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Bruchfeldebene, Layting, St. Loris Herzogtum St. Loris, St. Ives-Pakt18. Mai 3062
Die Sonne St. Loris' hing am westlichen Horizont tief über den Duguanbergen, färbte den Himmel rot und orange, und brachte ein paar vereinzelte Wolken zum Glühen. Aris Sung, der die nächste Gefangeneneskorte zum Austauschplatz brachte, schenkte dem Naturschauspiel nur einen kurzen Moment Aufmerksamkeit und hoffte, daß es sich nicht als unheilvolles Omen entpuppte. Das ist wirklich der letzte Ort, an dem irgend etwas schiefgehen darf.
Am Südrand des weiten Graslands, exakt einen Kilometer entfernt, hielt Shiao-zhang Ty Wu Non seine BattleMechkompanie gegen eine entsprechende Anzahl von St.-Ives-Lanciers in Reserve, die sich einen Kilometer nördlich zu einer Schlachtreihe formiert hatten. Zwischen den beiden Linien leitete Aris Sung mit einem einzelnen Zug HiritsuHausinfanteristen den Gefangenenaustausch und fühlte sich dabei wie eine Zielscheibe auf dem Schießstand. Während er auf die Stellungen der St.Loris-Heimatmiliz zu marschierte, bedauerte er einen Augenblick lang die Entscheidung, ihnen fast das Doppelte an Truppen zuzugestehen. Jeder von uns mag zwei von ihnen wert sein, aber es ist trotzdem kein angenehmes Gefühl, ins Fadenkreuz so vieler Sturmgewehre zu laufen.
Der Befehl über BattleMechs hat mich weich werden lassen, nahm Aris sich zusammen. Dieser Einsatz hier im Feld heute ist eine notwendige Erinnerung.
Ursprünglich hatte Ty Wu Non vorgeschlagen, Li Wynn sollte den Gefangenenaustausch überwachen. Aris hatte seinem Schützling in seiner Eigenschaft als dessen Sifu einen anderen Auftrag erteilt und den Befehl über den Austausch selbst übernommen. Er hatte diesen Austausch arrangiert, um seinen Schwur umzusetzen, an einer Verringerung der blindwütigen Gewalt zu arbeiten, die beide Seiten in diesem Konflikt an den Tag legten. Falls irgend etwas dabei schiefging, verdiente er es, die vollen Konsequenzen zu tragen. Außerdem legte Li Wynn in jüngster Zeit eine Haltung an den Tag, die ihn nicht gerade für eine diplomatische Mission geeignet erscheinen ließ. Dieser Gefangenenaustausch, so hoffte Aris, sollte der nächste Schritt bei dem Versuch sein, eine Eskalation des Konflikts auf St. Loris in eine ganz und gar unkontrollierte Vernichtungsschlacht zu verhindern. Die Nervengasanschläge haben die Spannungen bis an den Zerreißpunkt erhöht, auch wenn sie fast alle abgewendet werden konnten. Das hier muß gelingen.
Aris hielt den Infanteriezug am vereinbarten Punkt an und wartete auf die Paktsoldaten, die mit ihren nächsten fünf Gefangenen die letzten zehn Meter zurücklegten. Aris erkannte Jasmine Troy unter den Gefangenen, eine seiner MechKriegerinnen. Das Bein provisorisch eingegipst. Bleich, mit etwas eingefallenem Gesicht. Viele der Gefangenen zeigen ähnliche Spuren der Vernachlässigung, dachte Aris. Aber sie sind gesund und kommen nach Hause. Dies ist nicht der Zeitpunkt, sich deswegen zu ereifern. Er war so mit dem Auftauchen einer seiner vermißten Kriegerinnen beschäftigt, daß er die Pakt-Kriegerin, die kurz vor Erreichen des Austauschpunktes die Eskorte verließ, fast übersehen hätte.
»Sie, Kapitän. Sind Sie Aris Sung?«Fast hätte er die Frage ignoriert, überzeugt, daß die bewußte Anrede mit einer Rangbezeichnung der Vor-Xin-Sheng-Ära - und dazu noch der regulären Armee - eine bewußte Beleidigung darstellte. Die Regeln dieses Austausches erfordern keine Unterhaltung. Sie bringen je fünf Gefangene an den Übergabepunkt, und wir tun das gleiche. Nicht mehr. Aber ein verstohlener Blick auf die aufmüpfige Kriegerin, während er sich schon abwandte, ließ ihn noch in der Bewegung innehalten. Aris verbarg seine Überraschung und ruckte ihr kurz zu.
