gegen den St. Ives-Pakt so. Ihre geisterhafte Präsenz richtete über jede seiner Aktionen oder Entscheidungen, und er spürte viel zu oft ihr Lächeln.

Nach Romano Liaos Zustimmung hatte Sun-Tzu keinerlei Verlangen.
Der Drang, seine Schritte zu beschleunigen, um Romanos Präsenz zu entfliehen, war überwältigend. Aber Sun-Tzus tiefe Verachtung für spirituellen Unsinn erlaubte ihm, die beunruhigenden Gedanken zu erkennen und zu erklären. Alte Erinnerungen, beruhigte er sich. Lebendige Erinnerungen, ausgelöst durch den Streß der drei Monate seit der letzten Sternenbund-Konferenz. Er variierte seine Schritte bewußt und blieb in zufälligen Abständen stehen, um über die Schulter eines plötzlich nervös werdenden Offiziers die Daten einer Konsole abzulesen.
Er spürte die Anspannung, die sein unerwarteter Besuch auslöste. Sie schlug ihm von nahezu allen Anwesenden entgegen, und er las die Bestätigung für sein Gefühl in den häufigen, ängstlichen und unsicheren Blicken in seine Richtung. Die meisten hier waren alt genug, sich an den Dienst unter seiner Mutter zu erinnern. Sie alle wußten, daß ihr Wahnsinn sich an seine Schwester Kali vererbt hatte, die in ihrem Irrsinn aufging und sich für die Reinkarnation der hinduistischen Todesgöttin hielt, als die sie von ihrem Kult von Thugee-Assassinen verehrt wurde. Und Sun-Tzu war klar, daß alle in seiner Umgebung wachsam Ausschau nach den ersten Anzeichen einer ähnlichen geistigen Verwirrung bei ihm hielten.
Fast hätte er gelacht. Er gestattete nur selten irgend jemandem, hinter die schützenden Masken zu blicken, die er aufsetzte. Sich vorzustellen, sie könnten ihm den Wahnsinn ansehen... Ja, darüber hätte er beinahe lachen können, wenn das nicht auch seine größte Angst gewesen wäre.
Sun-Tzu besaß kaum eine Erinnerung an seinen Großvater. Er erinnerte sich an ihn als einen körperlich gebrechlichen und geistig verkrüppelten Greis, den einstmals großen Maximilian Liao, von Hanse Davion im 4. Nachfolgekrieg zerschlagen, so wie die Armee seiner Vereinigten Sonnen die Konföderation Capella zerschlagen hatten. Romano hatte ein in Trümmern liegendes Reich geerbt und die Pflicht, ihm zum Überleben zu verhelfen. Aber die nahezu vollständige Zerstörung der Konföderation und die Desertion ihrer älteren Schwester Candace Liao, gefolgt von der Sezession der gesamten Kommunalität St. Ives, hatte sie um den Verstand gebracht. Ungebremster Verfolgungswahn und natürliche Skrupellosigkeit hatten sie zu blutigen Säuberungen des Regierungsapparats, des Militärs und selbst des Zivillebens gedrängt. Romano hatte ihre Nation mit eiserner Faust regiert und das Volk durch Terror kontrolliert, damit niemand auch nur auf den Gedanken kam, Candaces Beispiel zu folgen und der Konföderation den Rücken zu kehren. Möglicherweise hatte sie die Nation in dieser Krisenzeit dadurch gerettet, aber Romanos Erbe verdunkelte Sun-Tzus Amtszeit und würde ihn wahrscheinlich bis an sein Ende verfolgen.
