1. August 2010
Hamburg.

Gegen zehn Uhr am Morgen kamen Vadim und Danylo mit Alina am Hamburger Flughafen an. Danylo hatte dafür plädiert, dass Alina im deutschen Krankenhaus blieb, bis sie kräftiger war. Aber sie hatte sich nicht überreden lassen. Sie wollte nach Hause. Denn auch wenn Radu und Ileana sich aus Sorge um Alinas Gesundheit in Geduld geübt hatten, konnten sie es kaum erwarten, ihre Jüngste wieder in die Arme zu schließen.

Danylo ging mit zum Schalter und dolmetschte beim Einchecken. Danach tranken sie noch gemeinsam einen Kaffee. Es wurde nicht viel gesprochen. So groß Alinas Freude war, endlich wieder nach Hause zu können, so groß war auch die Sorge, Sofia nicht an ihrer Seite zu wissen. Vadim und Danylo waren mit ähnlichen Gedanken beschäftigt.

An der Sicherheitsschleuse verabschiedete sich Danylo von Alina und Vadim. Auf Alinas eindringliche Bitte, weiter nach Sofia zu suchen, nickte er nur kurz, warf Vadim einen düsteren Blick zu, drehte sich um und durchquerte die Flughafenhalle Richtung Ausgang.

Alina sah ihm lange hinterher. Vadim reichte ihr den Arm und ging mit ihr langsam zum Gate. Alina war immer noch sehr schwach. Das Methadon half ihr zwar über die schlimmsten Entzugserscheinungen hinweg, aber Vadim wusste, dass sie trotzdem Qualen litt. Der Gedanke, nach Hause zu kommen, schien jedoch ihre Schmerzen und ihre Entkräftung zu besiegen. Nur deshalb hatte sich Vadim zu seinem Entschluss durchringen können.

Sie mussten noch eine Dreiviertelstunde überbrücken. Alina schloss die Augen und lehnte ihren Kopf an Vadims Schulter. Ihr bedingungsloses Vertrauen zu ihm, dem kriminellen Cousin, dem schwarzen Schaf der Familie, rührte ihn zutiefst. Er würde sich dieses Vertrauens würdig erweisen müssen.

Er wartete, bis das Bodenpersonal zum Boarden aufforderte. Sanft rückte er von ihr ab. »Alina, ich muss mit dir reden.«

Sie hob den Kopf und lächelte ihn an. Vadim fragte sich, wie sie nach allem, was sie erlebt hatte, noch so lächeln konnte. War es die Jugend, die sie unverwundbar machte? Oder die Freude über die Heimreise?

Als er sprechen wollte, legte sie ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen. »Du musst nichts sagen. Mach dir keine Sorgen. In Frankfurt steige ich um, und in Chişinău holen mich Mama und Papa ab. Mir geht es gut, ich kann alleine fliegen.«

»Woher weißt du … ?«

»Ich kenne dich. Du wirst diesen Bender töten und Danylo helfen, Sofia zu finden.«

Vadim schwieg.

Alina stand auf, nahm ihre Tasche, gab ihm einen Kuss auf den Mund und ging durch das Drehkreuz. Kurz bevor sie im Gang zum Flugzeug verschwand, drehte sie sich noch einmal um und rief: »Weißt du eigentlich, dass ich dich liebe, Vadim?« Dann verschwand sie.

Vadim stand da wie vom Donner gerührt. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte es nicht einmal zu hoffen gewagt.

Christian nahm mit Anna ein üppiges Frühstück zu sich und genoss die Stille. Nur das Klappern von Tassen und Besteck war zu hören und das Knistern von Papier. Anna las Zeitung, Christian blätterte durch sein Aktenpaket. Am gestrigen Abend war er nicht mehr dazugekommen. Anna hatte ihn mit einer DVD über Nova Scotia und Neufundland überrascht, die sie mit ihm ansehen wollte. Sie hoffte, ihn damit überzeugen zu können, den nächsten Urlaub dort zu verbringen. Christian graute schon jetzt vor dem endlos langen Flug. Aber er wusste nicht, wie er Annas Bitte abschlagen konnte. Zumal ihn der Film über die raue Landschaft im Nordosten Kanadas sehr beeindruckt hatte. Danach hatten sie zusammen gebadet und sich geliebt.

