20. April 2010
Frankfurt.
Seit vier Tagen und Nächten waren sie unterwegs. Vier Tage und Nächte eingeschlossen in vor Dreck starrenden Baracken oder auf den kalten, unbequemen Ladeflächen von Lieferwagen und Lkws. Vier Tage und Nächte vergewaltigt von den Aufpassern, den Fahrern und den Kunden in den Baracken, mit denen sich die Aufpasser das Gehalt aufbesserten.
Sofia hatte es aufgegeben, sich mit den anderen Frauen zu unterhalten. Am ersten Tag hatte sie Katyas Beistand schmerzlich vermisst und deswegen die Nähe zu einer Litauerin gesucht, die irgendwo bei Nacht und Nebel mit drei anderen Frauen zu der Ladung gepackt worden war. Nähe tat gut, Nähe schien überlebensnotwendig. Sie unterhielten sich leise auf Russisch, vermieden es, ihre derzeitige Situation zu thematisieren, erzählten stattdessen von ihren Familien, sprachen übers Wetter und die globale Erwärmung, über Schuhmode und das letzte Buch, das sie gelesen hatten – ganz so, als würden zwei Freundinnen in einer Kneipe sitzen. Am nächsten Tag war die Litauerin vom Lkw gezerrt worden. Und Sofia fühlte sich erneut von aller Welt verlassen. Ware wurde an- und abgeliefert. Inzwischen war sie davon überzeugt, dass nur sie selbst und zwei Serbinnen, die auch in Brcko versteigert worden waren, nach Deutschland gebracht werden sollten. Mit denen konnte sie sich allerdings nicht verständigen.
Bei der letzten Pinkelpause hatte Sofia ein deutsches Autobahnschild gesehen: Frankfurt 280 km. Inzwischen hockte sie mit einer der beiden Serbinnen auf der Rückbank eines Mercedes. Ein maghrebinisch aussehender Kerl, der von seinem Kollegen Sidi genannt wurde, saß am Steuer, neben ihm ein deutscher Aufpasser, der sie an der polnischen Grenze aus dem letzten Lieferwagen übernommen hatte. Die andere Serbin war mit zwei Lettinnen von einem Volvo-Kombi abgeholt worden. Der Deutsche besaß die Statur eines Kleiderschranks und trug nur ein Muskelshirt unter der Nappalederjacke. Sein Name war bislang noch nicht gefallen. Beim Umladen hatte Sidi sie und die Serbin auf Deutsch gefragt, ob sie Ärger machen würden. Die Serbin hatte kein Wort verstanden und auch Sofia gab vor, nicht zu verstehen. Seitdem unterhielten sich die beiden Kerle auf den Vordersitzen ungeniert.
»In etwa anderthalb Stunden sind wir da. Was meinst du, sollen wir die Nutten noch mal durchknallen, bevor wir sie abliefern?«
Sidi schüttelte den Kopf: »Keinen Bock. Denen läuft doch noch das Sperma von den Polacken die Beine runter. Bevor ich da rangehe, müssen die Schlampen erst mal duschen.«
Sofia wurde übel. Magensäure stieg hoch, doch sie machte nicht den Fehler, sich auf Deutsch zu verraten. Auf Rumänisch bat sie, aussteigen zu dürfen. Der deutsche Aufpasser drehte sich um und wollte sie anblaffen, doch an ihrem Gesicht sah er, was los war.
»Halt an, Sidi, sonst kotzt die uns die Karre voll.«
Sidi hielt auf dem Standstreifen, Sofia stieg aus dem Wagen und erbrach sich mehrfach in die Böschung. Sidi und der andere waren auch ausgestiegen. Sie lehnten mit dem Rücken am Auto, machten eine Zigarettenpause und achteten nicht auf sie. Sofia schätzte ihre Chancen ab. Sie hatte kaum Kraft, aber es war weit nach Mitternacht und stockfinster. Nur alle paar Minuten erhellten die Scheinwerfer eines Autos die Fahrbahn. Sie musste es versuchen.
Sofia sammelte all ihre Kraft, sprang über die Böschung und rannte los. Das Stoppelfeld unter ihren Füßen war hart und uneben, sie kam nicht schnell vorwärts. Nicht schnell genug, dachte sie panisch. Da hörte sie auch schon Sidis wütenden Schrei hinter sich. Autotüren wurden zugeknallt, mit einem Piepen abgeschlossen, schwere Schritte und lautes Fluchen verfolgten sie.
