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Chingda-sun-Gemeinde, Layting, St. Loris Herzogtum St. Loris, St. Ives-Pakt29. April 3062
Aris Sung saß auf dem polierten Teakholzboden der Großen Halle, umgeben von anderen Mitgliedern Kriegerhaus Hiritsus. Er hielt eine kleine Reisschale in der rechten Hand und Eßstäbchen in der anderen. Seine um ihn herum ausgebreitete Seidenrobe bauschte sich hinter ihm gegen eine massive Holzsäule, eine von fünfen, auf denen das unverkleidete Dach ruhte. Die letzten beiden Wochen waren besonders hektisch gewesen. Der MechKrieger fühlte sich müde und ausgelaugt. Alles in ihm drängte ihn, sich zurückzulehnen und den Halt der Säule anzunehmen. Aber er widerstand, und seine Konzentration wechselte zwischen Aufmerksamkeit für den momentanen Redner und der Frage, wie Shiao-zhang Ty Wu Non immer wieder so perfekte Umgebungen für die Versammlungen Haus Hiritsus fand.
Die Ching-da-Gemeinde auf St. Loris erinnerte Aris an den Badeort T'ao-shui auf Nashuar. Aber während man dort aus rein kommerziellen Beweggründen auf chinesische Architektur und Landschaftsgestaltung zurückgegriffen hatte, hatte sich diese Gemeinde voll und ganz der chinesischen Kultur verschrieben. Die Lehren Meister Kung-fu-tzus der hier niemals Konfuzius genannt wurde - halfen den Gemeindemitgliedern, ihr Leben zu organisieren. Seine Philosophie vermittelte ihnen Geduld, Höflichkeit und einen Sinn für das Angemessene. Sie lebten sehr einfach, arbeiteten auf den umliegenden Bauernhöfen oder verkauften die Erzeugnisse ihrer Handwerkskunst in den Dörfern der Region. Die Häuser waren klein, aber ausreichend, und ihre schrägen Dächer und spitz zulaufenden Ecken erinnerten an die Song-Periode. Das Gelände wirkte weniger sorgfältig gepflegt, aber die Große Halle des Gemeindezentrums war ein architektonisches Prunkstück, deren offener Boden groß genug war, um eine Versammlung des gesamten Kriegerhauses zu gestatten.
Die Philosophien Meister Kungs stellen auch einen zentralen Pfeiler der Lehren Haus Hiritsus dar. Warum habe ich trotzdem den Eindruck, daß uns dieser Halt abhanden gekommen ist? Sein Blick wanderte durch den Saal, über die mehr als zweihundert Krieger, die sich zu einer formellen Anhörung ihrer Beschwerden, Vorschläge und Ratschläge versammelt hatten. Es war Tradition des Hauses, Probleme, persönlicher ebenso wie militärischer Natur, in der Familie zu diskutieren. Heute drehten sich die Gespräche um den Konflikt auf St. Loris, und abgesehen von zwei MechKrieger-Lanzen und einem Infanteriezug, die durch das Gelände patrouillierten, war das ganze Haus zusammengekommen. Zu viele dieser Gesichter vermischten sich in Aris' Gedanken mit den Erinnerungen an Pakt-Soldaten und Zivilisten, asiatisch oder nicht.
Liegt es an ihnen oder an
mir?
»Warum stellen wir nicht ein paar Lanzen für unabhängige Vorstöße
frei?« fragte Jene Silvers die Hausversammlung und kam damit nach
mehreren Minuten, in denen sie sich darüber ausgelassen hatte, wie
der Versuch, den Planeten zu erobern, fehlgeschlagen war, endlich
zum Punkt. Aris beugte sich vor und registrierte heimlich die
Reaktion der Krieger in seiner Nähe. Jene war eine Pai-zhang in
Shiaozhang Nons Mechkompanie, und damit hatte ihre Meinung beinahe
das Gewicht eines Kompanieführers wie Aris oder sogar das des
dienstältesten Lienzhang James.
Er bemerkte zustimmendes Kopfnicken von mehreren Seiten.
»Oder Jägertrupps«, fuhr sie fort und deutete in Richtung der ihr
am nächsten sitzenden Infanteristen. »Ich bin sicher, daß wir unter
unseren Vettern auf dem Schlachtfeld zahlreiche Freiwillige finden
würden.« Wieder Kopfnicken.
Attentätertrupps. Aris unterdrückte ein Stirnrunzeln. In seinen
Jahren als Infanterist war er selbst in den entsprechenden Taktiken
ausgebildet worden. Aber sie jetzt einzusetzen, und zwar gegen
Opfer, die ihr gemeinsames capellanisches Erbe teilten, erschien
ihm falsch. Oder spricht da der MechKrieger in
mir, der die angebliche Eleganz der Kampfkolosse
vorzieht?
