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Palast des Himmels,
Zi-jin Cheng (Verbotene Stadt), Sian Kommunalität Sian,
Konföderation Capella
Isis Marik fand den Thronsaal ihres Verlobten etwas spartanisch, aber das paßte zu Sun-Tzus Persönlichkeit. Alles hier hat seinen Zweck, nichts dient nur der Schau.
Die Wände dekorierten ein paar kunstvoll ausgeführte einfache Kohlezeichnungen von des Kanzlers eigener Hand. Aber das wußten nur wenige. Eine alte chinesische Rüstung stand in der Nähe der Empore, möglicherweise, um Sun-Tzu an seine asiatische Abstammung zu erinnern. Aus den Nán-Bei-CháoDynastien, hatte er ihr erklärt, als sie die Rüstung einmal bewundert hatte. Natürlich hatte er ihr im Lauf der Jahre eine Menge Dinge erklärt, nicht immer wahrheitsgemäß. Ein dicker roter Teppich zog sich von der Empore zu den in Bronze eingefaßten Türen. Seit seiner Amtszeit als Erster Lord des Sternenbunds war der Läufer mit Goldfäden durchwirkt. Gold, die ausschließlich den alten chinesischen Kaisern vorbehaltene Farbe.
Der Thron des Himmels selbst war ein atemberaubendes Kunstwerk. Er war komplett handgeschnitzt, aus Mahagoni. Die rotbraune Maserung des Holzes kündete von Kraft und Charakter. Obwohl dieses Versprechen bis zu Sun-Tzu ziemlich einseitig charakterbetont war. Die obere Hälfte der Rückenlehne stellte den chinesischen Tierkreis dar, eine weitere Verbindung zum chinesischen Erbe Haus Liaos und eine Erinnerung an das vielfältige Wesen der Menschheit.
Und auf dem Thron des Himmels saß Sun-Tzu Liao,
Kanzler der Konföderation Capella.
Isis nickte förmlich. Sie hatte von der jüngsten Audienz Talon
Zahns und Sascha Wanlis gehört und wollte ihn nicht gegen sich
aufbringen. Nicht, daß sie Angst vor ihm gehabt hätte. Isis war in
der Lage, hinter seine Abstammung von der wahnsinnigen Romano und
deren Maskirovka-Gefährten Tsen Shang zu blicken. Aber sie wollte
ihm helfen, und wenn ihr das gelingen
sollte, mußte er sie heute als seine Verbündete erkennen und durfte
keine Gegnerin in ihr sehen. Er hat so viel
erreicht, und gemeinsam können wir noch so viel mehr leisten. Wenn
er mir zuhört.
In Sun-Tzus jadegrünen Augen leuchtete Interesse auf, als sie sich
näherte, aber natürlich wollte er, daß sie das sah. Traditionsgemäß
durfte sie nichts sagen, bis er sie ansprach, und es gehörte
reichlich Wagemut dazu, im Palast des Himmels mit Traditionen zu
brechen. Aber heute kam es zu keinen Wortgefechten. Sun-Tzu kam
ohne Umschweife auf den Punkt zu sprechen, um den ihre Gedanken kreisten, als könne er in ihrem Geist
lesen.
»Ich soll mich aus den Chaos-Marken zurückziehen«, erklärte er ohne
Vorrede. »Meine Kräfte gegen den Pakt konzentrieren, um diesen
Konflikt schnell zu beenden.«
»Ich weiß, Liebster. Ich habe Talon Zahn gesprochen.« Isis achtete
darauf, ihre Stimme ruhig und ermutigend zu halten. »Ich wünschte,
ich könnte helfen.«
Sun-Tzu nickte. »Hat er dir auch erzählt, daß nach Erkenntnissen
der Maskirovka zumindest ein Teil des Widerstands in den
Chaos-Marken von BlakesWort-Fraktionen geschürt wird? Zum Teil
sogar von konkurrierenden Fraktionen?«
»Ja. Er sagte, man könne nicht sicher sein, wieviel davon bewußt
gegen dich gerichtet ist und wieviel nur Nebenwirkung eines
Stellvertreterkrieges um die Macht bei Blakes Wort ist.«
Sun-Tzu lehnte sich tiefer in seinen Thron zurück. »Dann sag mir,
was ich tun soll, Isis.« Er beobachtete sie aufmerksam. »Deiner
Meinung nach?«
Ist das eine neue Prüfung, oder fragt er mich
ernsthaft um Rat? So oder so machte es für ihre Antwort
keinen Unterschied. »Schließe Frieden mit deiner Tante Candace oder
schreibe die ChaosMarken für ein paar weitere Jahre ab.«
»Nach deiner Erfahrung auf Hustaing - kannst du Frieden mit meiner
Tante empfehlen? Nach dem Verlust so vieler capellanischer Leben
seither?«
Isis hatte keinen Bedarf danach, an die Zeit erinnert zu werden,
die sie inmitten der Kämpfe auf Hustaing zugebracht hatte. Mehrmals
wäre sie fast in Gefangenschaft geraten oder getötet worden.