Und was hast du anders gemacht? Das war eine Frage, die sich Sun-Tzu regelmäßig selbst stellte, auch wenn er in ihr häufig einen Anklang von Romanos eisiger Stimme vernahm. Immer noch waren Gewalt, Einschüchterung und Intrigen alltäglich. Auch Hinrichtungen und Attentate setzte er als Mittel ein, wenn ihm das Ergebnis dienlich war... Er hatte Demona Aziz persönlich erschossen, als sie versucht hatte, Blakes Wort gegen ihn einzusetzen, und in jüngerer Zeit eine entsprechende Maßnahme befohlen, um eine sich abzeichnende Krise in der Peripherie abzuwenden. Und während meiner dreijährigen Amtszeit als Erster Lord des Neuen Sternenbunds habe ich einen Krieg angezettelt. Romanos Geist grinste, und er stieß das Bild entschieden beiseite. Ich bin nicht meine Mutter.
»Es ist also bestätigt«, erklärte Sun-Tzu mit gewollt tiefer Stimme, die jedes Anzeichen von Unbehagen überdecken sollte. »Die Regimentsspitze der 3. Reservekavallerie ist verloren?«
Ion Rush, Meister des Kriegerhauses Imarra, reagierte als erster. »Bis auf den letzten Mann«, stellte er mit durch seine Kehlkopfverletzung heiserer Stimme fest. Die Chirurgen hatten den größten Teil des körperlichen Schadens behoben, den er bei der Explosion erlitten hatte, die ihn im vorigen Jahr erfaßt hatte, aber manches ging trotz allem noch über ihre Möglichkeiten der Rekonstruktion. Natürlich ließ sich dafür anderes inzwischen noch verbessern...
Rush wandte sich langsam und vorsichtig von der Karte ab, und Sun-Tzu sah die Schultermuskeln des Hünen zittern und sich verknoten, als bereiteten sie sich auf eine schwere Last vor. Beeindruckend. »Die Blackwind-Lanciers haben die Reservekavallerie ohne jede Unterstützung in Denbars Ho-Lu-Tiefland gestellt. Unsere Leute haben die Bedrohung durch die Lanciers nicht ernst genug genommen. «
Ein leichter Auftrag auf einer Welt in einem Raumsektor, den ich angeblich kontrolliere. Zwei Bataillone eines der neueren KonföderationsReservekavallerieregimenter hätten zusammen mit Marshigamas Legionären mehr als ausreichen müssen, um mit dem Widerstand der Blackwind-Lanciers fertig zu werden. Ihr Scheitern erschien Sun-Tzu als einer der Punkte, an dem die Rückeroberung des Paktes ihm zu entgleiten drohte.
Dieses Problem zumindest stand kurz vor der Beseitigung, wenn Zahn Smithson erst zurück zu ihrer Einheit schaffte. Nur drei Menschen auf Sian wußten, daß Tricia Smithson eine Liao-Agentin war. Einer aus einer Reihe capellanischer Maulwürfe, deren Einschleusung in den Pakt Sun-Tzu vor Jahren befohlen hatte. Und das wußten nur zwei Menschen auf der Zentralwelt. Smithson würde die Lanciers neutralisieren, so wie sie die Einheit als Auslöser für den Krieg beschafft hatte, als das nötig geworden war.
Sang-Jiang-jun Talon Zahn, Senior-General des Capellanischen Heers, hatte sich noch nicht umgedreht. Er warf dem Imarra-Meister einen kurzen Blick zu und nickte als Zustimmung zu dessen Kommentar fahrig, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Hologrammkarte konzentrierte. Nach ein paar Sekunden fügte er hinzu: »Sang-shao Oravey war ungeeignet für diese Position. Eine Schande, daß er uns elf gute Krieger gekostet hat. «
Der Kanzler überspielte seine Verärgerung, indem er sorgfältig eine Falte im Ärmel seiner hellbraunen Seidenrobe glättete. Nur die Freiheiten, die Sun-Tzu Zahn gewohnheitsmäßig zugestand, verzögerten eine scharfe Antwort auf die achtlose Haltung des Generals. So jung Zahn auch war - mit seinen sechsunddreißig Jahren nämlich nur sechs Jahre älter als der Kanzler -, besaß der Mann doch den schärfsten strategischen Blick, den Sun-Tzu je erlebt hatte. Zahn war dem Kanzler aufgefallen, weil er sagte, was er dachte, ungeachtet dessen, was er annahm, daß SunTzu hören wollte. Sun-Tzu konnte kein Interesse daran haben, diesen Zug seines Hauptgenerals zu unterdrücken. Trotzdem konnte er nicht zulassen, daß die Privilegien, die er Zahn zugestand, die anderen anwesenden Offiziere infizierte.