Sofia bekam Seitenstechen. Sie war so geschwächt, dass sie keine Chance hatte. Tränen liefen ihr die Wangen herunter, während sie hoffnungslos weiterstolperte, doch sie spürte sie nicht. Sie hörte nur das stoßweise Atmen der Männer hinter ihr, die immer näher kamen, und wusste, dass sie verloren hatte. Ein Tritt ins Kreuz zwang sie zur Aufgabe. Sie flog in hohem Bogen nach vorne, landete mit dem Gesicht im Dreck, spürte, wie sie sich Hände und Wangen an kleinen Steinchen aufschürfte. Sie wollte einfach liegen bleiben, nie wieder aufstehen, das Gesicht in die Erde vergraben, bis sie erstickte. Doch einer der beiden Männer zog ihren Kopf an den Haaren zurück, riss sie hoch, bis sie halbwegs wieder auf den Füßen stand.
»Du verdammte Fotze, wenn du das noch mal machst, breche ich dir alle Knochen!«, herrschte der Kleiderschrank sie an. Dabei sprühten seine Spuckefäden in Sofias Gesicht, doch sie konnte den Kopf nicht abwenden, da er sie immer noch an den Haaren festhielt. Daran zog er sie auch zurück zum Wagen und stieß sie auf den Rücksitz.
Den Rest der Fahrt zitterte Sofia unkontrolliert. Sie konnte nicht mehr aufhören zu zittern, so sehr sie sich auch bemühte. Die Serbin schob ihre Hand in Sofias und drückte sie fest. Das half ein bisschen.
Irgendwann verließen sie die Autobahn und bewegten sich nur noch auf Landstraßen. Sofia versuchte, sich zu konzentrieren. Sie kannte Frankfurt ein wenig, hatte schon mehrere Konzerte hier gespielt und wollte sich den Weg merken, wollte wissen, wohin sie gebracht wurden. Doch sie fuhren gar nicht bis Frankfurt, sondern nur bis Offenbach. Und wieder ging es, wie in Weißrussland, wie in Bosnien-Herzegowina, wie in Polen, auf einen schlecht asphaltierten Hof hinter einer Bar. Das neue Gefängnis, das auf sie wartete, war ein zweistöckiges Gebäude mit schmutzig-grauem Putz. Eine ungeschminkte, freundlich aussehende Frau um die fünfzig empfing sie. Sie stellte sich als Evelyn vor und zeigte ihnen ihr Zimmer. In dem Zimmer standen ein Tisch und fünf Betten. Auf drei der Betten lagen Klamotten und Schminkzeug herum. Sofia und die Serbin sollten die beiden freien Betten übernehmen. Kaum hatten sie den Raum betreten, wurde hinter ihnen abgeschlossen. Sofia hörte noch, wie Evelyn Sidi und seinen Kollegen fragte, ob alles glattgelaufen sei. Der Kleiderschrank bejahte das, warnte Evelyn aber vor Sofia, die einen aufsässigen Charakter habe. Damit entfernten sich die Stimmen.
Sofia rüttelte an der Tür. Keine Chance. Sie sah nach dem Fenster. Es war vernagelt. Von dem Raum aus führte eine zweite Tür zum Toilettenraum mit einer Dusche. Hier gab es kein Fenster. Sofia wusch sich die Erde aus dem Gesicht und den Haaren und säuberte ihre Schürfwunden. Dann ging sie ins Zimmer zurück. Die Serbin lag auf einem der freien Betten und starrte an die Decke. Sofia setzte sich auf das andere Bett. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Aber sie wusste, dass man sie nicht ewig hier einsperren würde. So konnte man kein Geld mit ihr verdienen. Irgendwann würde sie in einem Club arbeiten. Und in jedem Club gab es Wege nach draußen. Oder man würde sie mit einem Kunden allein lassen. In einem Zimmer mit Fenster vielleicht. Sie musste nur ruhig bleiben, zu Kräften kommen, einen klaren Kopf behalten und auf ihre Chance warten.