»Majorin Allard-Liao«, begrüßte er sie. »Ich
hatte nicht erwartet, Ihnen hier zu begegnen.«
Sie ignorierte selbst die einfachsten Höflichkeitsregeln. »Ich
wollte den Konföderationskrieger mit soviel Qiù sehen, daß er an
einem Tag mit drei Schwarzer-Lenz-Anschlägen einen
Gefangenenaustausch vorschlägt.« Ihr Ton war grob und feindselig
und ließ keinerlei Vergebung erwarten.
Aris spürte die wachsende Anspannung unter seinen Infanteristen,
als diese Cassandra Allard-Liaos herausfordernden Tonfall hörten.
Mehr als einer von ihnen überlegt sich, ob es
den Zorn Ty Wu Nons wert ist, sie zu erschießen. Der
Shiao-zhang hatte sicheres Geleit garantiert, und unter den meisten
Umständen hätte das auch genügt. Aber Aris wußte aus eigener
Erfahrung, daß manche Krieger zu weit getrieben werden
konnten.
»Operation weiterführen«, sagte er knapp und vertraute darauf, daß
Ban-zhang Chess den Austausch überwachte. Cassandra gegenüber
zuckte er nur die Schultern. »Wir koordinieren unser Vorgehen nicht
mit verbrecherischen Thugee-Fanatikern«, stellte er mit leiser,
ruhiger Stimme fest. Er ging zwar nicht davon aus, daß sie ihm das
geglaubt hätte, aber die Nervengasanschläge widerten ihn an. Er
fand sie erbärmlich. Ein Anzeichen des Verlustes an Moral, der auf
beiden Seiten dieses Krieges stattfand, den auszutragen Aris'
Pflicht war. Daß ihn das in Konflikt mit seiner Nation,
mit seinem Haus brachte, war etwas, das
sich nicht mehr vermeiden ließ. Die öffentliche und wütende
Verurteilung Kali Liaos durch ihren Bruder, den Kanzler, für diese
Anschläge konnte Aris' Glauben an die Konföderation nur teilweise
wiederherstellen. Jetzt ist es an mir, den
Glauben in das Haus wiederherzustellen.
Aber dessen ungeachtet hatte er keine Absicht, sich in eine Debatte
über die Lage verwickeln zu lassen. Shiao-zhang Non hat mich nicht hierher geschickt, um zu
diskutieren. »Wollen wir weitermachen?« fragte er. »Das
freie Geleit gilt offiziell nur noch
eine Stunde.«
»Ich habe mir die Zahlen angesehen«, stellte Cassandra ohne
erkennbare Eile fest. »Wir scheinen zwölf gefangene Krieger mehr
als Sie zu haben. In der Hauptsache pardraysche Heimatmiliz. Zum
Teil mit Bedarf an medizinischer Versorgung.«
»Sie können sie zum Schluß bringen«, meinte Aris leichthin, obwohl
er ahnte, was kam. »Oder Ihre Gruppen auf sieben
aufstocken.«
Cassandra schüttelte den Kopf. Der Blick ihrer haselnußbraunen
Augen ließ Aris keine Sekunde los. Eine warme Brise strich über das
Grasland und zupfte an ihrem dunklen Haar. »Ich sehe keine
Veranlassung, sie ohne Gegenleistung zu übergeben. Das war in
unserer Vereinbarung nicht vorgesehen.«
Aris verschränkte die Arme vor der hageren Brust und versuchte,
eine entspannte Haltung vorzutäuschen, die er ganz und gar nicht
fühlte. Aber er mußte alles daransetzen, die Infanteristen, die sie
umgaben, ruhig zu halten. »Beide Seiten sind übereingekommen, alle
Gefangenen auszutauschen, die wir zur Zeit besitzen. Es gibt
keinerlei Übereinkünfte über einen teilweisen Austausch.«
»Dann schließen wir die jetzt«, erwiderte sie. »Ich verlange für
jeden zusätzlichen Gefangenen, den wir herausgeben, einen Rückzug
Ihrer Truppen um zehn Kilometer von den derzeitigen Frontlinien.«
Sie lächelte düster. »Oder ist es Ihnen lieber, wenn Ihre
Verbündeten in Pardray den Eindruck bekommen, daß ihre Landsleute
nicht wichtig genug sind, um sie zu verhandeln?«
»Zum T'ai Shan mit ihr«, spie einer der Hausinfanteristen unter
Bezug auf einen Han-Gott der Unterwelt.