»Ich erinnere Sie daran, Jiang-jun Zahn, daß Peter Oravey capellanischer Bürger war.« Sun-Tzus Ton war neutral, nur die Verkürzung der Rangbezeichnung ließ seine Mißbilligung erkennen. »Das macht seinen Tod auf jeden Fall zu einem Verlust.« Bürger der Konföderation nahmen ihre Bürgerrechte sehr ernst, weil sie sie nicht automatisch erhielten, sondern sich dieses Privileg erst verdienen mußten.
Nun drehte Zahn sich von der holographischen Karte zu seinem Fürsten um. »Duì-bu-qui, mein Kanzler«, entschuldigte er sich und nickte zustimmend. »Ich wollte keineswegs etwas anderes andeuten. Was ich eigentlich sagen wollte, war, daß es mein Fehler war, ihn nicht von diesem Posten abzuziehen. Er hat Eure Xin-Sheng-Bewegung und deren Ruf nach einer Revitalisierung unserer nationalen Anstrengungen nicht wirklich verstanden und daher seinen ›hoffnungslosen Kampf‹ gesucht. «
»Dumm«, stimmte Sun-Tzu ruhig zu und hielt seine Wut im Zaum. Das Syndrom des ›hoffnungslosen Kampfes‹ war ein weiteres Erbe aus der Regierungszeit seiner Mutter. Seine Essenz bestand darin, daß ein capellanischer Offizier in eine selbstmörderische Schlacht zog, um ein Märtyrer der Nation zu werden, statt zu riskieren, eine Niederlage oder, was unter Umständen noch schlimmer sein konnte, einen knappen Sieg zu überleben. In jenen Jahren hatten häufig Kriegsgericht und Erschießungskommando auf jeden gewartet, der in seiner Pflicht dem Staat gegenüber versagt und es nicht geschafft hatte, einen deutlichen Sieg zu erringen. Das Xin-Sheng-Programm war während Sun-Tzus kurzer Amtszeit als Erster Lord entstanden, als er jedes Quentchen Prestige und Macht aus diesem Sternenbundamt gezogen hatte, das er nur herausziehen konnte. Die Neugeburt, so die wörtliche Übersetzung, war eine nationalistische Anstrengung, alle Aspekte der Konföderation Capella zu stärken und Probleme wie den ›hoffnungslosen Kampf‹ zu beseitigen. Sun-Tzu hatte bessere Ergebnisse erhofft - und erwartet.
»Und wie genau ist der Gesamtzustand meiner Streitkräfte?« fragte er.
