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Hsao-qing-Ebene, Layting, St. Loris Herzogtum St. Loris, St. Ives-Pakt3. April 3062
Autokanonenfeuer fraß sich keine fünf Meter vor dem Cockpit des Spuk in den weichen Boden. Als er nach oben blickte, sah Aris Sung durch das Kanzeldach die schillernden Laserimpulse der in heftigem Schußwechsel verkeilten BattleMechs. Ty Wu Nons erster Fehler bestand darin, Cassandra Allard-Liao zu unterschätzen, dachte er. Er schüttelte die Nachwirkungen des Sturzes ab und arbeitete mit Pedalen und Steuerknüppeln daran, den Mech wieder aufzurichten.
Drei Wochen dauerten die Kämpfe auf St. Loris inzwischen, und Haus Hiritsu und die Panzerbrigade hatten Elemente der St.-Loris-Heimatmiliz und Chorsachows Kosaken allmählich immer weiter zurückgedrängt. Die 2. St.-Ives-Lanciers waren bei der ganzen Operation aber verdächtigerweise nicht aufzufinden gewesen. Durch die solide Operationsbasis der Konföderation auf der Inselnation Pardray und dem zu weitflächigen - als daß die Paktkräfte den Kontinent hätten ganz abdecken können - Festlandgebiet Laytings war es zu großen Gebietsgewinnen gekommen. Aber jeder Quadratmeter dieses Territoriums mußte bewacht werden, und jetzt hatten Cassandras 2. St.-Ives-Lanciers in einem Flankenangriff tief in das capellanisch kontrollierte Gebiet in den Kampf eingegriffen. Zwei Kompanien HausKrieger und zwei weitere der kürzlich eingetroffenen 3. Konföderations-Reservekavallerie sahen sich plötzlich einem Bataillon der St.-Ives-Lanciers gegenüber, das von zwei Heimatmilizkompanien unterstützt wurde.
Alles Capellaner,
dachte Aris, und bei dem Gedanken zogen sich seine Eingeweide
zusammen.
In der Saunahitze des Cockpits wischte er sich eine schweißnasse
Hand an der äußeren Stoffschicht der Kühlweste ab, bevor er sie
wieder um den Steuerknüppel legte. Er richtete den Spuk wieder auf und zog ihn dann rückwärts in eine
dichte Baumgruppe aus Zedern und Tannen, um einem ihn verfolgenden
Strom leichter Autokanonengranaten zu entgehen. Blutrote
Energiepfeile knatterten aus seinen Impulslasern und in einen
Pegasus-Schwebepanzer, der sich zu nahe
heranwagte. Die gebündelte Lichtenergie fraß sich in die Panzerung
des Fahrzeugs und versprühte geschmolzenes Metall. Dann sah Aris
den Cestus wieder. Das gedrungene
Profil und die sauberen Linien seiner Konstruktion waren in dem
Gewirr aus Mechs und Panzern, die aus Norden vorrückten,
unverwechselbar. Cassandra, und wenn sie
fällt, fallen die Lanciers mit ihr.
»Ostscout-Alarm«, hämmerte eine in der
Enge des Neurohelms laut hallende Stimme in seine Ohren. »Springe,
Aris!«
Aris löste die Sprungdüsen aus und riß seinen Spuk auf Feuersäulen aus supererhitztem Plasma
senkrecht in die Höhe. Er reagierte, ohne sich den Bruchteil einer
Sekunde Zeit zu nehmen, der nötig gewesen wäre, sich auf der
eigenen Sichtprojektion zu vergewissern, sogar noch bevor er die
Stimme seiner Stellvertreterin Paizhang Raven Clearwaters erkannt
hatte, einer Lanzenführerin seiner Kompanie. Der Ostscout, eine mit einem ZES-Markierungslaser
bestückte Heimatmilizmaschine, war durch eine schmale Schlucht im
Osten in die Hiritsu-Linien vorgedrungen. Ein ZESbestückter Mech
war in der Lage, massiven Artilleriebeschuß zu dirigieren und
stellte eine ernstzunehmende Gefahr dar. Aris hätte das
Ausweichmanöver ausgelöst, gleichgültig, von wo die Warnung ihn
erreicht haben würde. Jedenfalls versuchte er sich das einzureden,
auch wenn ihm die Entschuldigung selbst reichlich fadenscheinig
erschien, nachdem er nun zum dritten Mal einer Konfrontation mit
Cassandra AllardLiao ausgewichen war.