Aris konnte es sich nicht erlauben, sich zu seinen Truppen
umzudrehen. Er konnte nur darauf hoffen, daß ihr Training sich
gegen die Herausforderung der Majorin durchsetzte. »Nehmen Sie sie
zurück«, meinte er und deutete auf die capellanischen Gefangenen,
die Cassandra mitgebracht hatte, einschließlich seiner Kameradin.
»Alle, wenn Sie wollen. Und wir nehmen unsere Gefangenen wieder
zurück.« Er zuckte die Schultern. »Oder wenn Ihnen das lieber ist,
können wir einfach die Gefangenen behalten, die wir noch haben,
einschließlich mehrerer MechKrieger Ihrer St.-Ives-Lanciers.« Er
spießte sie mit eisigem Blick auf, und seine Muskeln spannten sich
in Erwartung ihrer Reaktion. »Und vielleicht behandeln wir Ihre
Krieger dann mit derselben Aufmerksamkeit, mit der Sie die unseren offenbar
behandelt haben.«
Derartige Anschuldigungen waren ganz offenbar das letzte gewesen,
was Cassandra zu hören erwartet hatte. »Sie arroganter Wang ba
dan«, schrie sie ihn an. »Bevor ich meine Krieger noch eine Stunde
in den Händen der Konföderation leiden lasse, schicke ich Ihnen
gleich hier meine Truppen auf den Hals!«
Aris wartete nur darauf, daß einer der Soldaten auf einer der
beiden Seiten den Waffenstillstand brach. Er war sich sicher, daß
Cassandras Wutausbruch wie ein Funke im Pulverfaß wirken mußte.
Nach zwei unglaublich langen und schmerzhaften Pulsschlägen
erwiderte er: »Das könnten Sie tun. Aber bevor Sie den Befehl dazu
geben, sollten Sie bedenken, daß die Truppen hinter uns Befehl
haben, alle verbliebenen Gefangenen zu töten, bevor ein Schuß in
Ihre Richtung gefeuert wird. Sie hätten keine Chance. Und
angesichts der Tatsache, daß alle Leute in meinem Zug hier Jagd auf
Sie machen würden, Majorin Allard-Liao, würden Sie das Blutbad ganz
sicher auch nicht überleben.«
»Ebensowenig wie Sie, Sung.«
»Ich bin sicher, Haus Hiritsu würde auch nach meinem Verlust ebenso
gut kämpfen wie vorher«, stellte Aris mit gebotener Bescheidenheit
fest und entfernte sich damit nicht einmal allzu weit von seiner
tatsächlichen Einschätzung. »Können Sie dasselbe von Ihren
St.-Ives-Lanciers behaupten? Oder davon, was Ihre Familie davon
hielte, wenn Sie Ihr Leben auf so dumme Weise wegwürfen?« Er gab
ihr Gelegenheit, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Der Tatsache, daß
Cassandra sehr viel mehr zu verlieren hatte als er.
»Bastard«, beschimpfte sie ihn.
»Sie können von mir denken, was Sie wollen«, erklärte Aris gelassen
und fühlte, wie die tödliche Anspannung sich löste. »Ich werde tun,
was immer nötig ist, um meinen Eid auf Haus Hiritsu zu
halten.«
»Wir schicken unsere Gefangenen in Siebenergruppen«, knurrte
Cassandra zähneknirschend. »Aber wir werden sehr genau auf die
Uhrzeit achten, das verspreche ich Ihnen.« Sie drehte um und
stampfte wütend davon.
Aris Sung sah ihr nach. Soviel zu meiner Geste
guten Willens, dachte er. Dann verdrängte er den Gedanken
augenblicklich. HausKrieger geben nicht auf.
Ich werde es wieder versuchen.
Es kann noch nicht zu spät sein.
Pai-zhang Li Wynn überwachte in einem Ganzkörperschutzanzug für den chemischen Kriegseinsatz, genaugenommen einem ›Raumanzug‹ für Schwerkraftoperationen, die Säuberungsarbeiten seines Zugs. Ein Teil seiner Leute trug Leichen zur Verbrennung. Andere entfernten mit einer stark alkalischen Reinigungsflüssigkeit die Giftrückstände. Li Wynn sah ihnen zu und nickte beifällig.
