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Overlake-Krankenhaus, Hunan, St. Loris Herzogtum St. Loris, St. Ives-Pakt6. Mai 3062
Die Hände ohnmächtig zu Fäusten geballt, deren Nägel sich in ihre Handflächen gruben, starrte Cassandra Allard-Liao durch die Glaswand in die Intensivstation des Overlake-Krankenhauses. Eine der Schwestern hatte die Vorhänge weit genug geöffnet, um ihr den Blick auf Tamas Rubinsky zu ermöglichen, dessen bleiches, eingefallenes Gesicht unter den Schläuchen des Beatmungsgeräts kaum zu sehen war. Zwei Ärzte standen am Fuß des Bettes und unterhielten sich. Cassandra hätte sie lieber mehr tun und weniger reden sehen, aber gleichzeitig wußte sie, daß man hier alles Menschenmögliche für Tamas tat. Hunans größtes Krankenhaus gehörte zu den besten Einrichtungen auf ganz St. Loris für die Behandlung von Chemieunfällen. Jetzt war es eines der Hauptbehandlungszentren für die wenigen Überlebenden der Nervengasanschläge.
Was wäre ohne Tamas aus
mir geworden? Cassandra hielt sich durch pure
Entschlossenheit auf den Beinen. Ihre Kraft war durch die
Anstrengungen der letzten zwei Wochen und die letzten
vierundzwanzig durchwachten Stunden längst erschöpft. Sie trug noch
immer den Overall, den sie für den Landungsschiffsflug über
Kühlweste und Shorts gezogen hatte, weigerte sich aber zu gehen,
solange sie nichts Verbindlicheres über Tamas' Zustand zu hören
bekam als: »Wir tun, was wir können.« Kaffee half nicht mehr, nicht
einmal die bittere, schlammige Brühe, die ihr ein
NotfallAssistenzarzt brachte.
Sie hatte das Angebot ausgeschlagen, sich in einem freien Zimmer
hinzulegen, und als ein besorgter Arzt versucht hatte, sie zu
zwingen, hatte sie ihren Familiennamen ins Spiel gebracht. Es war
eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen sie je versucht hatte,
nur durch das Glück ihrer Geburt etwas zu erreichen, aber hier
betrachtete sie es als gerechtfertigt.
Deshalb drehte sie sich gar nicht erst um, als sie wieder jemanden
neben sich spürte, sondern fertigte ihn nur mit einem knappen
»Danke, mir geht es gut« ab.
»Ich würde es mir nicht herausnehmen, Ihnen zu widersprechen«,
antwortete eine Stimme, deren slawischer Akzent ihr vertraut war.
»Aber Sie gestatten, daß ich Ihnen Gesellschaft leiste?«
Cassandra riß überrascht den Kopf herum. »Colonel Rubinsky.« Sie
stockte, wußte nicht, was sie sagen sollte. »Was geschehen ist, tut
mir so leid, Colonel. Und für alles, was das wert ist: Ich bin
Ihnen für Tamas' Tapferkeit dankbar.«
Trotz seiner neunundfünfzig Jahre hatte Marko Rubinsky eine
beeindruckende militärische Haltung. Er stand mit im Rücken
verschränkten Händen so gerade vor ihr, als habe er einen
Stahlträger als Rückgrat. Stahlgraues Haar und ein kurzgestutzter
Bart rahmten Züge von demselben robust guten Aussehen ein, das auch
sein Sohn teilte. »Als die Nachricht von den Anschlägen kam - St.
Ives, Indicass -, hat Tamas seine Kompanie genommen und sich zu
Ihnen auf den Weg gemacht. Nichts hätte ihn aufhalten
können.«
Keinerlei Anzeichen für eine Zustimmung oder Ablehnung des
Colonels. Eine einfache Tatsachenfeststellung mußte genügen, das
Heldentum seines Sohnes zu fassen, in der üblichen geradlinigen Art
der Kosaken. Cassandra entschied sich, das als Zeichen zu deuten,
daß der Colonel ihren Dank angenommen hatte.
»Wie ist es geschehen?« fragte Rubinsky, bevor sie ihm noch einmal
dafür danken konnte, was sein Sohn getan hatte.
