4. April 2010
Hamburg.
Christian stand um sieben Uhr auf. Anna lag im Tiefschlaf, er weckte sie nicht, duschte, nahm ein karges Frühstück im Stehen zu sich und ging ins Büro. Der Spaziergang vom Generalsviertel, wo er seit einigen Jahren mit Anna ihre kleine Stadtvilla bewohnte, entlang des Kaifu-Ufers bis zum Schanzenviertel tat ihm gut. Die klare frühmorgendliche Luft und die Monotonie des Schritt-vor-Schritt-Setzens halfen ihm, seine Gedanken zu sortieren. Der Mord an Henning Petersen warf bislang nur Rätsel auf. Die Art und Weise der Durchführung ähnelte Racheakten oder Strafaktionen aus dem Milieu krimineller Banden. Das Opfer jedoch passte nach bisherigen Erkenntnissen weder in das Umfeld, noch gab es eine ersichtliche Verbindung dazu. Sie waren noch weit von der Lösung entfernt.
Wie immer bei einem aktuellen Fall trafen sich die Mitglieder der Soko am Morgen zur Konferenz. Christian legte allergrößten Wert auf diese Gesprächsrunden, auch wenn es keine Neuigkeiten gab. Möglicherweise war einer von ihnen über Nacht auf eine Idee gekommen, hatte einen Aspekt gesehen oder eine Version entwickelt, die auf den ersten Blick absurd schien, vielleicht aber in eine neue Denkrichtung führte und irgendeinen Schleier lüftete.
Wie immer eröffnete er die Konferenz mit der Frage: »Was haben wir?« Während Yvonne frischen Kaffee einschenkte und Croissants für alle verteilte – außer für ihren speziellen Liebling Daniel, der bekam zwei frische Brötchen mit Metzgermarmelade, also Mett mit Zwiebeln – sortierten alle ihre Notizen.
»Eine Leiche, männlich, 27 Jahre. Name Henning Petersen. Wohnhaft in einer Zweier-WG in Ottensen. Beruf: Volontär bei der Hamburger Morgenpost«, begann Herd mit den bekannten Fakten.
Volker übernahm: »Todeszeitpunkt vorgestern zwischen 15 und 16 Uhr. Todesursache laut Karens Bericht der Kopfschuss. Kaliber 32, aus einer Entfernung von unter einem Meter abgefeuert. Zwei vor dem Tod abgetrennte Finger, vermutlich mit einer Art Gartenschere oder Bolzenschneider. Post mortem abgetrennte und zerteilte Zunge, gleiches Werkzeug. Das Opfer war zu Lebzeiten kerngesund, seinem Alter entsprechend. Keine Drogen nachweisbar. Keine an der Leiche ersichtlichen Kampfspuren. Das Opfer wurde entweder überrascht, war in Schockstarre, oder kannte den Täter.«
Karen Kretschmer, die den von Volker zitierten Bericht abgeliefert hatte, war eine Hamburger Rechtsmedizinerin, die seit Jahren mit der Soko zusammenarbeitete. Christian verließ sich absolut auf ihre Fachkenntnis und auf ihr Gespür für die physiologischen und psychologischen Besonderheiten von Tötungsarten, soweit sie sich am Körper des Opfers manifestierten. Im Gegensatz zu ihren Kollegen beschränkte sie ihre Arbeit nicht auf den Seziertisch, sondern kam, wenn es ihre Zeit zuließ, auch zum Tat- oder Fundort, um sich ein Bild von der Auffindesituation zu machen. Christian schätzte sowohl ihren anderen Blickwinkel als auch ihre schon fast beängstigende Intelligenz.
»Henning Petersen wurde in Itzehoe als einziger Sohn einer Arbeiterfamilie geboren.« Nun kam Daniels Part. »Grundschule, Gymnasium in Itzehoe, alles ohne Auffälligkeiten, es sei denn, man will ein Mal Autofahren mit 19 unter Drogeneinfluss, wir reden hier von Gras, als Auffälligkeit verbuchen. Wollen wir nicht. Gutes Abi, dann Zivildienst, dann Studium von Germanistik und BWL. Nach dem Studium Volontariat bei der Mopo. War bei Facebook, hat aber auch dort nur die übliche Langeweile verbreitet: Partyfotos, Bemerkungen über das Wetter, die Deutsche Bahn, den letzten Urlaub auf Malle und den letzten Rave in was weiß ich wo. Öder Scheiß. Auffallend ist nur, dass in seinem Freundeskreis fast nur Männer sind. Bekennende Schwule und solche, die es werden wollen. Meine Meinung.«
»Womit wir bei der Zeugenaussage von Petersens WG-Mitbewohner Sebastian Dierhagen wären.« Pete schaltete sich ein. »Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, habe ich noch mal mit ihm geredet. Das war höchst aufschlussreich. Daniels Einschätzung ist richtig. Unser Henning war schwul. Und bei Weitem nicht so brav und sanft und auf Job und Karriere fixiert, wie sein Chefredakteur und auch seine Eltern vermuten. Henning hat ganz schön rumgevögelt. Laut Dierhagens Aussage war er Stammgast bei ›GayRomeo‹, einem Internetportal für schwule Sexkontakte. Er hat sich die Lover ins Haus bestellt oder ist zu ihnen hin, das war ihm egal. Dierhagen war oft ganz schön genervt, weil andauernd fremde, nackte Männer am Morgen durch die Wohnung hüpften. Allerdings erzählt er, dass Petersen der Vielvögelei abschwören wollte, weil er sich verliebt hatte.« Pete machte eine kleine Kunstpause und genoss die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer.
»Willst du einen Orden für diese wertvolle Info, oder können wir weitermachen?«, fragte Christian.
»Leider geht es nicht viel weiter«, gestand Pete. »Das Objekt von Petersens obskurer Begierde bleibt weitgehend im Dunkeln. Dierhagen hat ihn nur ein einziges Mal in der WG gesehen. Groß, schlank, dunkelhaarig und mit einem osteuropäischen Akzent sprechend.«
»Wie lange ging das mit den beiden?«, wollte Christian wissen.
»Erst ein paar Wochen. Aber heftig. Dierhagen sagt aus, dass Petersen völlig von der Rolle war. Was immer das heißen mag. Jedenfalls hat er laut Dierhagen die ganze Zeit vom großen Durchbruch gelabert. Dierhagen wollte es so genau nicht wissen. Er hat wohl Angst gehabt, dass Petersen irgendwas Sexuelles meint. Die beiden, also Petersen und sein Lover, haben sich übrigens nicht über ›GayRomeo‹ kennengelernt, sondern in irgendeiner Hamburger Schwulenbar. Mehr wusste Dierhagen nicht.«
»Na toll«, stöhnte Herd. »Das heißt, wir touren die nächsten Tage durch Schwuckencountry!«
»Was dagegen?«, fragte Christian angekratzt. Seit er sich mühsam damit versöhnt hatte, dass sein erwachsener, in Los Angeles lebender Sohn schwul war, zeigte er sich empfindlich bei jeder Form von noch so versteckter Homophobie.
»Kein Problem, Chef«, antwortete Herd. Insgeheim wunderte er sich über Christians Sensibilität diesem Thema gegenüber, war Christian doch wahrlich nicht für Sensibilitäten irgendeiner Art berühmt. Aber Herd legte nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Er kannte Christian seit Jahren und zuckte zu vielen Eigenheiten seines Chefs und Freundes nur mit den Schultern.
»Dann ist ja gut.« Christian hob die Sitzung auf.