Er nahm Kurs auf eine andere Baumgruppe, mußte aber feststellen,
daß er es nicht bis dorthin schaffen würde. Deshalb beendete er den
Sprung vorher, um hinter einem Hügel abzutauchen. Vom Scheitelpunkt
der Flugbahn aus sah er Raven Clearwaters Hurone von hinten gegen den ZES-bestückten
Ostscout vorrücken, vor dem sie Aris
gewarnt hatte. Sie nahm die Miliz-Maschine mit PPK und
Gaussgeschütz unter Beschuß, aber der leichte Mech wich ihr aus und
rannte die Hiritsu-Linie hinab davon.
Zhang-si Sainz kam in seinem Cataphract
nicht schnell genug weg und wurde von zwei Artilleriesalven
erwischt. Rund um seinen schweren Mech schien der Boden zu
explodieren. Der Cataphract ging unter
einem direkten Artillerietreffer, der seine rechte Rumpfseite
aufriß und die dort eingelagerte Autokanonenmunition zur Detonation
brachte zu Boden, während die zweite Granatensalve das rechte
Mechbein abriß. Der Ostscout rannte
zurück in den Schutz der eigenen Linien. Der Pilot schien keine
Lust zu haben, einen zweiten Versuch zu riskieren, außerdem hatte
er ja schon einen Mech zur Strecke gebracht, der das Doppelte
seiner eigenen Maschine wog.
Eine neue Hitzewelle schlug durch das Cockpit des Spuk, als Aris landete, und die Abwärme des im
Innern des Fusionsreaktors auf Sonnenhitze aufgeheizten
Sprungdüsenplasmas trieb die Wärmeanzeige tief in den roten
Bereich. Mit fünfundfünfzig Tonnen Masse verließ der Spuk sich für das Überleben auf dem Schlachtfeld
mehr auf seine Beweglichkeit als auf die Schutzwirkung seiner
Panzerung. Aris rang keuchend nach Sauerstoff. Die Luft in der
Kanzel war kaum noch atembar. Er wußte, daß er zuviel sprang, aber
trotzdem hatte er die Düsen bei jeder sich bietenden Gelegenheit
eingesetzt, um die Waffen nicht abfeuern zu müssen. Er konnte sich
nicht länger etwas vormachen, nicht, nachdem er einen seiner
Krieger in einem Bombardement hatte fallen sehen, das für ihn
bestimmt gewesen war.
Aris konnte sich nicht erinnern, wann er zum erstenmal diesen
Widerwillen bemerkt hatte, auf PaktKrieger zu feuern.
Möglicherweise hatte er schon auf Hustaing gegen die
Blackwind-Lanciers erste Anzeichen davon gespürt, später auf Denbar
aber ganz sicher. Aber der entscheidende Auslöser waren die
Schlachtfelder Nashuars gewesen, Gefechte ganz ähnlich wie dieses,
ohne Gnade ausgetragen, in denen beide Seiten darum kämpften, ihre
Quote an capellanischem Blut einzutreiben. Und allzu oft waren
Zivilisten in ihr Kreuzfeuer geraten.
Ich bin ein HausKrieger! Meine Pflicht ist es,
dem Willen des Shiao-zhang zu dienen, der seinerseits die Befehle
des Kanzlers ausführt. Spielt es eine Rolle, daß meine Gegner -
meine Feinde - ehemalige Bürger der Konföderation
sind?
Es hätte keine Rolle spielen dürfen, aber es spielte eine.
Weil sie bald wieder Konföderationsbürger sein
werden. Und wenn es in diesem Krieg nicht darum geht, die
capellanische Nation wiederzuvereinen, worum geht es dann?
Aris konnte sich nur in einem Punkt sicher sein: Es war nicht an
ihm, Kanzler Liaos Handlungsweise zu hinterfragen. Ich brauche nicht zu verstehen, warum. Ich brauche nur zu
handeln!