»Ziemlich solide«, kam Zahns schnelle Antwort, und seine dunklen Augen funkelten mit plötzlicher Lebendigkeit. Nicht einmal der ranghöchste General der Konföderation war immun gegen die Freude, seinem Fürsten gute Nachrichten überbringen zu können, stellte Sun-Tzu fest. »Die Prestigeeinheiten wie die Kriegerhäuser gehen in ihren Anstrengungen für Euch bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Auch unsere langetablierten Hilfsregimenter leisten gute Arbeit, besonders in den Chaos-Marken und gegen St. Ives. Soweit es noch Probleme gibt, sind sie auf Einheiten wie die Konföderations-Reservekavallerie begrenzt, die zu lange nur Garnisonsaufgaben erledigt haben und kaum Gelegenheit hatten, ihre Fähigkeiten zu trainieren.«
Ion Rush nickte zustimmend. »Und die größte Verbesserung haben wir bei den Söldnereinheiten gesehen, die Euer Angebot der capellanischen Bürgerrechte angenommen haben und reguläre Linienregimenter geworden sind.« Es schien fast, als wolle der sauertöpfige alte Krieger lächeln, so zuckten seine Mundwinkel. »Little Richards Panzerbrigade ist disziplinierter als je zuvor, um zu beweisen, daß sie dieses Privileg ebenso verdienen wie die Tau-CetiRanger.« Das Zucken stoppte. »Natürlich würden sie das Angebot ablehnen, wenn es ihnen gemacht würde.«
Der Kanzler merkte sich die verhüllte Warnung. Nicht, daß er je geplant gehabt hätte, der Brigade die Bürgerrechte anzubieten, aber das Wissen, daß sie für den Wettstreit mit den Rangern lebten, ließ sich auf andere Weise ausnutzen. »Was ist mit McCarron's Armored Cavalry?« fragte er nach der eindrucksvollen, fünf Regimenter starken Söldnereinheit, die dieses Angebot als erste erhalten und angenommen hatte.
»Drei Regimenter sichern unsere hinteren Linien«, antwortete Zahn mit einer Geste zur Karte. »Sie stellen derzeit den Großteil meiner strategischen Reserve an der St. Ives-Front. Ein Regiment hält Brighton in der Xin-Sheng-Kommunalität. Und die Nachtreiter...« Er machte eine dramatische Pause, »... stehen auf Nashuar.«
Sun-Tzu trat vor, um sich die große Hologrammkarte anzusehen. In der Anzeige erstreckte sich der St. Ives-Pakt vom Boden bis zu einer Höhe von fast zwei Metern. Seine kern- und randwärtigen Ausläufer waren jetzt durch die Konföderationspräsenz auf Denbar und Indicass voneinander getrennt. In die Karte einprogrammierte grüne Pfeile kennzeichneten die beiden Ausläufer als die ›St. Ives‹- und die ›Teng‹-Front, benannt nach den Welten am äußersten Ende beider Gebiete. Die Konföderationssysteme entlang der spinwärtigen Grenze des Pakts leuchteten dunkelgrün, die sieben besetzten Paktsysteme der sogenannten Xin-Sheng-Kommunalität hellgrün. Einzelne Systeme wie das von Denbar wechselten gelegentlich in einem kurzen Flackern von Hellgrün zu Rot, um bewaffneten Widerstand gegen die Rückkehr der Konföderation anzuzeigen. Die elf noch unbesetzten Systeme des Pakts glühten in rotem Licht.
»Die Nachtreiter?« griff Sun-Tzu Zahns Andeutung auf.
»Sie leisten auf Nashuar eine hundsmiserable Arbeit«, stellte der General nüchtern fest. »Die höchste Verlustrate unter der Zivilbevölkerung all unserer Einheiten. Sie behandeln friedlichen zivilen Ungehorsam wie militärischen Widerstand.« Sein ruhiger Blick wurde einen Moment lang unsicher. »Die Todeswache ist von drei Minuten in der vorigen Woche auf zweieinhalb gesunken.«
Die Todeswache war ein Begriff, den Sun-Tzu von seinem Vater Tsen Shang gelernt und seinerseits Talon Zahn erklärt hatte. Als Chef des MaskirovkaGeheimdienstes unter Romano war Shang für die Durchführung zahlreicher ihrer Säuberungsaktionen verantwortlich gewesen. »Sie waren im ersten Jahr ihrer offiziellen Amtszeit so schnell und hart«, hatte er bei einer der seltenen Gelegenheiten erklärt, zu denen er mit seinem Sohn ein Glas Pflaumenwein trank, »daß die Todeswache auf acht Minuten sank. Alle acht Minuten starb ein capellanischer Bürger von der Hand der Finte. Wo es uns nicht gelang, das Reich vor Verrat von außen zu beschützen, waren wir gegen unserer eigenes Volk von skrupelloser Effizienz.«
In diesem Krieg stirbt alle zweieinhalb Minuten ein capellanischer Bürger, wenn man die Bevölkerung des Paktes mitzählt, die ebenfalls Capellaner sind, wenn auch noch nicht Bürger der Konföderation. Sun-Tzu konnte daran keinen Gefallen finden, besonders nicht, nachdem über fünfundneunzig Prozent der Opfer Zivilisten waren und all seine Bemühungen, dem Gemetzel ein Ende zu machen, ohne Erfolg blieben. In der vorigen Woche waren es noch drei Minuten gewesen.