Zu Christians Überraschung befanden sich in seinem Aktenpaket nicht nur Unterlagen zu den beiden aktuellen Morden, sondern auch die Informationen, die Daniel über Heiko Bender zusammengestellt hatte. Christian wollte das Material zuerst beiseitelegen, da er wahrlich aktuellere Probleme hatte, doch aus einer Laune heraus blickte er hinein. Auf den ersten Blick wirkten die Fakten gewöhnlich. Nichts wies auf einen Hang zu sexueller Gewalt hin oder gar auf Kontakte zu kriminellen Kreisen. Dennoch musste es eine Verbindung geben. Alina hatte gesagt, dass sie vom Baltenboss gekauft und an Bender verschenkt worden war. Puri lag inzwischen in der Rechtsmedizin, in einer Stahlschublade direkt neben dem Staatsrat Benedikt, der auf Puris Einladung an exklusiven Sexpartys teilgenommen hatte. Christian kam auf die Idee, nach einer Verbindung zwischen Bender und Benedikt zu suchen. Ein Staatsrat aus Hamburg und ein Ingenieur aus Schleswig-Holstein schienen zwar auf den ersten Blick nicht viel gemein zu haben. Aber beide hatten mutmaßlich Kontakt zu Andres Puri gehabt und waren Nutznießer seiner Zuhälterei gewesen. Dass bei beiden bislang kein Kontakt zu Puri eindeutig nachgewiesen werden konnte, überraschte Christian kaum. Beziehungen zur Unterwelt werden von Armani-Anzugträgern mit Platin-Kreditkarten grundsätzlich verschwiegen und vernebelt.

Plötzlich beschlich Christian das vage Gefühl, Alinas gewaltsamer Aufenthalt bei Bender und die beiden neuen Mordfälle könnten miteinander zu tun haben. Dieser Gedanke, so unwahrscheinlich er auch war, ließ ihn nicht mehr los. Es dauerte lange, bis er tatsächlich etwas fand. Anna hatte schon längst den Tisch abgeräumt und sich mit einem Buch ins Wohnzimmer zurückgezogen.

»Anna, weißt du, was ›NMA‹ ist?«, rief er ins angrenzende Wohnzimmer. Anna kam zu ihm. »Das ist das Kürzel für die ›Norddeutschen Musikabende‹. Wieso?«

»Ach.« Christian verschlug es kurz die Sprache. Er hatte nach einer Verbindung zwischen Bender und Benedikt gesucht. Und dabei gleich noch eine zu Danylo Savchenko und Sofia Suworow entdeckt.

»Du guckst vollkommen dämlich aus der Wäsche«, sagte Anna. »Was ist denn los?«

»Hier, schau mal«, Christian schob ihr zwei Akten zu. »Benedikt war Mitglied der Sponsorengesellschaft der NMA. Und Heiko Bender ist im Stiftungsrat der NMA.«

Anna besah sich die Unterlagen. »So ungewöhnlich finde ich das nicht. Das belegt doch nur, dass die beiden sich vermutlich gekannt haben. Die NMA ist ein Riesenapparat. Da arbeiten, ich weiß nicht, wie viele Leute mit, um den ganzen Aufwand zu stemmen. Hunderte von Konzerten pro Jahr, Saalmieten, internationale Künstler von Weltrang, Hotelbuchungen, zigtausend Besucher an zig Spielstätten …«

Anna holte ihren Laptop aus dem Wohnzimmer und gab »Norddeutsche Musikabende« als Suchbegriff ein. Sie zeigte Christian die Homepage. Er besah sich den Webauftritt, klickte sich geduldig durch Programme, Spielstätten, Akademien, Pressemitteilungen, Direktoren, Referenten und alle weiteren Zahlen und Fakten.

»Die machen pro Jahr Umsätze im zweistelligen Millionenbereich!« Christian war völlig perplex.

»Was hast du denn gedacht? Die NMA sind ein kulturelles Ereignis von herausragendem internationalem Ruf.«

»Und ein Wirtschaftsunternehmen von beträchtlichem Umfang«, fügte Christian hinzu. »Ich muss nach Rendsburg, mit Danylo Savchenko reden. Und wenn ich die Infos diesmal aus ihm rausprügele!«

»Das dürfte dir schwerfallen. Alina hat mich gestern Abend angerufen und sich verabschiedet. Da waren die drei schon wieder in Hamburg.« Anna sah auf ihre Küchenuhr. »Alina sitzt mit Vadim in der Maschine nach Chişinău via Frankfurt. Und Danylo … Wer weiß, wo der ist.«

»Mist! Du hast recht. Vielleicht ist er ja in seiner Wohnung in Winterhude. Ich schicke Volker vorbei, der wohnt ums Eck. Der soll ihn an den Haaren in die Zentrale schleifen.«

»Ich finde es immer wieder schön, wie sensibel du mit großen Künstlern umzugehen verstehst.«

Christian rief Volker an und informierte ihn über seine neuen Thesen. Volker fand einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen und der NMA zwar äußerst zweifelhaft, sah aber ein, dass Christian unbedingt mit Savchenko reden wollte. Auch wenn er sicher war, dass Savchenko wie immer gar nichts preisgeben würde, wollte er gleich bei seiner Adresse vorbeifahren.

