30. Juli 2010
Hamburg.
Am nächsten Morgen weckte Christian Anna gegen sieben Uhr auf, indem er ihr Frühstück ans Bett brachte. Auf dem Tablett standen frischer Cappuccino, Birnensaft und Annas Lieblingsmüsli, dazu eine kleine Vase mit einer Blume, die er aus dem Vorgarten gepflückt hatte.
»Womit habe ich mir das verdient?«, fragte Anna gleichermaßen überrascht wie noch verschlafen. Sie rieb sich die Augen und setzte sich auf, während Christian die Vorhänge öffnete. Er war schon geduscht, rasiert und komplett angezogen.
»Weil du mich nach Rendsburg gefahren, mit Alina gesprochen und auch noch knappe vierundzwanzig Stunden ausgeharrt hast.«
»Und dafür ein Hauptseminar an der Uni geschwänzt habe, vergiss das nicht. Meine Studenten sind garantiert sauer über die kurzfristige Absage.«
»Ach was, die sind froh, wenn du sie mal nicht quälst.« Christian setzte sich auf den Bettrand und gab ihr einen Kuss. »Heute hast du aber frei, oder?«
Anna grinste: »Lass mich raten. Du willst wieder nach Rendsburg, weil Danylo inzwischen da sein müsste. Und den würdest du dir zu gerne mal wieder vorknöpfen.«
»Ich bin viel zu leicht zu durchschauen.«
»Du hast Glück, ich würde Danylo Savchenko zu gerne kennenlernen. Nur deswegen kutschiere ich dich wieder durch die Gegend. Unter normalen Umständen würde ich sagen: Fahr endlich mal selber, Mann, wozu hast du den Lappen? Aber da ich weiß, wie idiotisch du dich im Straßenverkehr anstellst …«
»Werd bloß nicht frech, ich habe tausendfach polizeiliches Fahrtraining absolviert!«
»Vollkommen vergeblich!«
Christian küsste Anna den Milchschaum von der Oberlippe. »Mach dich nur lustig. Hauptsache, du fährst mich. Ich habe dich einfach gerne um mich. Und inoffiziell ist die Fahrt ja sowieso. Zuerst will ich aber noch zur Morgenkonferenz in die Zentrale. Du hast also genug Zeit für eine Gurkenmaske.«
Als Christian kurz nach acht mit seinem Hollandrad in der Zentrale der Soko ankam, waren nur Pete und Daniel da. Daniel saß wie immer in seinem Kabuff und hackte wie wild in seine Computertastatur. Pete war im Konferenzraum in irgendwelche Unterlagen vertieft und trank Kaffee.
»Wo sind denn die anderen?«, fragte Christian.
»Selber guten Morgen. Volker ist zu einer Schulung abgezogen worden, Herd an die Mordbereitschaft ausgeliehen, und ich soll heute noch nach Berlin zu einem deutschlandweiten Profiler-Workshop.«
»Wie bitte? Wer hat denn den Schwachsinn veranlasst?«
»Wieckenberg. Vielleicht weiß er von deinem unautorisierten Ausflug in die polizeilichen Belange Schleswig-Holsteins. Obwohl er uns doch sehr deutlich gemacht hat, dass die Akte Petersen geschlossen ist. Und ein mittelmäßig intelligenter Oberstaatsanwalt wie Wieckenberg kann zwischen Petersens Tod und dem Verschwinden der Suworow-Damen keinen Zusammenhang sehen. Und da wir genau deswegen auch offiziell keinen Fall haben, darf er uns, wie du sehr wohl weißt, zur Unterstützung auf andere Abteilungen verteilen.«
Christian nahm sich Kaffee aus der Kanne. »Das kann nur Kühl gewesen sein, der Staatsanwalt aus Rendsburg. Schade. Ich fand ihn sympathisch.«
»Jedenfalls sollst du gleich mit Vollgas zu Wieckenberg ins Büro traben.«
Christian wollte gerade aufbrechen, als Daniel mit einem Stapel Ausdrucke aus seinem Zimmerchen trat: »Hier, Chefe. Hab dir alles über Heiko Bender zusammengestellt, wie du wolltest.«
»Danke, Daniel, ich lese es später. Muss zu Wieckenberg.«
»Autsch.« Daniel legte die Ausdrucke auf den Konferenztisch und trottete zurück in sein Büro.
Zu Christians Überraschung hatten weder Kühl noch seine Landpartie nach Rendsburg mit Wieckenbergs schlechter Laune zu tun. Er wusste nichts davon. Dennoch sah er ausreichend Grund, um Christian zusammenzufalten: »Wie kommen Sie dazu, gegen meine ausdrückliche Anweisung im Fall Henning Petersen weiter zu ermitteln?«
»Tue ich das?« Christian setzte seine unschuldigste Miene auf.