Was sind schon dreißig Sekunden? fragte Romanos Geist.
Fast fünfunddreißigtausend capellanische Bürger, erwiderte Sun-Tzu. Wenn er einen Unterschied zwischen seiner Herrschaft und der Romanos etablieren wollte, mußte es in Bereichen wie diesem geschehen. Während seine Mutter keinen weiteren Gedanken daran verschwendet hätte, so viele ihrer Untertanen zu opfern, nahm Sun-Tzu ihren Tod zumindest zur Kenntnis und versuchte sicherzustellen, daß der Gewinn ihr Opfer wert war.
»Man kann ihnen kaum vorwerfen, daß sie etwas übereifrig sind, wenn es darum geht, sich zu schützen«, meinte Ion Rush leise.
Zahn nickte, aber Sun-Tzu war anderer Ansicht. Die Nachtreiter waren ein Jahr zuvor eingesetzt worden, um den Widerstand auf Wei in den Umstrittenen Territorien zu brechen, und dort mit Nervengas empfangen worden, das die rebellische planetare Regierung aus einem ABC-Endlager geborgen hatte. Ein Bataillon Elite-Krieger war in wenigen Minuten gefallen, ohne einen Schuß abzugeben. Und es war kein angenehmer Tod gewesen, den Holobildern nach zu schließen, die von der Maskirovka aufgenommen worden waren. Sun-Tzu verstand das mörderische Benehmen der Nachtreiter, aber er dachte nicht daran, es zu dulden, wo es capellanische Leben kostete.
»Schicken Sie Jiang-jun Baxter noch eine Nachricht mit meiner Unterschrift.« Er bezweifelte zwar, daß es etwas helfen würde, aber mit einem gezielten Befehl, der die Nachtreiter von der Front abzog, hätte er riskiert, die Cavalry gegen sich aufzubringen. »Können wir ein zweites Cavalry-Regiment nach Nashuar verlegen, um bei der Befriedung des Planeten zu helfen?«
Zahn und Rush schüttelten beide den Kopf, aber es war Zahn, der die Frage aufnahm. »Das würde unser Logistiknetz gefährden. Wir sind so schon an der Grenze seiner Möglichkeiten, weil wir in zu vielen Richtungen aktiv sind.«
Was eine verhüllte Kritik an meiner Entscheidung darstellt, keine Truppen aus den Chaos-Marken abzuziehen. Im Tumult der gemeinsamen Marik-LiaoOffensive 3057 hatten über fünfzig ehemalige capellanische Systeme das Joch des Vereinigten Commonwealth abgeschüttelt. Die meisten dieser Welten hatten sich ihres capellanischen Erbes besonnen und waren ohne großen Widerstand in die Konföderation heimgekehrt. Aber ein großer Raumsektor in der Nähe des Solsystems widersetzte sich der Wiedereingliederung in die Konföderation Capella und hatte sich von allen Großen Häusern unabhängig erklärt. Die Bemühungen, sie zurückzuholen, zehrten an den für den St. Ives-Konflikt verfügbaren Kräften.