Außerdem hatte dieser Konflikt die Invasion des Pakts erst möglich
gemacht. Aber meine Gefährdung dort hat auch
mir neue Türen geöffnet und mir gestattet, aktiver in die Politik
der Konföderation einzugreifen. Daher muß ich ihm vernünftige,
unvoreingenommene Ratschläge geben. »Es scheint nur diese
beiden Möglichkeiten zu geben.«
»Immer nur zwei Möglichkeiten«, gab Sun-Tzu mit harter, gnadenloser
Stimme zurück. »Immer existieren nur Kapitulation oder Kompromiß
für die Konföderation. Chesterton aufgeben. Tikonov aufgeben. St.
Ives aufgeben. Die Konföderation als Kriegstreiber beschimpfen
lassen, wenn sie um ihr bloßes Überleben kämpft. Kleinstaaten der
ChaosMarken als legitime Nationen anerkennen, statt der
Konföderation zu gestatten, zurückzuholen, was ihr rechtmäßig
gehört.« Er hob die rechte Hand von der Armlehne des Thronsessels
und ballte sie zur Faust. »Damit ist es vorbei«, versprach
er.
»Aber sobald du einen dieser beiden Konflikte löst«, insistierte
Isis, »löst sich der ganze Knoten.« Sie kam näher, und ein
flehentlicher Ton trat in ihre Stimme. »Denke daran, welchen
Eindruck du bei den anderen Fürsten der Inneren Sphäre machen
würdest. Bei deinem Volk.« Bei mir,
fügte sie in Gedanken hinzu.
Sun-Tzu blinzelte sie verwirrt an. »Welchen Eindruck ich machen
würde?« Er legte den Kopf auf die Seite, dann wiederholte er:
»Welchen Eindruck ich machen würde«, wie, um die Formulierung
auszuprobieren. »Was ist mit der Konföderation?«
»Deine Konföderation siegt, wenn du siegst.« Isis hoffte, er
mißverstehe sie nicht so, daß sie ihm damit zur Fügsamkeit raten
wollte. »Du warst der starke Führer, den dein Volk brauchte. Du
hast ihnen jemanden gegeben, dem es folgen und an den es glauben
konnte.«
»Um mich ist es hier nie gegangen«, stellte SunTzu mit
entschiedener Miene fest. »Mein Volk mußte lernen, an sich selbst
zu glauben, an die Konföderation. Nicht an mich. Das hat es von Anfang an getan.«
Er stand auf und kam die Stufen der Empore herab auf sie zu. Auf
sein Gesicht trat ein melancholischer, fast bedauernder Ausdruck.
Er streckte die Hand aus. Die Fingernägel der letzten drei Finger
an jeder Hand waren in einer Mode, die er von seinem Vater
übernommen hatte, einige Zentimeter lang, zusätzlich mit
Karbonfasern verstärkt und rasiermesserscharf. Eine potentiell
tödliche Mode. Jetzt strich er mit der Rückseite der langen
Fingernägel der rechten Hand sanft über ihre Wange.
