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Landungsschiff Todesblüte,
an einem Piratensprungpunkt im Taga-System Xin-Sheng-Kommunalität,
Konföderation Capella
Petir Andreiwitsch schwamm in der Schwerelosigkeit des gut ausgestatteten Starthangars des Landungsschiffes der Union-Klasse durch die Luft und schloß die Startvorbereitungen des hundert Jahre alten Luft/Raumjägers ab. Ein letzter Flug, versprach er dem Luzifer wortlos, packte eine Strebe und zog sich mit festem Griff auf den Schottboden. Ein vergifteter Dolchstoß tief ins Herz des St. Ives-Pakts.
Die erste vom Sprungschiff You-dù Xin-záng übertragene Sprungwarnung war bereits verklungen. Nach dem nächsten Warnsignal würden sie aus dem System Tagas an einen sorgfältig berechneten Piratenpunkt springen, der sie in minimaler Distanz über Tian-tan zurück in den Normalraum trüge, der planetaren Hauptstadt St. Ives' und des ganzen Paktes. Petir hatte sich gegen erfahrene Brüder des Thugeekults die Ehre erkämpft, diesen Flug steuern zu dürfen. Die Göttin lächelt mir zu. Sie weiß, ich werde sie nicht enttäuschen.
Er stieß sich von der Strebe ab und trieb zum Bug des Luft/Raumjägers, wo er einen neuen Halt fand. Er schaute in die täuschend friedliche Dunkelheit der vorderen Raketenabschußrohre und legte die Hand auf die kühle Metallhaut des Jägers. Eine Rakete, von der Göttin gesegnet. Mehr braucht es nicht, um Candace Liaos unselige Tyrannei zu beenden.
Das Landungsschiff Todesblüte würde vom Sprungschiff abkoppeln und Kurs auf St. Ives nehmen. An einem bestimmten Punkt der Flugbahn würde sein einsamer Jäger aus dem Hangar preschen und Kurs nicht nur auf Tian-tan nehmen, sondern gezielt auf das Präsidentenpalais. Wir werden vielleicht nicht wieder ansteigen, aber das ist Karma, und in diesem Leben - oder dem nächsten - wird die Göttin mich belohnen.
Petir glitt hinüber zur Cockpitleiter und hob sich in die Pilotenkanzel. Während er sich anschnallte, drang die zweite Warnung aus den Hangarlautsprechern, drei gellende Alarmtöne, die den Sprung ins System von St. Ives ankündigten. Er hatte sich entschieden, den Sprung in seinem Luft/Raumjäger zu erleben. Er konnte bereits spüren, wie das Raumschiff, mit dem die Todesblüte im Augenblick vereinigt war, seine Energien abstrahlte, obwohl ihm zugleich klar war, wie lächerlich das war.
Der Kearny-Fuchida-Antrieb eines Sprungschiffs gab seine gespeicherte Triebwerksenergie in einem gewaltigen Stoß frei, der das Raum-Zeit-Gefüge des Einsteinkontinuums aufriß und das Sprungschiff mitsamt seinen Landungsschiffpassagieren bis zu dreißig Lichtjahre weit schleuderte. Die Auswirkungen der Schwerkraftsenke eines Sonnensystems erforderten in der Regel, daß Absprung ebenso wie Ankunft weit außerhalb der Ekliptik stattfanden, üblicherweise an den Zenith- und Nadirsprungpunkten über dem Nord- bzw. Südpol der Sonne. Piratensprungpunkte, Koordinaten innerhalb eines Systems, an denen sich konkurrierende Schwerkrafteffekte gegenseitig aufhoben, erforderten genauere Berechnungen, erlaubten es aber, die Flugzeiten zu den bewohnten Planeten dramatisch zu verkürzen. Die Bresche in St. Ives' Panzer, dachte Petir. Wir werden materialisieren, wenn sein Mond nahezu senkrecht über Tian-tan steht. Eine Mondfinsternis. Welch besseres Omen kann es für die treuen Diener der dunklen Göttin geben?
