15. April 2010
Hamburg.

»Das Blut unter dem Regal in Sofia Suworows Wohnung stammt aller Wahrscheinlichkeit nach von ihr selbst. Es ist jedenfalls die gleiche Blutgruppe, wie wir durch Daniels leicht illegale Recherche, diesmal in den Computern einiger Bremer Ärzte wissen. Sorry, natürlich wissen wir die Blutgruppe durch Sofias Eltern«, begann Volker den Bericht zur allmorgendlichen Konferenz.

Christian verzog das Gesicht. Er mochte das Wort »illegal« in diesen Räumen nicht hören. Die Vorgehensweise am äußersten Rand der Gesetze und auch jenseits davon hatte ihm schon einmal eine Suspendierung eingebracht. Damals hatte er fast den Boden unter den Füßen verloren. Nicht nur, weil er nicht arbeiten und die Verbrecher und Irren da draußen einsperren konnte. Es war vor allem eine persönliche Niederlage, eine Demütigung gewesen. Und jeder Kollege, der jemals suspendiert worden war und behauptete, er leide nur unter der ihm genommenen Möglichkeit, Gut gegen Böse siegen zu lassen, der log.

Christian wusste genau, auf welche Gratwanderung er und sein Team sich begaben, wenn sie Daniels Recherchen in ihre Ermittlungsarbeit mit einbezogen. Andererseits waren Aufdeckung und Aufklärung ihr oberstes Ziel. Möglichst schnell. Ohne auf eine Wiederholungstat, auf die nächste Leiche, auf irgendeinen Fehler warten zu müssen. Also passten sie ihre zum Teil erstaunlich zügigen Ermittlungsergebnisse kreativ an die offiziellen Rahmenbedingungen an. Die Blutgruppe Sofias war für diese Vorgehensweise ein geradezu läppisches Beispiel.

»Viel interessanter ist ein anderer Fund.« Herd übernahm den Faden von Volker. »In der Suworow-Wohnung auf dem Wohnzimmerteppich haben wir ein schwarzes Haar gefunden, das laut DNA-Analyse dem ehemals international heiß begehrten Antoschka Mnatsakanov zuzuordnen ist. Kein Friede seiner Asche.«

»Wir können also davon ausgehen, dass Sofia von ihm zusammengeschlagen wurde. Langsam ergibt sich ein Bild. Zumindest tauchen immer wieder dieselben Figuren auf«, sagte Christian.

Pete erhob sich von seinem Platz und rollte an der Pinnwand ein großes Papier aus. »Ich habe mal so eine Art ›Rollen- und Beziehungsprofil‹ unserer Akteure erstellt. Falls euch meine Zeichnung zu popelig ist, dann soll Christian uns endlich die neueste Technik besorgen.«

»Damit du uns permanent mit Power-Point-Präsentationen in Cinemascope und Fujicolor nervst?« Volker grinste: »Nee, zeig lieber mal, wie du Malen nach Zahlen draufhast.«

Man sah Pete an, dass er sich trotz der Jahre, die er nun zu Christians Soko Bund gehörte, immer noch gelegentlich fragte, wie er von der hochkarätigen Profiler-Truppe des FBI in Quantico, USA, hier bei diesen provinziellen Freaks gelandet war. Seufzend befestigte er sein Schaubild mit Nadeln an der uralten, durchlöcherten Pinnwand.

»Tut mir leid, wenn ihr auf den ersten Blick nichts Neues entdecken werdet. Aber ich dachte mir, es kann nicht schaden, wenn wir mal visualisieren, wie der Fall systemisch aufgestellt ist. Auf meinem Schaubild sind alle bisher bekannten ›Spieler‹ vermerkt. Wie auch die Beziehungen untereinander.«

Christian besah sich mit den anderen Petes Arbeit. In der Mitte stand der Name des Opfers: Henning Petersen. Um ihn herum waren die anderen Namen gruppiert, mit dicken und dünnen »Beziehungspfeilen«, teils ohne feste Verbindung und stattdessen mit Fragezeichen versehen wie etwa zwischen den Namen Petersen und Puri.

»Du kommst uns jetzt aber nicht mit einer Art systemischer ›Familienaufstellung à la Hellinger‹, oder? Dann haben wir zwei ein ideologisches Problem«, sagte Volker mit süffisantem Grinsen.

Pete wirkte genervt: »Ich will hier keinen durch den Raum jagen, ich hab uns lediglich eine Hintergrundmatrix als Informationsfeld erstellt.«

»Kann mich mal einer aufklären, was ihr faselt?«, ging Christian dazwischen.

»Bei Hellingers Aufstellung werden fremde Personen als Repräsentanten deiner Familienmitglieder im Raum so aufgestellt, wie es den Beziehungen untereinander entspricht«, erklärte Volker. »Dann erfühlen die Repräsentanten quasi das emotionale Geflecht. Dadurch wird der Patient erhellt und versteht seine Probleme mit Daddy und seinem Chef im Büro besser.«

»Hä?« Christian verstand nur Bahnhof.

»So verkürzt ist es natürlich Stuss«, kommentierte Pete.