Christian hatte kaum aufgelegt, als sein Handy klingelte. Er sah auf das Display. »Das glaube ich nicht! Wieckenberg! Was will der denn am Sonntag von mir?«

Anna lächelte. »Wenn du nicht rangehst, wirst du es nie erfahren.«

»Genau das ist der Plan.« Christian legte das Handy beiseite und starrte gebannt auf die Homepage. Kaum hatte das Handy aufgehört zu klingeln, ging es wieder los. Christian sah erneut auf das Display, seufzte und ging ran: »Herr Wieckenberg. Was gibt’s denn?«

Christian hörte verwundert zu. »Okay, ich bin in einer Stunde bei Ihnen.« Er legte auf.

Anna sah ihn fragend an. »Eine neue Leiche?«

»Das nicht. Aber irgendetwas ist seltsam. Er hatte gar nicht seinen üblichen arroganten Befehlston drauf. Er hat mich ›gebeten‹! Zu einem inoffiziellen, aber dringlichen Gespräch.«

»Bitte. Dann gehen wir halt nächstes Wochenende schwimmen«, zickte Anna giftig.

Christian musste lachen. Seit er mit dem Petersen-Fall beschäftigt war, kommentierte Anna jede Störung ihres Privatlebens mit einer gespielt beleidigten Bemerkung übers Schwimmengehen und karikierte ihm so das typische Verhalten einer stets zu kurz kommenden Polizisten-Gattin, wie er sie selbst einmal gehabt hatte.

Sie lachte mit, küsste ihn auf seinen von kurzen Bartstoppeln umsäumten Mund und sagte: »Amüsier dich gut mit dem blöden Wieckenberg, ich lege mich raus in den Garten und bräune meinen Amazonenkörper. Nackt, damit dem Spanner von gegenüber die Augen aus dem Kopf fallen.«

»Hauptsache, du lässt ihn nicht rein, wenn er klingelt.«

Christian wollte nach oben gehen, um die Jogginghose gegen Jeans zu tauschen, als ihm plötzlich der Gedanke kam, es zu lassen, nur um Wieckenberg zu ärgern. Das erschien ihm dann aber doch zu pubertär, also zog er sich um, bevor er sich mit dem Fahrrad auf den Weg zum benachbarten Stadtteil Harvestehude machte.

Zur gleichen Zeit trafen sich Vadim und Danylo ganz in der Nähe auf dem Steg des ›Cliff‹-Cafés an der Außenalster. Um sie herum wimmelte es von Einheimischen und Touristen, die die Sonne und den Ausblick genossen. Es ging wie so häufig in Hamburg ein kräftiger Wind, weiß betuchte Segelboote kreuzten über das glitzernde Wasser und wichen geschickt den Alsterdampfern, den mit Trommlern trainierenden Ruderern und vereinzelten Kajakfahrern aus.

»Wie hat sie es weggesteckt?«, fragte Danylo.

»Gut«, antwortete Vadim. »Sie will, dass wir Sofia zurückbringen.«

Beide ließen ihre Blicke über die Alster schweifen. Sie konnten sich nicht in die Augen sehen. Die fröhliche Schönheit des Sommertages und das unbeschwerte Treiben der Menschen um sie herum kam Vadim vor wie ein hyperrealer Traum in zu grellen Farben.

Er wandte sich von dem pittoresken Bild ab. »Zuerst Bender. Der gehört mir allein.«

Danylo nickte. »Dann der Rest.«

Wieckenberg wohnte in einem modern ausgebauten Penthouse in einer Villa in der Parkallee. Feinste Hamburger Adresslage nennt man das, dachte Christian, als er sein altes Hollandrad im Vorgarten an einen Baum anschloss. Der Fahrstuhl führte direkt in die Wohnung. Wieckenberg empfing ihn freundlich. Zu Christians Überraschung trug er eine alte Jogginghose und ein verwaschenes, zu großes T-Shirt. Wieckenberg ging voraus, barfuß über ein dunkles, geöltes Parkett. Christian folgte ihm durchs Wohnzimmer auf die Terrasse. Wie nicht anders erwartet, strahlte jeder einzelne Gegenstand in der Wohnung Prestige und Geschmack aus. Von der Terrasse bot sich ein wunderbarer Blick in die von Bäumen gesäumte Allee. Christian wollte Platz nehmen, doch Wieckenberg bedeutete ihm, ins Wohnzimmer zurückzugehen.