Zwei Infanteriezugführer standen auf, einer eine Hauskriegerveteranin von mittelmäßiger Leistung, der andere Li Wynn, der erst vor kurzem zum Paizhang befördert worden war. Die Rangordnung war eindeutig, aber zugleich hatte Ty Wu Nons formelle Anerkennung des adoptierten Kriegers durch dessen Beförderung die Bedeutung des jungen Mannes erheblich erhöht. Auf Hustaing hatte Li Wynn Isis Marik davor gerettet, in die Hände des Feindes zu fallen, möglicherweise sogar vor dem Tod. In einem Kriegerhaus sprach Leistung eine deutliche Sprache. Hätte Li Wynn gewollt, hätte er wahrscheinlich als erster das Wort ergreifen können. Aber er nickte der dienstälteren Offizierin höflich zu und nahm wieder Platz, und Aris gestattete sich einen gewissen Stolz auf die Höflichkeit seines Schützlings. In mancher Hinsicht ist er ein vorbildhafter Rekrut.
»Für meine Truppen gesprochen«, setzte die Veteranin an, »kann ich sagen, daß wir allzeit bereit für Kommandounternehmen sind. Allermindestens würde es helfen, den Widerstand zu brechen, wenn die Kommandeurin der St.-Ives-Lanciers und möglicherweise Colonel Marko Rubinsky eliminiert würden.«
Aris bemerkte, daß die Infanteristin sich weigerte, Cassandra Allard-Liao beim Namen zu nennen. Die politischen Implikationen sind schon schlimm genug, allein durch die Andeutung, daß es legitim sein könnte, sie umzubringen. Aris hatte ernste Zweifel daran, daß ihr Tod die St.-Ives-Lanciers demoralisieren würde. Es könnte sie sogar zu noch größerem Fanatismus aufstacheln. Schlimmer noch, ein solches Vorgehen lief Gefahr, ihren Bruder auf den Plan zu rufen. Er hatte keine Angst vor Kai Allard-Liao, aber einen Krieger von solchen Fähigkeiten nicht zu respektieren, hätte er für eine besondere Dummheit gehalten. Wir wollen unseren Sieg beschleunigen, nicht das Chaos noch vergrößern.
Als die Infanterieoffizierin sich wieder setzte, wartete alles auf Li Wynns Beitrag. Er stand auf und zupfte am Saum seiner Uniformjacke, um sie geradezuziehen.
»Ich finde, Pai-zhang Silvers' Vorschlag geht noch nicht weit genug«, erklärte er und bezog sich auf seinen Vorredner. Er sprach langsam und überlegte sich seine Worte offensichtlich sorgfältig, um seinen üblichen Straßenslangtonfall zu unterdrücken. »Es ist nicht nur die Stärke des militärischen Widerstands, die den Vormarsch der Konföderation aufhält, sondern auch ziviler Widerstand. Als Sprecher eines Zugs, der eine Menge Städte und Dörfer auf unserem Weg gesichert hat, kann ich Ihnen sagen, daß diese ebenfalls ein Schlachtfeld sind. Ich habe Männer in Unruhen verloren, an Scharfschützen und durch Vergiftung. Es macht mich krank, daß solchen Hunden erlaubt wird, wahre Bürger der Konföderation zu unterdrücken, wie wir sie in Pardray verlassen haben und wie wir sie hier in Chingda-sun gefunden haben.«
Es war ein Fehler, die Regierung Pardrays in Verbindung mit dieser Gemeinde zu bringen, dachte Aris, der Li Wynns Argumentation in Gedanken kritisierte. Die Menschen von Chingda-sun hätten PaktKräfte ebenso gastfreundlich aufgenommen, und es war falsch, ihre friedliche Neutralität als Ausdruck von Konföderationsfreundlichkeit auszulegen. Aber der größte Teil des Kriegerhauses schien von einer Art Kampflust ergriffen zu sein. Die Kriegerhäuser sind kein unmittelbarer Teil des Konföderationsmilitärs. Wir sind eine separate Institution und dienen dem Kanzler durch den Willen der Haus-Meister. Falls Aris etwas gegen diesen Gedanken sagen wollte, war das die Öffnung, die es möglich machte.
Die Reisschale war bereits halbwegs in Mundhöhe, bevor Aris sich darüber klar wurde, daß er sich zu drücken versuchte. Mal wieder.