Volker winkte ab. »Für mich war Hellinger ein dogmatisches Arschloch.«

»Ich stehe auch nicht auf seine Methoden. Aber die Grundzüge der Aufstellung sind längst ein probates Mittel in der Kommunikationstheorie, beim Managertraining wie auch in der allgemeinen Konfliktberatung«, wetterte Pete. »Wenn ihr euch nicht auf neue Methoden einlassen wollt, bitte. Wozu braucht ihr mich überhaupt?«

Etwa zehn Sekunden lang herrschte überraschtes Schweigen. Pete fiel sonst nie aus der Rolle des coolen Überfliegers.

»Also, echt, Pete, wir brauchen dich, Hasi. Du könntest mir einen Kaffee kochen. So gut wie du kocht keiner den Kaffee«, sagte Volker mit todernster Miene.

Daniel stieg darauf ein: »Ich brauche dich auch, Pete. Drei Löffel Zucker bitte.«

»Für mich ohne Zucker«, sagte Herd.

Vor einigen Jahren wäre Pete jetzt gegangen. Heute zeigte er seinen Kollegen den Mittelfinger und machte einfach weiter: »Wie ihr seht, hat Danylo Savchenko Verbindung zu den meisten Figuren auf unserem Schaubild. Er ist die Schlüsselfigur.«

»Wow«, schlug nun auch Christian in die Kerbe. »Ohne dieses Dingsda, Stellungsspiel, wäre ich nie drauf gekommen.«

»Arschlöcher«, sagte Pete. Nun war es ihm doch zu viel.

»Hast du was bei den Airlines gefunden?«, wandte sich Christian an Daniel.

»Bislang Fehlanzeige. Entweder reist er mit Auto, Bus oder Bahn, oder er befindet sich noch in Frankreich.«

»Irgendeine Idee, wie wir weitermachen?«, fragte Christian.

»Wir nehmen uns Puri noch mal vor«, antwortete Volker.

»Wir befragen alle unsere Informanten, ob sie was über Mnatsakanov und seine Auftraggeber wissen«, trug Herd bei.

»Ich suche weiter nach Querverbindungen in Russland zwischen Mnatsakanov und Savchenko«, schlug Daniel vor.

»Ich könnte Kaffee kochen«, sagte Pete.

Ins allgemeine Gelächter hinein klingelte Christians Handy. Er wurde zum Oberstaatsanwalt befohlen.

»Was will der denn von dir?«, fragte Volker.

Zwei Stunden später kam Christian schlecht gelaunt in die Zentrale zurück, wo unter Hochdruck gearbeitet wurde: »Ihr könnt alle aufhören, nach Hause gehen und euch die Eier schaukeln. Der Fall Henning Petersen ist abgeschlossen. Herr Oberstaatsanwalt Wieckenberg versteht nicht, wie wir Steuergelder für eine Spurensicherung bei Sofia Suworow in Bremen verschwenden konnten. Wo wir doch keinen offiziellen Auftrag in Bremen haben.«

Das Argument war stichhaltig, das wussten sie. Um über die Grenzen der Bundesländer hinaus zu operieren, brauchte Christians Soko, die in Deutschland als einzige nicht dem föderalistischen Prinzip verhaftet war, einen klaren Auftrag vom BKA. Den hatten sie nicht. Sie waren nicht wie sonst auf der Jagd nach einem über die Bundeslandgrenzen hinaus operierenden Serienkiller. Sie waren lediglich mit einem Hamburger Mord beschäftigt. Ohne darüber hinausreichende Befugnisse. Dass dieser Mord ganz offensichtlich mit Geschehnissen in Bremen und Moldawien zu tun hatte und mutmaßlich sowohl Russen als auch möglicherweise einen Balten mit einbezog, war bislang nicht bewiesen und führte zu keinerlei erweiterten Kompetenzen für Christians Truppe.

»Und jetzt?«, fragte Herd.

»Es ist über die Indizienlage mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwiesen, dass Antoschka Mnatsakanov Henning Petersen ermordet hat«, sagte Christian. »Der Mörder ist tot, somit strafrechtlich nicht mehr zu verfolgen. Die Akte kann geschlossen werden. Ich zitiere nur unseren Boss.«

»Aber das war ein Auftragsmord«, echauffierte sich Herd. »Solange wir den Auftraggeber nicht haben …«

»Ich sehe das genau wie du«, fiel ihm Christian genervt ins Wort. »Aber ihr hättet Wieckenberg mal sehen sollen. Er war ganz blau im Gesicht vor unterdrückter Wut. Sprach von klarer Dienstanweisung und so. Hat mit Konsequenzen gedroht bei Zuwiderhandlung. Der stand voll unter Druck. Unter wessen Druck, das habe ich mich allerdings die ganze Zeit gefragt.«

»Das heißt, wir machen weiter«, sagte Volker.

Alle nickten.

Pete erhob sich. »Ich koche frischen Kaffee für die nächste Runde. Zwei mal mit, drei mal ohne Zucker.«

Christians abwesender Blick fiel auf das Schaubild. Irgendetwas daran irritierte ihn. Er wusste nur nicht, was.