»Ich wollte nur den Eistee holen.« Er nahm die Karaffe und sein Glas, schloss die Tür zur Terrasse und bot Christian Platz auf dem Ledersofa an. »Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten?«

»Eistee ist super.« Er bekam ein Glas.

Wieckenberg setzte sich ihm gegenüber in einen Sessel und schlug die Beine übereinander.

»Sie wundern sich vielleicht, dass wir bei diesem herrlichen Wetter drinnen sitzen. Aber unser Gespräch ist etwas heikel, um nicht zu sagen delikat. Es wäre mir äußerst unangenehm, wenn meine Nachbarn mithören würden. Oder sonst irgendjemand davon erführe.« Wieckenberg sah Christian eindringlich an und machte eine Kunstpause.

»Ich verstehe. Wir reden inoffiziell.«

»Und vertraulich. Bitte betrachten Sie mich im Moment nicht als Ihren Vorgesetzten, sondern als eine Art … Informanten, dessen Identität Sie für sich behalten.«

»Soweit das in meiner Macht steht.« Christian grinste insgeheim über Wieckenbergs Behauptung, sein Chef zu sein. Das war er gewiss nicht, auch wenn Wieckenberg das gerne so sehen würde. Es musste dem Oberstaatsanwalt unglaublich schwerfallen, Christian als Bittsteller gegenüberzutreten. Christian wartete einfach ab. Er war gespannt.

»Ich kannte Werner Benedikt.«

»Das überrascht mich nicht.«

»Warten Sie ab. Ich kenne auch diesen Heiko Bender.«

Christian stutzte. Wusste Wieckenberg also doch von seinem Ausflug nach Schleswig-Holstein?

»Halten Sie mich nicht für blöd.« Wieckenberg schien seinen Gedanken erraten zu haben. »Glauben Sie, ich befehle Ihnen, den Fall Petersen abzuschließen und kriege dann nicht mit, wenn eine in diesem Zusammenhang von Ihnen bei der SIS als vermisst gemeldete Person hier in der Nähe unter mysteriösen Umständen auftaucht?«

»Warum haben Sie mich überhaupt gedrängt, den Fall zu den Akten zu legen?«

»Weil er abgeschlossen war.«

Wieckenberg schien immer noch nicht bereit, bei diesem Thema einen Zentimeter Boden preiszugeben. Oder er konnte keine Fehler eingestehen.

»Zu Bender und Benedikt«, fuhr er fort. »Wir sind uns vor etwa einem Jahr zum ersten Mal begegnet. Ich war damals ein paar Wochen in der Stadt, um meine Hamburger Kontakte zu pflegen und alles für meine künftige Anstellung an der hiesigen Staatsanwaltschaft zu erledigen. Verträge, Wohnungssuche und so weiter. Meinem Wunsch nach Kontaktpflege wurde mehr entsprochen, als mir lieb war. Benedikt nahm mich auf eine Party mit. Eine sehr spezielle und sehr exklusive Privatparty, wenn Sie verstehen.«

»Mir wäre lieb, wenn Sie sich in aller Deutlichkeit ausdrücken, Herr Wieckenberg. Nur um eventuelle Missverständnisse zu vermeiden.«

»Es war eine Art Barockfest. Man sagte mir, dass das Fest regelmäßig einmal pro Jahr organisiert wird. Es fand in einem leer stehenden Herrenhaus im Alten Land statt. Mit allen üppigen Sinnesgenüssen, die zum barocken Lustwandeln gehören.«

»Sie meinen eine Sexparty.«

»Porno trifft es eher. Ich bin hingegangen, weil man mir gesagt hat, dass sich die Crème de la Crème der Umgebung dort trifft. Ich wollte sehen, wie sich meine Kaste hier so vergnügt. Und wer dabei ist.«

»Wer war denn alles dabei aus Ihrer … Kaste?«

»Das spielt keine Rolle. Für Sie zählen Bender und natürlich Benedikt. Die anwesenden Damen allerdings gehörten nicht zu der oberen Gesellschaftsschicht.«

»Kann ich mir denken. Warum erzählen Sie mir das?« Christian wusste noch nicht genau, worauf Wieckenberg hinauswollte. Aber er hatte eine Ahnung.