»Und wie sähe deine Lösung aus, Li Wynn?« fragte er, bevor er es sich wieder ausreden konnte. Er stellte die Reisschale beiseite, legte die Hände auf die Oberschenkel und sah zu seinem Schützling hinüber. Als Li Wynns Sifu konnte Aris ihn unterbrechen, ohne unhöflich oder respektlos zu erscheinen. Solange ich daraus eine Frage mache, die sein Verständnis der Hausphilosophie betrifft. »Schlägst du unserem Shiao-zhang vor, unsere Krieger gegen Zivilisten einzusetzen? Gegen Menschen, die man als Konföderationsbürger betrachten kann, wenn auch fehlgeleitete? Sicherlich verbietet der Lorix-Orden weitere solcher Greuel?«
Die Ideale des vierhundert Jahre zuvor in der Konföderation gegründeten quasi-religiösen LorixOrdens fanden sich mehr oder weniger exakt in den Grundregeln aller Kriegerhäuser. Die Interpretation Hiritsus war recht locker, aber sie lieferte Aris die Berechtigung für seinen Zwischenruf.
Und wie er gehofft hatte, ging Li Wynn in die Falle, die sein Mentor ihm gestellt hatte. »Wer sich der Konföderation widersetzt, ist unser Feind. Und als Feinde des Hauses...«
»Maße dir nicht an, für Shiao-zhang Ty Wu Non zu sprechen«, schnitt Aris ihm das Wort ab. Li setzte zu einer Erwiderung an, und Aris beugte sich vor, bereit, ihm mit einer herberen Zurechtweisung über den Mund zu fahren. Ich habe gesagt, die man als Konföderationsbürger ›betrachten kann‹. Li wollte zwar seine Meinung zum Ausdruck bringen, aber er hat sie falsch formuliert. »Bitte nimm wieder Platz, Li Wynn.« Aris' Stimme war sanft, als mache er seinem Schützling nur einen Vorschlag, aber der hatte das Gewicht eines Befehls.
Ihm war klar, daß jemand den hingeworfenen Fehdehandschuh aufnehmen würde. Wahrscheinlich ein Infanterist, weil diese mehr Kontakt zur Zivilbevölkerung hatten. Aber daß Jene Silvers augenblicklich aufsprang, überraschte ihn doch etwas.
»Sind Sie, Lien Sung, dann der Meinung, daß Shiao-zhang Non die Feindseligkeit der Pakt-Bürger nicht als Gefahr für unsere Mission einschätzen sollte?« Der legalistische Ton der Frage ließ erkennen, daß sie erwartete, Aris in einem Widerspruch zwischen Logik und Loyalität zu fangen.
Aber so leicht ließ Aris sich nicht erwischen. Er stand auf, um ihr auf gleicher Ebene zu begegnen, und war sich dabei durchaus bewußt, daß der Kontrast zwischen seiner legeren Kleidung und ihrer Felduniform sie in den Augen der anderen Hausmitglieder zu Vertretern der Zivilbevölkerung und des Militärs machte. »Soweit ich weiß«, antwortete er gelassen, »hat unser Haus-Meister sich zu dieser Frage noch nicht offiziell geäußert.« Weil ihn bis jetzt niemand dazu gezwungen hat. Er wählte seine nächsten Worte mit äußerster Vorsicht, denn ihm war klar, daß er sich auf trügerischem Boden bewegte. »Ich wage jedoch zu hoffen, daß der Wille unseres Shiao-zhang niemals den Grundlagen seines eigenen Hauses widerspräche.«
Tiefe Stille legte sich über den Saal. Es war eine Sache, unter dem Deckmantel einer Meinungsäußerung Vorschläge zu machen, aber eine ganz andere, auch nur anzudeuten, der Haus-Meister könne irgend jemand anderem als allein dem Kanzler der Konföderation verpflichtet sein. Theoretisch hatte das Hausoberhaupt jedes Recht, die formellen Eide abzuschaffen und neu zu formulieren. Aris bezweifelte allerdings, daß irgendein Haus eine derartige Umorganisation überleben würde... obwohl, Haus Imarra möglicherweise schon. Aber das änderte nichts daran, daß die Herausforderung gestellt war. Wenn das keine persönliche Stellungnahme Ty Wu Nons erfordert, weiß ich nicht, was.
Ty Wu Non teilte Aris' schlanke Statur, aber nicht die Körpergröße des jüngeren Kriegers. Trotzdem konnte kein Zweifel an der in vier Jahren als HausMeister erworbenen Aura der Autorität bestehen, die ihn umgab, als er sich jetzt geschmeidig von seinem Platz erhob. Auch er trug legere Haus-Kleidung, und die breitschultrige Seidenrobe war von so dunklem Grün, daß sie im gedämpften Licht des Saals fast schwarz wirkte. Aris hoffte, daß die Wahl seiner Kleidung kein Zufall war. Der wachsende Anteil von Uniformträgern bei den Hausversammlungen erschien Aris nur als eines der Anzeichen für ein Haus, das seine Richtung verloren hatte, auch wenn es keine Vorschriften gab, die dagegen sprachen.