Wo sollte sie anfangen? Cassandra schaute zurück auf die
Intensivstation zu Tamas, dann trat sie einen Schritt beiseite,
damit auch sein Vater etwas sehen konnte. »Das Lancier-Bataillon
teilte sich am Tag Neun wie geplant in Kompanien auf, um die
jeweiligen Einzelziele zu verfolgen. Am Tag Elf, am zweiten Mai,
wurde meine BefehlsKompanie nach Sichtung eines capellanischen
Landungsschiffes von schweren Störsendungen betroffen. Ich ging
davon aus, daß eine Panzerbrigade-Kompanie Jagd auf uns machte. Da
unsere Planung keine schweren Gefechte vorsah, wichen wir aus,
konnten den Störsendungen aber nicht entkommen. Der Gegner
verfolgte uns. Wir fingen nur Bruchstücke vereinzelter Nachrichten
auf, nicht genug, um irgendeinen Sinn zu erfassen. Gestern holten
sie uns ein.«
Rubinsky nickte. »Das war, nachdem Sie Tamas begegnet waren,
da?«
»Ja, ich fing verstümmelte Funksprüche auf der Privatfrequenz auf,
die wir uns reserviert hatten - so wußte ich, daß er in der Nähe
war. Dann hat meine ScoutLanze ihn und seine Kompanie südlich von
uns auf einem Bergkamm gesichtet. Das konföderierte Landungsschiff
erwischte uns, als wir zueinander aufschließen wollten und landete
genau zwischen uns.«
Die Erinnerung an die darauffolgenden Minuten ließ Cassandra beben.
Sie preßte die Fäuste auf das Glas und fühlte dessen Kälte an den
Fingerknöcheln. »Es kam zu einem Schußwechsel mit dem
Landungsschiff, mit Tamas auf der einen Seite und meiner Kompanie
auf der anderen. Ich habe die Raketen explodieren sehen, vier
Stück, alle hoch in der Luft. Ich wartete immer noch darauf, daß
die Union ihre Mechhangars öffnete,
aber die Schotts blieben hermetisch versiegelt. Dann stieg Tamas
aus. Er hatte versucht, mich über Funk zu erreichen, aber so dicht
an dem Landungsschiff hatte er keine Chance. Also löste er die
Rettungsautomatik seines Vollstrecker
aus, ließ sich vom Schleudersitz hochtragen und segelte dann an
seinem Gleitschirm über das Landungsschiff in meinen Sichtbereich.
Er trug einen Ganzkörperschutzanzug und fummelte an der
Gesichtsmaske herum.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir das
nur so erklären, daß die Maske beim Ausstieg verrutscht
ist.«
Weiter gab es eigentlich nichts zu sagen. »Er muß mitten durch die
Nervengaswolke geflogen sein, und es ist genug durchgekommen, um
ihn hier landen zu lassen.« Sie nickte in Richtung des
Intensivstationsbetts und drehte sich dann zu Tamas' Vater um. Es
war nicht nötig zu erwähnen, daß sie die Botschaft verstanden und
ihre Leute sofort angewiesen hatte, die Mechs luftdicht zu
versiegeln und sich zurückzuziehen. Die Panik, die in ihr
aufgestiegen war, und dann die hoffnungslose Wut, als zwei ihrer
vordersten Krieger zu langsam reagiert hatten. All das war entweder
auch ungesagt klar, oder aber es konnte warten. Der Mann dort im
Krankenbett war Marko Rubinskys Sohn.
Der Kommandeur der Leichten Reiter zeigte keinerlei Emotion. Keine
Trauer, kein Bedauern. Aber sein eiskalter Blick versprach
Vergeltung, und darin war sich Cassandra mit ihm einig.
»Tamas ist ein zäher Bursche«, sagte er nur. »Er wird durchkommen.«
Dann nickte er in Richtung der Glaswand. »Sie scheinen fertig zu
sein.«
Im Innern der Station hatten die Ärzte anscheinend eine
Entscheidung gefällt. Der ältere der beiden kam heraus, während
sein Kollege sämtliche Apparaturen noch einmal überprüfte. Der Arzt
schloß leise die Tür der Intensivstation hinter sich und kam zu
Cassandra und Rubinsky herüber.
»Mandrissa Allard-Liao?« sagte er, und es war erkennbar mehr eine
Anrede als eine Frage nach ihrer Identität. »Ich bin Doktor
Haiburren.« Er warf Marko Rubinsky einen Blick zu. »Sie
interessieren sich auch für den Zustand von Tamas
Rubinsky?«
Cassandra bemerkte die ungekämmten Haare und Bartstoppeln des
Arztes. Die dunklen Ringe unter den geröteten Augen. Er hat seit dem Beginn der Anschläge vor vier Tagen
wahrscheinlich mehr schwere Fälle behandelt als im ganzen vorigen
Jahr.