»Weil ich nicht in irgendwelche Machenschaften hineingezogen werden will. Und langsam kommt mir der Verdacht, dass Puri der Veranstalter dieser frivolen Festivitäten ist. War.«

»Und? Die Sache ist ein Jahr her, da waren Sie hier noch nicht in Amt und Würden. Sicher ist Begünstigung von Prostitution keine saubere Sache für einen Staatsanwalt, aber seien wir mal ehrlich …«

»Diese Partys finden, wie schon erwähnt, in der ein oder anderen Form regelmäßig statt. Im Übrigen gibt es keine Pflicht, aktiv teilzunehmen. Man kann auch einfach nur zuschauen.«

»Sie müssen sich mir gegenüber nicht rechtfertigen. Mir ist egal, was Sie in Ihrem Privatleben treiben. Und mit wem.«

»Darum geht es nicht. Ich war zwar nur einmal dabei, aber ich stehe immer noch auf der Gästeliste.«

Endlich ließ er die Katze aus dem Sack. »Und Sie fürchten, wenn ich bei meinen Ermittlungen in den Fällen Benedikt und Puri darauf stoße, bläst Ihnen ein eiskalter Wind ins Gesicht.«

»Ich würde es anders formulieren. Aber in der Tat will ich mich von diesen Leuten distanzieren. Anfangs dachte ich, es handelt sich um die typischen dekadenten Späße der Oberschicht. Kein großes Ding. Aber nun gibt es Leichen. Hören Sie, Beyer, ich bin kein Spießer, mir ist egal, wer wen fickt. Aber ich bin mit Leib und Seele Staatsanwalt. Und wenn diese Kerle Dreck am Stecken haben, dann will ich sie auf jeden Fall hinter Gittern sehen!«

Christian traute Wieckenbergs moralischer Kampfansage keine Sekunde. Alles Pose. Der wollte nur seine eigene Haut retten. Christian vermutete, dass Wieckenberg sich vor seinem Besuch extra in die Jogginghose geworfen hatte, um einen auf proletarische Solidarität zu machen. Lächerlich. »Benedikt und Puri sind tot. Bender wird in Schleswig-Holstein angeklagt. Wen genau meinen Sie jetzt mit ›diese Kerle‹?«

»Ich weiß es nicht. Mir schwant nur langsam, dass mehr hinter der ganzen Sache stecken könnte als ein harmloses Sex-Vergnügen. Ich will, dass Sie mich auf Ihrer Seite wissen. Und mir über alle Erkenntnisse unverzüglich Bericht erstatten. Statt solcher Alleingänge wie in Rendsburg.«

Christian verstand. Wieckenberg wollte schnellstmöglich erfahren, wann es für ihn brenzlig werden konnte.

»Haben Sie etwas mit den NMA zu tun?«, fragte Christian unvermittelt.

»Den ›Norddeutschen Musikabenden‹? Nein, ich bin ein eingefleischter Jazzfan. Wie kommen Sie darauf?«

Wieckenberg wirkte so überrascht von der Frage, dass Christian ihm glaubte. Er wiegelte ab. »Nicht so wichtig.«

»Trotzdem passend, Ihre Frage. Heute Abend ist nämlich wieder eine solche Party. Angeblich ein Hauskonzert. Ich werde ausnahmsweise hingehen und Augen und Ohren offen halten. Garantiert wird über Benedikt und Puri geredet.«

»Sie vermuten, dass Puri der Veranstalter der Partys war. Aber heute Abend dürfte ihm das schwerfallen.«

»Die Partys sind lange im Voraus geplant. Außerdem wird Puris Nachfolger, und wir beide wissen genau, dass das sein Sohn Dimitri ist, diesen lukrativen Geschäftszweig sicher aufrechterhalten.«

»Ich komme mit.«

Wieckenberg lachte. »Sie sind nicht eingeladen, Herr Beyer.«

»Schicken Sie mir eine Einladung zu. Das läuft doch sicher anonym übers Internet.«

»Anonym, ja. Aber das Internet ist viel zu unsicher. Und stillos. Jeder bekommt eine schriftliche Einladung von einem Kurier gebracht. Der Umschlag wird nur persönlich abgegeben. Ist nicht übertragbar.«

»Sie sind bei Ihrem ersten Besuch auch mitgenommen worden. Von Benedikt. Stellen Sie mich vor, wie auch immer, von mir aus als Ölscheich aus dem Orient.«

Wieckenberg betrachtete mitleidig Christians verbeultes Cordsakko, das er Sommer wie Winter trug. »Versuchen wir’s lieber mit Lobbyist aus der Agrarbranche.«