Der Shiao-zhang bedeutete Jene Silvers mit einem Kopfnicken, sich wieder zu setzen. Er musterte Aris mehrere Minuten mit ruhigem Blick, wie, um die Absichten des jüngeren Mannes einzuschätzen. Niemand sprach. Nur das gelegentliche Rascheln von Seide oder das Knirschen eines Fußbodenbretts, wenn jemand das Gewicht verlagerte, unterbrach die Stille. Nons dunkle Augen verengten sich leicht zu einer Maske der Neutralität, als er schließlich sprach, beinahe, als wolle er alles bis auf seine tatsächlichen Worte verstecken. »Manchmal verlangt die Lage von uns eine schwierige Entscheidung, Aris Sung. Opfer sind nötig.«
Und manchmal sind sie es nicht, wollte Aris erwidern, verkniff es sich aber. Ty Wu Non war kein Vorgesetzter, der Aufmüpfigkeit zu schätzen wußte. Er gibt mir eine Chance zu antworten, was meine Besorgnis rechtfertigt, wenn auch nicht meine Schlußfolgerungen. Jetzt muß ich beweisen, daß ich recht habe, oder zumindest ein weiteres Nachdenken über diese Angelegenheit erzwingen. So oder so lief er Gefahr, sich einer Bestrafung auszusetzen, aber das kümmerte ihn nicht mehr.
Aris nickte, als habe er Worte großer Weisheit vernommen. »Starke Worte«, erkannte er an. Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Vertraute Worte.«
Der Haus-Meister hätte das Gespräch an diesem Punkt beenden und Aris' Kommentar als Zeichen der Unterwerfung deuten können. Trotz Nons Versuch, seine Gedanken zu verbergen, bemerkte Aris in der Anspannung seiner Gesichts- und Schultermuskulatur ein kurzes Zucken, das er als inneren Zwiespalt auslegte. »Vertraut?« fragte Ty Wu Non schließlich und ging damit auf Aris' Vorstoß ein. »Ich kann mich nicht entsinnen, sie bereits einmal benutzt zu haben.«
»Hmm?« Aris täuschte ein paar Sekunden unschuldige Verwirrung vor. »O nein, Ihr habt sie auch nicht benutzt, Shiao-zhang Non. Ich glaube mich nur an eine ähnliche Argumentation eines Bürgers der Konföderation in der Vergangenheit zu erinnern, bei der Verteidigung einer der Säuberungen Romano Liaos.« Aris schüttelte leicht den Kopf, ohne den Blickkontakt zu brechen. »Vielleicht irre ich mich.«
Diesmal wagte niemand, sich auch nur zu bewegen. Ohne Zweifel rechnete eine ganze Reihe der Versammelten innerhalb der nächsten Minuten mit Aris' Ende. Eine versteckte Beleidigung des Meisters meines Hauses und des Kanzlers, und beides innerhalb einer Stunde. Er hätte sicherlich das Recht, mich zum Tode zu verurteilen. Aber Aris konnte nicht länger mit geschlossenen Augen durch diesen Konflikt wandern, seiner selbst nicht mehr sicher. Wenn der Shiao-zhang mich verurteilt, werde ich das akzeptieren. Es mag das Ende meines Daseins als Krieger sein, aber ich werde es hinnehmen.
Ty Wu Nons Miene verdüsterte sich, und alle im Saal konnten seine Verärgerung erkennen. Dann hellte sie sich wieder auf, als würde eine Lawine langsam zurück den Berg hinauf rollen. »Vielleicht.« Seine Stimme war ruhig und kraftvoll. »Wir sollten uns das eine Weile durch den Kopf gehen lassen. Wegtreten.« Sein Blick strich über die Versammlung und machte deutlich, daß diese Anordnung für alle galt.
Als Aris den Saal verließ, umgeben von Kriegern, die sich in seiner Gegenwart plötzlich unbehaglich fühlten, schmiedete er Pläne. Taten, erinnerte er sich, sprechen lauter als Worte. Der Haus-Meister hatte ihm einen Aufschub gewährt und die zurückhaltende Erlaubnis, seine Überlegungen weiterzuverfolgen. Manche seiner Kameraden würden schwer zu überzeugen sein, aber er hoffte, daß andere den wahren Kern seiner Herausforderung erkannten. Die Zeit würde es weisen. Wenn wir diese Zeit haben. Wenn ich uns die Zeit verschaffen kann.
Aris schwor sich, das zu tun. Er würde die
Antwort auf seine Frage finden.
Liegt es an mir oder an den
anderen?