Sofia hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht und sich damit an eine vage Hoffnung geklammert, als die Tür wieder geöffnet wurde und Evelyn mit einem Tablett hereinkam. Hinter ihr betrat ein Mann das Zimmer, etwa Ende dreißig und ähnlich gebaut wie der Kleiderschrank. Auf dem Tablett waren zwei Teller mit dampfender Suppe. Daneben lagen zwei aufgezogene Einwegspritzen und ein Plastikschlauch. Sofia merkte plötzlich, wie hungrig sie war. Die Spritzen jedoch versetzten sie in Panik. Auch die Serbin setzte sich auf und sah gierig nach den Tellern.
Evelyn wandte sich an ihren Begleiter: »Übersetz mal, Boris. Die eine kann wohl Russisch, die andere Serbisch.« Boris nickte und übersetzte fließend in zwei Sprachen: »Mädels, es ist zwar schon spät, aber ihr müsst was essen. Schätze, Sidi und Kalle haben euch auf der Fahrt hungern lassen, diese elenden Schweine. Ich behandele meine Mädels gut, damit ihr das wisst. Es sei denn, ihr macht Zicken. Aber das wollt ihr sicher nicht. Also esst erst mal.« Evelyn klang wie eine nette Herbergsmutter, die nur das Beste für ihre Zöglinge wollte.
Sofia und die Serbin aßen mit Heißhunger. Evelyn sah ihnen dabei zu. Ihr Begleiter lehnte an der Wand und knabberte gelangweilt an seinen Fingernägeln.
»Hört zu, Mädels«, begann Evelyn, als sie die Teller wieder einsammelte. Boris übersetzte synchron. Er würde auch bei der EU arbeiten können, dachte Sofia. Irgendwie tat er das ja auch.
»Ihr schlaft euch jetzt aus, morgen reden wir ein bisschen und dann zeige ich euch alles. Ich weiß, dass ihr erst mal enttäuscht seid, weil ihr euch etwas anderes vorgestellt habt, aber für die Erfüllung eurer Träume müsst ihr arbeiten. Wie das abläuft, erfahrt ihr morgen. So, und damit ihr nach den ganzen Reisestrapazen gut schlafen könnt, wird Boris euch etwas geben, was euch hilft.«
Boris sprach beim Übersetzen tatsächlich von sich in der dritten Person. Dann griff er zu der ersten Spritze. Die Serbin stand auf und ging mit zwei großen Schritten zu Boris hin. Sie zog den Ärmel ihres Pullovers hoch. Sofia sah die Einstichwunden und begriff, dass die Serbin nicht gierig nach der Suppe geschielt hatte. Boris grinste sie an und gab ihr die Spritze und den Schlauch. Die Serbin band sich mit dem Schlauch den Arm ab und setzte sich die Spritze. Kaum war der Stoff in ihrer Blutbahn, seufzte sie wohlig und ließ sich auf ihr Bett sinken.
Fast hätte Sofia sich verraten, doch in letzter Sekunde schaltete sie und fragte auf Russisch, was man ihnen verabreiche.
»Roofies«, sagte Boris. »Was zum Schlafen. Ganz harmlos.«
Sofia erklärte Boris möglichst ruhig, dass sie einen sehr guten Schlaf habe und keine Hilfsmittel brauche. Doch weder Boris noch Evelyn ließen sich überzeugen. Als Sofia sich dennoch weigerte, die Drogen zu nehmen, wurde Gewalt angewendet. Boris hielt sie fest, Evelyn band ihr den Arm ab und setzte die Spritze.
Danach verließen Evelyn und Boris das Zimmer. Der Schlüssel wurde im Schloss gedreht. Es herrschte Stille im Raum. Sofia hörte nur den flachen Atem der Serbin und etwas leise Musik, die aus dem Club im Vorderhaus durch die Ritzen der vernagelten Fensterbretter drang. Sofia begann zu weinen. In Chişinău hatte man sie schon unter Drogen gesetzt, in Brcko ebenso. Sie wollte, sie durfte nicht in diese Falle geraten. Doch ihr Körper hörte zu weinen auf und schwebte nach oben in eine Welt voller klingender Farben und bunter Töne. Sofia fühlte sich ruhig und leicht. Nichts tat mehr weh. Sie ließ sich steigen und steigen. Keine Gegenwehr mehr.