Aber das war Sun-Tzu egal. Es waren capellanische Systeme, und sie würden heim in sein Reich kommen. Wir ziehen uns nicht zurück. Er wollte frustriert um sich schlagen, gestattete sich aber nur einen Hauch von Verärgerung im Tonfall seiner Antwort. »Ich besorge Ihnen weitere Truppen«, versprach er mit einem harten, starren Blick aus seinen jadegrünen Augen.
Falls Talon Zahn die Verärgerung seines Fürsten bemerkte, ließ er sich davon nicht beeindrucken. »Die brauche ich auch. Die Ankunft von Sternenbund-Truppen gibt dem Pakt eine größere taktische Freiheit, als mir lieb ist.« Er strich mit einer Hand durch die Karte, entlang der Grenze zwischen der Konföderation und dem St. Ives-Pakt. Als er weitersprach, klang seine Stimme besorgt, dabei aber doch fest. »Das Konzept der ›Front‹ ist in einem interstellaren Konflikt relativ abstrakt, mein Kanzler. Sprungschiffe können die besetzten Systeme zu leicht umgehen und ins Territorium der Konföderation eindringen. Ich habe keinen Bedarf an Paktregimentern, die sich die Anstrengungen Eures Cousins Kai zum Vorbild nehmen. Er macht uns schon genug Schwierigkeiten.«
»Die meisten Nachkommen Candaces sind ein Problem«, stellte Sun-Tzu fest. Und Kai ist der schlimmste von allen.« Er durchschaute Zahns Versuch, das gefährliche Thema Chaos-Marken fallen zu lassen, und trotzdem seine Botschaft an den Mann zu bringen. Der Gedanke an seine Vettern und Kusinen ließ Sun-Tzu einsehen, daß der Mann recht hatte. Kuan Yin und ihre humanitären Bemühungen in der Gefechtszone kamen Sun-Tzus Anstrengungen in diesem Bereich regelmäßig zuvor. Und Cassandras Guerillafeldzug bremste seinen Vormarsch an der Teng-Front und sorgte sogar gelegentlich für kleinere Rückschläge.
Kai Allard-Liao war der älteste Sohn seiner Tante Candace und Thronerbe des Pakts. Außerdem war er einer der gefährlichsten MechKrieger, die es in der Inneren Sphäre je gegeben hatte, und seine 1. St. Ives-Lanciers drohten,, die ganze St. Ives-Front zum Zusammenbruch zu bringen. Nachdem Sternenbund- und ComGuard-Einheiten im Paktgebiet eingetroffen waren, um die nachlassenden Abwehrkräfte zu verstärken, war Kai in die Offensive gegangen und hatte seine Lanciers über die Grenze in den capellanischen Raum geführt. Seit zwei Monaten war er unterwegs und griff die Nachschubinfrastruktur an, von der Sun-Tzus Militär abhängig war. Sein letzter Schlag gegen die Necromo-Raumwerften hatte der Konföderation bis zur Reparatur die Möglichkeit zur Produktion oder Instandsetzung zahlreicher Klassen militärischer Landungsschiffe genommen, die von entscheidender Bedeutung für das Absetzen von Bodentruppen und BattleMechs auf einer Planetenoberfläche waren. Im Grunde hatte er eine dritte Front des St. Ives-Konflikts eröffnet, die ›Kai Allard-Liao‹Front. Und da niemand vorhersagen konnte, wo er als nächstes zuschlagen würde, zwang er Sun-Tzu, gute Truppen in dem Bemühen zu binden, seine Angriffe zu begrenzen.
So viele Gegner, und alle sind sie Liao. »Und was ist mit meinem Onkel?« fragte er. Tormano Liao war vor dem Ausbruch des 4. Nachfolgekriegs von Maximilian verstoßen worden. Seine von Davion unterstützte Bewegung Freies Capella war seither zu einem Dorn im Fleisch der Konföderation geworden und hatte erst gegen Romano und dann gegen SunTzu operiert. Kai hatte sie ein paar Jahre lang übernommen und als humanitäre Hilfsorganisation geführt, während Tormano sich Katrina Steiner-Davion als persönlicher Adjutant angedient hatte. Nach der Sternenbund-Konferenz hatte Tormano sich aus Katrinas Diensten beurlauben lassen. Das versprach Ärger.