»Werden Sie nicht frech. Was gehen Sie die Suworow-Schwestern an? Wieso macht die Soko Bund eine Vermisstenmeldung bei der SIS? Und die Kosten für Ihren Flug nach Moldawien! Durch nichts gerechtfertigt, durch rein gar nichts! In Bad Bramstedt haben Sie sogar Karl Jensen mit unangemessenen Fragen belästigt!«
»Daher weht der Wind!« Langsam wurde Christian sauer. »Ist Jensen ein Golf-Kumpel von Ihnen, oder wieso steht er unter Welpenschutz?«
Wieckenbergs Miene wurde rot vor Zorn. Christan hatte, ohne es zu wissen, ins Schwarze getroffen. Doch bevor die beiden sich weiter beharken konnten, ging die Tür zu Wieckenbergs Büro auf. Wieckenberg wollte schon herumfahren und den unangemeldeten Eindringling anpfeifen, doch dann sah er, wen er vor sich hatte, und schaltete auf freundlich: »Herr Senator, Sie sind schon da … Wie erfreulich!«
Thorsten Helmann, der Hamburger Senator für Justiz, begrüßte Christian genauso freundlich wie Wieckenberg: »Herr Beyer, schön, Sie mal wieder zu sehen! Ich hoffe, Sie sind nicht dienstlich hier!«
»In der Tat aus völlig inoffiziellen Gründen«, erwiderte Christian und grinste Wieckenberg an. »Außerdem schon wieder im Gehen.«
Wieckenbergs Telefon klingelte. Er ging ran.
Christian hätte die günstige Situation gerne genutzt und sich ohne Abschied vom Oberstaatsanwalt verdrückt, doch diese Unhöflichkeit Wieckenberg gegenüber wäre ein Affront zu viel gewesen. Also wartete er.
Wieckenberg erhielt ganz offensichtlich unerfreuliche Nachrichten. Er hörte mit erstaunter, dann besorgter Miene zu, schließlich ließ er den Hörer sinken und wandte sich an Helmann: »Benedikt ist ermordet worden.«
»Werner Benedikt? Unser Staatsrat?« Helmann war fassungslos. Er nahm Wieckenberg den Hörer aus der Hand. »Hier Helmann, mit wem spreche ich?« Helmann hörte konzentriert zu. »Okay, ich schicke Ihnen Christian Beyer vorbei. Der wird das übernehmen … Ja, jetzt sofort.«
Helmann legte auf und sah Christian an: »Das ist doch kein Problem für Sie, oder?«
Christian wand sich. Er wollte nach Rendsburg fahren und weiter in den ominösen Abgründen des von ihm inzwischen so genannten Petersen-Savchenko-Suworow-Falles bohren. Damit jedoch konnte er im Moment weder Wieckenberg noch Helmann kommen. Also sagte er zu, forderte aber ein, dass er all seine von Wieckenberg abgezogenen Leute sofort zurückbekam. Wieckenberg blieb keine Wahl, er musste klein beigeben.
Haus und Vorgarten waren komplett abgesperrt. Schutzpolizisten versuchten geduldig, die neugierigen Nachbarn nach Hause zu schicken und die Presse zurückzudrängen. Christian zeigte seinen Ausweis und betrat die Villa durch die offen stehende Tür. Im Flur empfing ihn ein Kollege von der Spurensicherung. Er war damit beschäftigt, alles einzupinseln und Fingerabdrücke zu nehmen. Wortlos reichte er ihm Überschuhe und Handschuhe aus seinem Koffer und wies auf eine Zimmertür rechts vom Flur. In dem Wohnraum wimmelte es nur so von Beamten. Ein Mann in Zivil löste sich aus einem Gespräch und begrüßte Christian: »Gut, dass du da bist. Sieh dir das mal an!«
»Würde ich ja gerne, Harald. Aber deine Leute verstellen mir den Blick«, erwiderte Christian.
Harald reagierte: »Raus. Alle raus jetzt!«
Die Beamten folgten der Aufforderung ihres Vorgesetzten Harald Bode. Erst jetzt konnte Christian die Leiche sehen. Ein gedrungener Mann Ende fünfzig lag hinter dem Sofa auf einem Perserteppich. Seine Augen waren geöffnet und weit aus den Höhlen hervorgequollen. Einige Äderchen waren geplatzt und marmorierten das Weiß des Augapfels mit blutigem Geäst. Die Zunge hing dick und belegt aus dem Mund. Der Hals war von einem dünnen roten Striemen überzogen. Nur wenige Tropfen Blut waren auf dem Teppich zu sehen.
»Erdrosselt«, sagte Herd. Er war aus dem Flur dazugekommen. »Hey, Chris, weißt du schon, dass ich an die Mordbereitschaft ausgeliehen bin?«
»Kannste vergessen. Das hier ist jetzt unser Fall. Du bist wieder zu Hause.«
»Home, sweet home.« Herd begann, das Zimmer und die Leiche in allen Einzelheiten zu fotografieren.