Ruanns Raumhafen war der jüngste Schauplatz eines Thugee-Nervengasanschlags auf St. Loris. Der Anschlag hatte zum Teil Erfolg gehabt, und im schwachen Licht der Dämmerung wirkte das Gelände nicht anders als jedes Schlachtfeld, das Li je gesehen hatte. Überall auf dem Asphalt lagen Leichen herum, Gesichter und Kleidung blutverschmiert. Viele hielten noch Handwaffen in den Armen. Die Waffen gehörten zu den verschiedensten Typen, und es war keinerlei echte Organisation zu erkennen, aber ihre Effektivität zeigte sich in zwei zertrümmerten Liu-yán-Schwebelastern, von deren brennenden Wracks noch immer öligschwarze Rauchsäulen in den von der langsam untergehenden Sonne rotgefärbten Himmel stiegen.
Diese Leute sind gestorben, als sie Kosaken verteidigt haben. Sie haben den Söldnern die Zeit erkauft, vor dem Angriff zu fliehen und nach Norden auszuweichen. Li stieß eine der Leichen mit dem Stiefel an. Geschieht ihnen recht, entschied er. In der Konföderation ist kein Platz für solche verräterischen Hunde, die lieber Söldnerdreck beschützen, als dem Ruf ihres capellanischen Erbes zu folgen. Li trat fester zu und war Aris Sung dankbar für den Auftrag.
Als er erfahren hatte, daß Aris ihn zur Überwachung der Dekontamination vom Gefangenenaustausch abgezogen hatte, war in Li einen Augenblick die Wut auf seinen Sifu aufgestiegen. Warum schickt er mich hierher, fort vom Rest des Hauses, wenn nicht als erneute Strafe? Seit der Haus-Versammlung und Aris' öffentlicher Zurechtweisung Li Wynns hatte der junge Krieger alles getan, um seinem Mentor aus dem Weg zu gehen. Besser das, als sich den Zweifeln zu stellen, die ihm im Hinblick auf Aris inzwischen kamen.
Li war einer der wenigen, die von der Wahrheit über Aris' Aktionen bei der Einnahme Kaifengs durch Haus Hiritsu wußten. Er wußte, daß der junge MechKrieger das Opfer einer subversiven Bewegung innerhalb Haus Hiritsus geworden war und durch seine Intelligenz und etwas vom Glück des Tapferen lange genug überlebt hatte, um schließlich den Krebs zu besiegen, der drohte, sein Haus von innen heraus zu zerfressen. Und dieser Aris Sung mahnte jetzt zu Vorsicht und Selbstbeschränkung? Forderte Shiaozhang Non offen heraus und rügte implizit sogar den Kanzler? Li Wynn hatte seine Zweifel für sich behalten, die Augen offengehalten und gewartet.
Anscheinend waren seine Sorgen unbegründet gewesen. Hier hatte Aris ihm einen Gefallen getan. Wer will schon den ganzen Tag unter sicherem Geleit verbringen und Gefangene austauschen? Hier war der wirkliche Krieg zu finden. Rings um ihn herum, ein glorreiches Zeugnis der absoluten Macht Kanzler Sun-Tzu Liaos. Der Kanzler mochte sich vor den politischen Folgen schützen, indem er seine Schwester Kali vorschob, aber Li Wynn glaubte nicht daran, daß jemals irgend etwas auf Sian - oder, was das betraf, irgendwo in der ganzen Konföderation Capella - geschehen konnte, ohne daß Sun-Tzu Liao darüber informiert war.
Wenn Aris mich hierher geschickt hat, damit ich lerne, damit ich verstehe, dann ist sicher das der Grund. Sein Atem hallte in der sterilen Enge des Schutzanzugs in Li Wynns Ohren, als er den Blick über das kalte Totenfeld schwenkte und seine Leute arbeiten sah. Der rotorangefarbene Himmel hing schwer über ihnen, verdunkelt von schwarzem
Qualm. Wie die Spiegelung einer in Flammen aufgehenden Welt. Li Wynn empfand das als äußerst passend.
Brennen soll er, dachte er und nickte in stummem Beifall für das Omen der Natur. Der ganze St. IvesPakt, brennen soll er.