Sie nickte. »Das ist Tamas' Vater. Colonel Marko Rubinsky.« Sie sah
den Colonel an, dann stellte sie die Frage, die ihnen beiden auf
dem Herzen lag. »Wird er überleben?«
»Mit ziemlicher Sicherheit«, antwortete der Arzt sofort, obwohl er,
wie die meisten MedTechs, mit denen Cassandra je in Kontakt
gekommen war, seine Aussage augenblicklich relativierte.
»Vorausgesetzt, es treten keine weiteren Komplikationen
auf.«
Zum ersten Mal in vierundzwanzig Stunden wagte Cassandra es,
erleichtert aufzuatmen. Tamas war der unmittelbaren Gefahr
entkommen... wahrscheinlich. Dann fragte Colonel Rubinsky: »Wird er
wieder einen Mech steuern können?«
Falls der Arzt diese Frage als kalt oder gefühllos empfand, ließ er
es sich zumindest nicht anmerken. Cassandra für ihren Teil verstand
sie sehr gut. Sie wußte genau, daß Tamas sie selbst stellen würde,
sobald er wieder genug bei Kräften war, um zu sprechen. Für manche
MechKrieger war diese Frage wichtiger als die erste. Das hieße, einem Adler mitzuteilen, daß er nie mehr
zwischen den Wolken segeln kann.
Diesmal zögerte der Arzt. »Er hat durch die ätzende Wirkung des
Gases eine beträchtliche Menge Lungengewebe verloren, und es läßt
sich noch nicht feststellen, ob das Gas dauerhafte neurale
Auswirkungen hatte.«
Aber er wird überleben... müßte
überleben. Das war zumindest etwas. »Danke«, entließ sie den
Arzt für sie beide. Nachdem er gegangen war, meinte sie: »Ich lasse
Sie mit Tamas allein, Marko. Ich brauche Schlaf.« Aber ich komme wieder, versprach sie
Tamas.
Und dann die Abrechnung. Kali, Sun-Tzu...
diesmal ist die Konföderation zu weit gegangen. Ich fange mit den
capellanischen Truppen auf St. Loris an, und wenn sie in die Flucht
geschlagen sind, werde ich den Krieg zu ihnen tragen. Mutter wird
die Notwendigkeit einsehen, und wenn nicht von selbst, dann
überzeuge ich sie davon. So oder so werde ich die Lücke im Panzer
der Konföderation finden, und ich werde nicht ruhen, bis meine
Lanciers auf Sian stehen.
Was auch immer dazu nötig ist, ich werde meinen Vetter stellen.
Chiang-Ho-Delta, Provinz Xi'an, Indicass Xin-Sheng-Kommunalität, Konföderation Capella
Warner Doles watete in seinem Imperator aus dem Wasser des Gansu. Er befand sich am Kopfende des riesigen Deltas, das in den Nordwestarm des großen Binnenmeeres strömte. Als letzter BlackwindLancier, der das Nordufer erreichte, drehte er um und übernahm die Spitzenposition der neuen Verteidigungsformation. Brillante Strahlbahnen aus kohärentem Licht in den verschiedensten Farben zuckten vom gegenüberliegenden Ufer herüber, wo sich zwei Drittel der Hustaing-Rabauken zu einer zerfaserten Schlachtreihe aufgestellt hatten. Zahlen, Ni Tehn Dho. Das einzige, was du uns über hast, sind Zahlen.
Eine Schlange watete mehrere Meter in den Fluß, gefolgt von einigen anderen Kampfmaschinen der Konföderationskräfte. Ihre Autokanone feuerte über die spiegelnde Wasseroberfläche und schlug eine abgehackte Einschußspur in die Panzerung eines LancierKosak. »Feuer frei auf die Schlange«, befahl Doles, entschlossen, den feindlichen Krieger für seine Waghalsigkeit bezahlen zu lassen.
Energiewaffen und Salven von AK-Granaten jagten auf den unglückseligen capellanischen Kampfkoloß zu und verwüsteten seine obere Rumpfhälfte. Doles sah mindestens einen guten Treffer gegen das Cockpit und hoffte auf einen Panzerdurchschuß. Er hoffte vergebens. Der Pilot der Schlange erkannte seine hoffnungslose Position und wählte statt eines langsamen Rückzugs durch die Fluten einen schnelleren Abgang. Er löste die im Torso montierten Sprungdüsen seines Mechs aus und schoß aus der tödlichen Umarmung des Flusses in den Himmel davon.