Und dann geschah es. Die You-dù Xin-záng sprang.
Petir erlebte den Hyperraumsprung immer als eine Sache von
Sekunden, auch wenn er für andere Passagiere einige Minuten dauern
konnte. Jeder Mensch erlebte die Erfahrung der Transition anders,
und selbst für ein und dieselbe Person konnten zwei separate
Sprünge sich völlig verschieden darstellen. Sie konnten kurz oder
ausgedehnt sein, sie konnten Übelkeit hervorrufen, gelegentlich
kaltes Entsetzen. Niemand verstand wirklich, warum. Petir pflegte,
wenn das Gespräch darauf kam, den traditionellen Pilotenaberglauben
zu vertreten, daß diese Erlebnisse ein kurzes Aufblitzen von
Wahnvorstellungen bedeuteten, wenn der Verstand versuchte, mit dem
Konzept fertig zu werden, daß er im realen Raum-Zeit-Kontinuum
nicht existierte. Aber nach überstandenem Sprung dankte er jedesmal
der Göttin für die sichere Reise und sonnte sich im Ruhm der
Menschheit, der es gelungen war, über die Naturgesetze zu
triumphieren.
Nur wollte es diesmal nicht dazu kommen.
Das physische Universum schien sich in eine vierte Dimension zu
dehnen. Alles verzerrte sich, als es vor ihm auf einen unendlich
weit entfernten Horizont zuwirbelte, nur um zurück in eine nahezu
perfekte Ansicht der Realität zurückzuwirbeln, bevor der ganze
Prozeß noch einmal begann. Sein Geist schrie, grell und
schmerzhaft. Noch nie hatte ein Hyperraumsprung ihn so ganz und gar
mit Schrecken erfüllt. Und gerade, als er die äußerste Schwelle
geistiger Gesundheit überschritten zu haben schien, dehnte sich das
Universum in eine andere Richtung und zog ihn mit ins Chaos.
Plötzlich hatten alle Farben einen eigenen Geruch, und er konnte
seinen Aufschrei als dunklen Schatten sehen, der sich wie ein
Mantel um ihn legte. Er kämpfte gegen ihn an, grub die Fingernägel
in seinen Aufschrei und spürte, wie der seine Hände
verbrannte.
Der Sprung muß vorbei sein, stellte ein
winziger Rest rationalen Denkens fest, der im Mahlstrom seines
Geistes beinahe unterging. Er ist vorbei, denn
ich kann denken und mich bewegen. Ich hänge nicht zwischen den
Sekunden fest. Er versuchte die Augen zu schließen, aber die
Dunkelheit war noch entsetzlicher als die verzerrte Wirklichkeit.
Petir schluchzte.
Der Luzifer, erinnerte er sich.
Die Göttin. Nichts, was seine Augen
sahen, ergab einen Sinn. Er biß sich in die Unterlippe und
versuchte, sich auf den Schmerz zu konzentrieren. Er identifizierte
etwas, möglicherweise die Tragfläche des Luft/Raumjägers, aber der
Geruch geölten Metalls behinderte seine Sicht. Er versuchte, sich
in diese Richtung zu krallen, konnte sich aber nicht bewegen. Ein
dunkles, bitteres Aroma hielt ihn fest, lag um seine Schultern und
quer über seinem Schoß. Meine Gurte. Ich bin
schon angeschnallt.
Aber nach dieser bestandenen Herausforderung folgte sofort die
nächste - denn er versuchte, die Kontrollen zu identifizieren. Vor
ihm breitete sich die Konsole aus, eine grenzenlose Weite
gebirgigen Geländes, überzogen von graskaltem Stahl. Eine Prüfung. Sie stellt mich auf die Probe. Auf
dem Gipfel des Berges konnte er gerade noch die Göttin erkennen,
die auf ihn wartete.
Wild auf seiner Lippe kauend, machte Petir sich an den langen
Aufstieg.