Der Befehl gellte durch Aris' Gedanken, und augenblicklich warf er
den Spuk in einen Galopp und rannte aus
der Deckung des Hügels. Es war, als wäre er in einen chaotischen
Flußlauf gesprungen, mit Strudeln ans Qualm und Explosionen, die
wie aufgewühltes Weißwasser um ihn herum brodelten. Aris schluckte
schwer in der trockenen, metallischen Luft der Kanzel und setzte
seinen besten Befehlston auf.
»Clearwater und McDaniels, bringen Sie Ihre Lanzen stafettenartig
vor. Erste Lanze zu mir.« Er drehte hart nach links ab, um einem
brennenden Victor auszuweichen und
entkam damit gleichzeitig zwei PPK-Blitzen, die vergeblich nach dem
Spuk griffen. »Wir schlagen eine
Bresche in die PaktLinie, und die Reservekavallerie hält sie
offen.«
Die improvisierte Strategie schien zu funktionieren. Die Schlacht
hatte sich zu einem Schußwechsel auf mittlere Distanz entwickelt,
und die Pakt-Kräfte schienen auf einen Sturmangriff schlecht
vorbereitet. Aris führte seine Einheiten gegen die Sektion der
Linien, in der die Heimatmiliz an die vordere Flanke der
St.-Ives-Lanciers stieß, in der Hoffnung, die natürlichen
Differenzen zwischen den Einheiten auszunutzen. Trotzdem konnte er
ein Zusammenzucken nicht unterdrücken, als er mitansehen mußte, wie
Raven Clearwaters Gausskugeln den Kopf eines Pakt-Helios zertrümmerten und ein weiterer PaktPilot zu
Tode kam.
Dann sah er den Cestus, und alle
anderen Überlegungen wurden unwichtig.
Unter dem Eindruck der zusammenbrechenden linken Flanke hatte
Majorin Cassandra Allard-Liao offenbar Elemente vom
gegenüberliegenden Flügel abgezogen, um der Bedrohung zu begegnen.
Shiaozhang Ty Wu Non, dessen überschwere Kompanie diesen Teil des
Schlachtfelds durch brutale Gewalt und die großen Panzerreserven
seiner Maschinen gehalten hatte, stieß jetzt ebenfalls vor, wenn
auch sehr viel langsamer. Die durch die geringere Geschwindigkeit
seines Yu Huang und einiger anderer
Modelle aufgehaltene Einheit fiel weiter hinter Aris' Kompanie und
die Reservekavallerie zurück, die hinter seinem Sturmangriff nach
vorne preschte.
Jetzt zeigte die konzentrierte Feuerkraft der St.Ives-Lanciers ihre
Auswirkungen bei dem Kriegerhaus. Richard Smiths Donner ging unter einem Bombardement von Raketen zu
Boden. Ravens Hurone geriet unter einem
Feuersturm von Lasern und Autokanonen ins Stolpern, blieb aber auf
den Beinen, auch wenn sie effektiv zum Stehen gebracht worden war
und die Panzerung ihres Kampfkolosses mehr Erinnerung als Fakt war.
Und Cassandras Gaussgeschütz richtete für sich genommen schon eine
erstaunliche Verwüstung an, riß ganze Mecharme weg und brach durch
Rumpfpanzerungen und darunterliegende Stützstreben. Ein
RegulatorSchwebepanzer wurde an der
Schürze getroffen, und die Kugel zertrümmerte die darunterliegenden
Hubpropeller. Der Panzer verlor sein tragendes Luftkissen, krachte
mit über hundert Stundenkilometern auf den Boden und löste sich in
einer von Erdklumpen und Staubwolken begleiteten Rutschpartie in
seine Einzelteile auf. Auch Aris' Spuk
bekam einen Treffer ab. Die nur als silbriger Lichtreflex auf dem
Sichtschirm aufzuckende Kugel schlug voll in die Brustpartie der
stahlblauen Maschine. Der letzte Rest ihrer Panzerung regnete
zerborsten zu Boden, als die Kugel vom Gyroskopgehäuse abprallte
und den Spuk schwer ins Taumeln
brachte. Zum zweiten Mal in ebensovielen Minuten krachte Aris in
seiner Maschine zu Boden.