Noch zwei Kompanien, dachte Doles, und ich könnte das Südufer zurückerobern und die Rabauken zurück in die Provinz Qining treiben. Inzwischen wußte er, was er von den Hustaing-Rabauken zu erwarten hatte. Sie waren enthusiastisch und ganz sicher mutig genug, aber sie besaßen keinen Sinn für Ordnung. Ich könnte sie zersplittern und häppchenweise vernichten. Wo sind die restlichen Kräfte von Freies Capella? fragte er sich. Dabei wußte er in Wahrheit genau, wo sie waren. In irgendwelchen Verstecken. Auf der Flucht.
Tot.
Der Anschlag, der Tormano Liao das Leben gekostet und die Bewegung
Freies Capella um ihre Führungsspitze gebracht hatte, war nicht der
letzte Nervengasangriff gewesen. Ein fehlgeschlagener
Attentatsversuch hatte Doles selbst gegolten. Durch einen panischen
Funkspruch hatten die BlackwindLanciers von einem erfolgreichen
Nervengaseinsatz gegen Brevet-Oberst Emanual und die BefehlsLanze
der Janitscharen erfahren, einer neueren Pakt-Einheit, die erst
kürzlich nach lndicass verlegt worden war, um den Platz der toten
Legers einzunehmen. Kali hat also keinen allzu
großen Vorrat an Nervengas ausgegraben. Ihre Meuchelmörder schlagen
gegen die militärische Führung des Paktes zu.
Aber dessen ungeachtet starben reichlich Unschuldige. Der Anschlag
gegen Tormano und Gouverneur Siddara hatte auch über dreihundert
Zivilisten im Publikum das Leben gekostet. ComStarÜbertragungen von
St. Ives meldeten, daß Herzogin Liao einen zweiten Anschlag auf
Tian-tan überlebt hatte, warnten aber zugleich vor weiteren
drohenden Nervengasanschlägen der inzwischen als ›Schwarzer Lenz‹
bezeichneten Serie. Widerwillig war auch SunTzu Liao ein Dank für
die Freigabe der Informationen ausgesprochen worden, die ohne
Zweifel Tausende, wenn nicht Millionen Leben gerettet hatten. Doles
hätte speien mögen, selbst aus zweiter Hand war der Geschmack
dieses Dankes noch zu bitter.
Er befahl einen taktischen Rückzug vom Flußufer nach Norden und
Westen. Mit etwas Glück konnten die Lanciers die Hustaing-Rabauken
im weitläufigen Flußdelta abschütteln. Jetzt wurde es Zeit, sich
auf ihre Flucht zu konzentrieren. Aber so sehr er es auch
versuchte, er konnte die Gedanken an die politische Dimension der
Lage nicht abschütteln. Die Fingerknöchel seiner Hände standen
schon weiß hervor, aber der Griff um die Steuerknüppel verstärkte
sich noch, als er versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, daß
Sun-Tzu tatsächlich nichts mit den Nervengasanschlägen zu tun
gehabt hatte.
Es gelang ihm nicht. Das kaufe ich ihm einfach
nicht ab. Kann sein, daß es Kalis Eiferer sind, die das Gas
einsetzen, aber Sun-Tzu profitiert davon. Die Pakt-Einheiten
wurden durch die Notwendigkeit gebremst, sich gegen mögliche
Gasangriffe zu schützen, während die vor derartigen Attacken
sicheren Konföderationstruppen vorrückten.
Warum mußten Kalis Fanatiker ausgerechnet den
Anschlag auf Isis Marik vergeigen? Doles unterdrückte eine
kurze Gewissensregung dieses Gedankens wegen. Hätten sie den
Anschlag auch nur halbwegs erfolgreich durchgeführt, hätte eine
Chance bestanden, daß Thomas Marik die Seite des Pakts ergriffen
und den Ex-Verlobten seiner Tochter niedergewalzt hätte. Statt
dessen hatte allen Berichten zufolge ein capellanisches
Kriegsschiff den Befehl erhalten, das Thugee-Sprungschiff
unmittelbar nach der Rematerialisierung im Necromo-System ohne
vorherige Warnung zu vernichten.
Und so war Sun-Tzu dieser Falle entkommen. Es würde andere geben.
Doles konnte sogar hoffen, ihm selbst eine zu stellen. Vergeltung
für Hustaing und Denbar, Smithson und Tormano. Der Mandrinn hatte mir versprochen, ich würde die
Gelegenheit bekommen, einen Unterschied zu machen, und ich habe
vor, ihn darauf festzunageln. Auch der Tod entbindet ihn nicht von
seinem Versprechen.