Landungsschiff Todesblüte, im St.-Ives-System Herzogtum St. Ives, St. Ives-Pakt
So klein sie war, mußte Lieutenant General Simone Devon sich noch verdrehen, um durch eine verzerrte Luke in den Verbindungskorridor der Todesblüte zu gelangen. Die Schwerelosigkeit machte es einfacher, als es ihr unter Schub in ihrem Raumanzug möglich gewesen wäre. Die metallene Schottwand hatte sich weit ausgebeult, die Stützstreben waren vorbogen wie Kaugummi. Es war erstaunlich, daß irgendein Teil des Schiffes noch luftdicht war. Zwischen ihren Versuchen, mit den Verwundeten zu sprechen, hielt sie das Visier des Raumhelms sicher geschlossen.
Devon hatte sich zufällig auf der Brücke der Carthage aufgehalten, ihres im Anflug auf St. Ives befindlichen Landungsschiffes, als der Näherungsalarm angesprochen hatte. Da sie keine Kontrollkonsole zu beobachten hatte, war ihr erster Blick zum Hauptschirm gezuckt, auf dem kurz zuvor noch die Weltkugel von St. Ives allmählich größer geworden war. Jetzt trieb ein zerschmettertes Schiffswrack voraus im Raum, ein in einer Wolke von Trümmern treibender zerfetzter Raumschiffsleichnam, vor der Nachtseite des Planeten kaum zu erkennen.
»Sprungschiffalarm«, hatte jemand gerufen.
»Alarmstart der Jäger!«
»Befehl zurück«, hatte Devon angeordnet und war dichter vor den
Sichtschirm getreten. »Mein Gott, seht euch das an. Es ist ein
Trümmerhaufen.« Sie hatte sich zum Kapitän des Schiffes umgesehen.
»Rettungsboote und Bergungsmannschaften bereitmachen.«
Jemand hatte etwas von Kaifeng gemurmelt, der Agrarwelt der
Souveränität Sarna, die von den Capellanern mit Hilfe einer
fingierten Sprungschiffhavarie überfallen worden war. Sie hatte den
Kopf geschüttelt. Das Sprungschiff dort draußen war in drei Teile
zerrissen. Die Hälfte seines Antriebs war verschwunden. Und - was
sie niemals freiwillig irgend jemandem gegenüber eingestehen würde
- sie hatte geglaubt, gerade eine große Sektion des Wracks wieder
ins Nichts verschwinden gesehen zu haben. Eine
Illusion, hatte sie sich beruhigt. Immerhin sehen wir das alles nur unter etwas
Sternenlicht.
Simones Rettungsboot hatte sie zur Todesblüte getragen, deren Name unmittelbar unter
dem Wappen der Konföderation Capella in chinesischen Ideogrammen
auf den Rumpf gemalt war. Das Schiff trieb mit den Resten des
zertrümmerten Dockkragens abseits des Sprungschiffs und schien in
besserem Zustand als dieses. Wenn es überhaupt Überlebende gab,
hatte sie gedacht, dann sicher hier.
Es gab tatsächlich Überlebende, wenn man sie so nennen
durfte.
Die Notschotten hatten die Hüllenbrüche abgeriegelt und vielen
Besatzungsmitgliedern ein Überleben ermöglicht. Einige hatten nach
dem Fehlsprung Selbstmord begangen. Ein Crewmann hatte sich selbst
die Augen ausgestochen und heulte unablässig, bis er betäubt wurde.
Viele andere waren katatonisch, aber ein paar wüteten wahnwitzig
oder plapperten in seliger Gelassenheit völlig unverständliches
Kauderwelsch. Nur die wenigsten verfügten noch über die nötige
Geistesgegenwart, um sich in der Schwerelosigkeit zu bewegen, und
keiner von ihnen besaß die Kraft, sich zu widersetzen. Die
Raumgardisten in ihrer Begleitung halfen, die Verwundeten zu den
Rettungsbooten zu schaffen. Simone Devon gab die Hoffnung
allmählich auf, jemanden zu finden, der Fragen beantworten konnte.