»Wie wir es bereits vermutet haben«, erwiderte Ion Rush. »Die Maskirovka bestätigt, daß das militärische Wiederauftauchen der Bewegung Freies Capella seine Arbeit war. Sie ist hauptsächlich im eskalierenden Konflikt in Tikonov aktiv, wahrscheinlich als Folge einer Übereinkunft mit Katrina, um eine offene Rebellion abzuwehren.«
Zahn nickte. »Ein Stellvertreterkrieg«, stellte er mit zu einem Strich zusammengepreßten Lippen fest. »Die von uns unterstützten Kräfte des Freien Tikonov gegen einen Großteil von Freies Capella.«
Und auf beiden Seiten fallen nur Capellaner, erkannte Sun-Tzu. Ja, das ist Katrinas Stil. Auch Tikonov war eine ehemalige capellanische Kommunalität, die im 4. Nachfolgekrieg abgefallen und von den Steiner-Davions unterworfen worden war, statt als unabhängiger Staat weiterzuexistieren. Tikonov war SunTzus langfristiges Spiel gegen Katrina, aber Tormanos Einmischung dort und im Pakt verlangten eine sofortige Reaktion. Mich täuschst du nicht, Onkel. Tormano waren die Unabhängigkeit des St. Ives-Paktes oder die Rebellion Tikonovs gleichgültig. Er will den Thron des Himmels besteigen, und das ist sein Versuch, sich die Legitimation dafür zu verschaffen.
Sun-Tzu war allerdings noch nicht bereit, den Thron aufzugeben.
Aber wie sollte er mit ihm fertig werden? Wie konnte er mit ihnen allen fertig werden?
Romano flüsterte ihm die Antwort ein, und SunTzu zuckte sichtlich zusammen.
Töte sie, kam die Antwort. Brutal und offen, so wie Romano es gewesen war. Er schüttelte den Kopf, dann bemerkte er den fragenden Blick Ion Rushs und Talon Zahns. Die beiden hatten seinen Moment der Schwäche offenbar bemerkt, und das verlangte eine Antwort.
»Ich habe da ein paar Ideen«, erklärte er langsam und täuschte vor, sein sichtbares Erschrecken sei das äußere Anzeichen eines Gedankenblitzes gewesen. Er lächelte mit hartem, grausamem Blick, weil er wußte, daß es von ihm erwartet wurde. »Halten Sie mich auf dem laufenden«, befahl er und drehte sich zum Gehen.
»Habt Ihr in der Zwischenzeit noch einen Wunsch?« fragte Zahn und unterbrach den Abgang des Kanzlers.
Sun-Tzu war sich nicht sicher, ob sein General nur effizient wie üblich war oder etwa herauszufinden versuchte, ob er log. Er warf ihm einen eisigen Blick zu. »Ein paar handfeste militärische Siege wären nett«, stellte er kühl fest. In der Zwischenzeit kümmere ich mich um meine Familie.
Wie?
fragte ihn seine Mutter aus den dunklen Abgründen seines Geistes.
Ich bin mir nicht sicher, erwiderte er. Aber es muß einen Weg geben.
Zahns dunkle Augen blinzelten, aber davon abgesehen ließ er sich keinerlei Unbehagen anmerken. »Dui, mein Kanzler.« Natürlich.
Sun-Tzu erwiderte Talon Zahns Verbeugung mit einem kurzen Nicken, dann drehte er sich um und verließ die Strategische Kommandozentrale. Romanos Geist folgte ihm.

Battletech 46: Die Natur des Kriegers
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