Er wurde so hart zurück gegen die Liege und vor in die Gurte
geschleudert, daß Aris fast ohnmächtig geworden wäre. Er klammerte
sich mit schierer, grimmiger Entschlossenheit an sein Bewußtsein
und hebelte sich mit den Mecharmen des Spuk hoch. Eine kurze Sekunde glaubte er, die
Maschine hätte sich um die eigene Achse gedreht, als die
Sichtprojektion einige Mechs der 3. Reservekavallerie vor seiner
Position zeigte. Dann erkannte er, daß sie zwischen seiner Kompanie
und den St.-Ives-Lanciers standen und ungedeckt vorstürmten. Trotz
der Resthitze in der Pilotenkanzel lief ihm ein eisiger Schauer den
Rücken hinab, und er brachte den Spuk
feuernd wieder auf die Beine.
Von Haus Hiritsus Vormarsch gedeckt, war es der Reservekavallerie
gelungen, nahezu unverletzt zu bleiben. Jetzt warf sich eine halbe
Kompanie aus sechs leichten bis mittelschweren BattleMechs,
sämtlich ältere, aber trotzdem tödliche Modelle, ohne Rücksicht auf
ihre eigene Sicherheit nach vorne und versuchte sich zu Cassandras
Cestus durchzukämpfen.
Aris wußte nicht, wer diesen Angriff leitete, deshalb brüllte er
nur ins Mikro: »3. Reservekavallerie, abbrechen. Zurück!«
Aber die leichteren Maschinen waren zu schnell. Es war schon zu
spät, als sein Befehl kam, und das wußte er auch. Heimatmiliz- und
Lancier-Mechs schlossen sie ein, schnitten die Reservekavalleristen
ab und verhinderten einen Durchbruch der Krieger unter Aris'
Befehl, denen jetzt für einen erneuten Angriff die Masse fehlte. Ty
Wu Non befahl Aris und seine Leute zurück.
Vier der Reservekavalleristen schafften es, Cassandras Cestus auf kurze Distanz zu stellen. Aber während
sie auf sich allein gestellt waren, hatte Cassandra die Feuerkraft
einer ganzen Kompanie zur Verfügung. Und die Majorin zögerte nicht,
sie einzusetzen. Die Lanciers brachten in einem wilden Feuerwechsel
alle vier Mechs zur Strecke, und Aris unterbrach seinen Rückzug
lange genug, um nachzusehen, ob die kleine Einheit es geschafft
hatte, die Pakt-Kommandeurin auszuschalten. Aber der Cestus regte sich, kam wieder auf die Beine und
ragte Sekunden später hoch über den Wracks der capellanischen Mechs
auf.
Aris schlug mit der Faust auf die Armstütze der Pilotenliege. Er
war wütend und verzweifelt, hätte aber nicht erklären können,
warum. Weil sie aus der Formation ausgebrochen und umsonst
gestorben waren, oder weil sie ihm den Sturmlauf gestohlen und ihn
daran gehindert hatten, das selbst zu tun? Er wußte es nicht. Die
Gefühle und Gedanken, die ihn zu diesem Angriff bewegt hatten,
waren verblaßt und verflüchtigt. Es gab keine Antwort, außer der,
daß noch mehr Krieger gefallen waren, und er ihnen den Weg in den
Tod gezeigt hatte.
»Alle Einheiten, Rückzug«, ordnete Ty Wu Non über die allgemeine
Frequenz an. »Sammeln an der Dorfgrenze von Chingda-sun.« Die
Lichter auf der Kommkonsole des Spuks veränderten sich und zeigten
an, daß der Haus-Meister mit den Pai-zhangs reden wollte. »Ich will
heute keine Krieger mehr ihren hoffnungslosen Kampf suchen sehen.
Behaltet die Reservekavallerie im Auge.«
Reicht es wirklich, die Reservekavallerie im
Auge zu behalten? fragte sich Aris. Der Gedanke löste eine
Welle der Unsicherheit aus, und er rang mit seinen Gefühlen.
Ist das wirklich das Ende, nach dem ich
suche?