Es würde mir schon genügen herauszufinden, von
wo das Schiff abgesprungen ist, auch wenn es sicher besser wäre zu
erfahren, was aus der militärischen Ausrüstung geworden ist, die
ein capellanisches Militärschiff bei einem Sprung nach St. Ives
mitgeführt haben müßte.
Fast hätte sie den Jägerhangar ignoriert, als sie in dem engen Raum
niemanden hilflos umhertreiben sah. Keiner, der schrie oder
schluchzte. Dann drang das Bild zu ihr durch, und sie steckte noch
einmal den Kopf um die Ecke. Da saß jemand ruhig im offenen Cockpit
eines alten Luzifer. Simone winkte den
Gardisten, ihr zu folgen und führte sie durch die Luke, über einen
Riß im Schottboden, der drei Decks tief reichte. Vier von ihnen
schwebten hoch und hielten sich am Rand des offenen Cockpits
fest.
Der Pilot trug einen Raumanzug, aber keinen Helm, und starrte aus
leeren Augen auf seine Instrumente. Stumme Tränen strömten über
sein Gesicht und vermischten sich mit dem Blut seiner zerfleischten
Unterlippe. Eine Hand war um die untere Hälfte des Steuerknüppels
gelegt, und die Finger arbeiteten sich millimeterweise aufwärts.
Die andere Hand hielt er ausgestreckt über einer Schalterreihe, als
hätte er sie vergessen.
»Können Sie mich verstehen?« fragte Simone. Im Innern des Helms
klang ihre Stimme sehr laut, aber sie wußte aus Erfahrung, wie
gedämpft sie nach außen dringen würde. Sie fragte noch einmal,
lauter.
Keine Antwort. Sie griff ins Cockpit und faßte die freie Hand des
Mannes. Auf ihre Berührung hin weiteten sich dessen Augen, und die
Tränen strömten heftiger. Sie öffnete den Helm.
»Können Sie mich verstehen?« fragte sie wieder. »Wir wollen Ihnen
helfen.« Nichts. »Schaffen wir ihn hier raus«, sagte sie, und
mehrere Hände machten sich an den Gurten zu schaffen, während
andere an den Armen des Piloten zogen. Der Mann schrie auf und
schlug krampfhaft mit dem linken Arm um sich, ohne daß seine Rechte
den Steuerknüppel losließ.
In den letzten Sekunden ihres Lebens konnte Lieutenant General
Simone Devon sich nur fragen, was die Konföderation mit einem
Landungsschiff der UnionKlasse und
einem einzigen Luft/Raumjäger zu erreichen hoffte.
Das Cockpit füllte sich mit bunten Klängen, dann fühlte Petir Andreiwitsch die kalte Berührung der Göttin. Noch nicht, flehte er. Nicht jetzt, da ich so kurz davor bin. Dann schwamm ein halbes Dutzend Arme durch die verzerrte Welt, als seine Göttin ihn zu sich holte. Er schlug um sich, bettelte um einen Augenblick mehr Zeit. Die Hangartore blieben verschlossen, der Jäger eine süßduftende Kälte, aber seine Belohnung war ihm für das Abfeuern der gesegneten Rakete versprochen. Er fühlte eine eisige Kante durch den Handschuh und konzentrierte sich darauf, den Befehl an seine Hand zu schicken. Die Sicherheitsabdeckung hochklappen und feuern. Die Sicherheitsabdeckung hochklappen. Hochklappen! Feuer!
Ein sauerorangefarbenes Donnern göttlicher Gnade schlug über ihm zusammen und badete sein Gesicht in roter Wärme. Die vielen Arme gaben ihn frei und gestatteten ihm, seinen Sieg zu genießen. Dann fühlte er die dunkle Göttin körperlich in sich eindringen, ihm die Kontrolle über seine Muskeln und Sinne nehmen. Die Dunkelheit schloß sich um ihn, aber diesmal hatte Petir Andreiwitsch keine Angst. Er war gesegnet.