»Lebwohl, Isis«, sagte er leise. »Geh nach Hause.«
Die plötzliche Verabschiedung verwirrte sie. Sie wollte seine Hand
packen, aber er zog sie fort. »Na gut«, meinte sie. »Ich kehre
heute nacht in meine Residenz zurück. Aber bitte überlege
dir...«
»Nicht in deine Residenz«, unterbrach Sun-Tzu, und seine Stimme
verlor ihre Sanftheit. »Geh nach Hause. Zurück in die Liga. Du
wirst hier nie heimisch werden. Nie wissen, was es bedeutet, ein
Capellaner zu sein.« Er schüttelte den Kopf. »Sag deinem Vater, er
hat unser Spiel gewonnen.«
Isis wich unter den leisen - und doch herben - Worten einen Schritt
zurück. »Hier geht es nicht um Politik, Sun-Tzu.«
Er lachte, aber es lag kein Humor darin. »Wenn es nicht um Politik
ginge, hätte ich deinen Vater schon längst wegen der zehnjährigen
Verlobungszeit zur Rede gestellt.«
»Ist es das, worüber du wütend bist? Die Heirat? Alles oder
nichts?« Mit wilden Gesten versuchte Isis, die Eiseskälte zu
vertreiben, die sich in ihrer Magengrube ausbreitete. »Dann bring
deinen Priester oder Zen-Mönch oder wen auch immer her, und wir
werden ohne die Zustimmung meines Vaters heiraten. Die
Konföderation ist mein Zuhause.«
»Wäre die Konföderation dein Zuhause«, erklärte Sun-Tzu, und eine
mitleidige und zugleich harte Note klang in seinen Worten mit,
»bräuchtest du nicht zu fragen, wer uns verheiraten
soll.«
Von plötzlicher Verzweiflung erfaßt, konnte Isis kaum noch atmen.
Das geschieht nicht wirklich. Er ist wütend
und verwirrt, aber er kann nicht meinen, was er da sagt. »Du
willst unsere Verlobung lösen, weil ich dich in deinem Reich an
erster Stelle sehe? Weil meine Gefühle...«
Wieder unterbrach er sie. »Nichts kommt vor der Konföderation«,
brüllte er fast.
In all ihrer Zeit auf Sian hatte Isis Sun-Tzu nie so unverhüllt
zornig gesehen.
»Nicht ich, nicht meine Gefühle und sicher nicht die einer
Außenstehenden«, sprach er weiter. »Würde die Konföderation dadurch
stärker werden, ich würde nicht zögern, mein Leben zu opfern, oder
deines, oder das aller Menschen auf Sian, solange der Gewinn es
rechtfertigte.«
»Was verlangst du von mir?« fragte sie, beinahe in einem Flüstern,
weil sie ihrer eigenen Stimme nicht traute.
»Habe ich das nicht deutlich gemacht?« fragte Sun-Tzu in ruhigerem
Ton - aber dessen völlige Neutralität machte seinen Zorn noch immer
deutlich. »Ich verlange von dir, daß du aus meinem Palast
verschwindest, von meiner Welt und aus meiner Konföderation.« Er deutete zur Tür und
marschierte los, ohne nachzusehen, ob sie folgte. »Ich werde deinem
Landungsschiff die Freigabe zum Sprungpunkt geben und deinem
Sprungschiff eine Zerstörereskorte bis zur Grenze.«
Der Saal drehte sich sekundenlang vor ihren Augen. »Aber wohin soll
ich denn?« Isis dachte daran, wie distanziert ihr Vater in den
letzten Jahren geworden war. »Ich kann nicht zurück in die Liga
Freier Welten.«
Sun-Tzu blieb an der Tür stehen und drehte sich um. Sein Gesicht
war völlig ausdruckslos. Das war schlimmer als Wut, Haß oder
Mitleid. Es sagte ihr, daß sie ihm nichts bedeute. »Dann fliege
nach New Avalon und ärgere Katrina. Oder versuche es im
Draconis-Kombinat... Victor hat dort ein Exil gefunden.«
Isis fühlte ihre Welt zusammenbrechen, über sich einstürzen. Nichts
mehr erschien ihr echt, am wenigsten die Gefühle, die sie für
diesen Mann empfunden zu haben geglaubt hatte. Wofür ich zehn Jahre gearbeitet habe, fünf davon hier auf
Sian. Alles verloren. Aber die Konföderation ist meine Heimat
geworden, soweit ich überhaupt eine habe. Sie hatte noch
keinen Schritt getan, und so weiträumig war der Thronsaal nicht,
aber trotzdem schien Sun-Tzu Kilometer entfernt.
Schick mich nicht weg, bettelte sie
stumm. »SunTzu, tu das nicht. Ich kann dir und deinem Reich noch
nützlich sein.«
Sun-Tzu drehte sich um und griff nach der Türklinke. »Dein Nutzen
für mein Reich endete«, stellte er leise und grausam fest, »an dem
Tag, an dem du Hustaing lebend verlassen hast.«