Das weiße Oberhemd des Mannes auf dem Boden war geöffnet und hing zu beiden Seiten des Körpers herunter. Der Oberkörper war mit kleinen Schnitten übersät. Auf dem verfetteten Fleisch der Leiche schlängelten sich jede Menge Würmer und Maden, die die Wundränder anknabberten.
»Woher kommen die Maden und das andere Zeugs? Die Leiche sieht noch verdammt frisch aus!« Christian konnte sich das Vorhandensein der Parasiten nicht erklären.
»Das fragen wir uns auch. Die Leiche liegt höchstens seit gestern hier. Viel zu kurz für diesen Befall«, sagte Bode.
Herd bückte sich und besah das Gewimmel auf der Leiche genauer. »Ich bin zwar kein Fachmann, aber soweit ich das beurteilen kann, sind hier auch Viecher, die wir normalerweise nicht an Leichen finden.« Er hob mit spitzen Fingern eines der Tiere hoch. »Eindeutig ein Regenwurm.«
»Keinerlei Anzeichen für einen Kampf«, stellte Christian fest. »Entweder war der Gegner immens überlegen, oder die Schnitte wurden post mortem angebracht.«
»Oder das Opfer war betäubt«, sagte Herd.
»Auch eine Möglichkeit. Warten wir ab, was Karen sagt.« Christian wandte sich an Harald: »Wer hat die Leiche wann gefunden?«
»Die Putze. Seine Ehefrau ist mit den Kindern vor drei Tagen in Urlaub gefahren. Gestern früh war die Putze hier, da hat er noch gelebt.«
Christian staunte: »Der lässt die Putzfrau jeden Tag kommen?«
»Sie hat gestern ihren Ehering hier liegen lassen und wollte ihn heute Morgen abholen. Es hat keiner aufgemacht, also hat sie ihren Schlüssel benutzt.«
»Der Typ ist Staatsrat?«
Bode nickte: »Dr. Werner Benedikt. Staatsrat für Kultur und Medien. Schätze, deswegen hat sich der Senator der Justizbehörde reingehängt und dich angefordert.«
»Das war einfach nur Pech. Ich war gerade bei Wieckenberg, als du angerufen hast. Sozusagen zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Bist du das nicht seit deiner Geburt?«, warf Herd dazwischen, ohne den Blick vom Display seiner Kamera abzuwenden.
»Einbruchspuren haben wir bislang keine gefunden«, fuhr Bode fort. »Vielleicht hat er den Täter gekannt.«
»Ein voreiliger Schluss, der immer wieder gezogen wird«, widersprach Christian. »Wen lässt man denn alles unkontrolliert zur Tür rein? Den Postboten, Schornsteinfeger, Elektriker …«
»Jaja, schon gut. Meine Leute sind in der Nachbarschaft unterwegs und führen die ersten Befragungen durch.«
»Ihr seid ganz schön fix«, sagte Herd, während er sich zur Leiche beugte und Makroaufnahmen von den Parasiten machte.
»Logn. Hier liegt ’n Staatsrat«, grinste Bode. »Außerdem sind wir die ›Mordbereitschaft‹. Allzeit bereit.«
»Fehlt was?«, fragte Christian.
Bode zuckte mit den Schultern. »Wir haben die Ehefrau benachrichtigt. Sie kommt morgen zurück. Dann kann sie nachsehen.«
»Wo ist denn die Putzfrau?«
»Die habe ich nach Hause bringen lassen. Sie war völlig durch mit den Nerven.«
»Schade. Eine gute Putzfrau weiß genau, wo was steht. Die merkt nicht nur, wenn was fehlt, sondern auch, wenn ein Gegenstand einen Zentimeter zu weit nach links oder rechts gerückt ist.«
»Hast recht. Ich lasse sie noch mal herholen.«
»Rufst du bitte Karen an?«, wandte sich Christian an Herd. «Die soll sich das vor Ort ansehen, bevor die Viecher eingesammelt werden.«
Bodes Handy klingelte, während Herd mit Karen telefonierte und Christian die bizarre Szenerie einer frischen, aber mit Insekten bevölkerten Leiche in einem penibel sauberen Luxushaushalt auf sich wirken ließ. Es wirkte surreal.
Bode führte ein nur kurzes Gespräch, dann steckte er sein Handy weg. »Heute wird uns ja richtig was geboten! Wir haben eine zweite Leiche. Sieht genauso aus. Erdrosselt und mit Krabbeltierchen.«
»Etwa noch ein Senator?«, fragte Christian.
Bode grinste: »Viel besser. Lass dich überraschen!«
»Ungern.«
Bode fuhr vor, Christian und Herd folgten ihm in Herds Dienstwagen. Vom schicken Stadtteil Alsterdorf ging es quer durch Hamburg in die Innenstadt zum ›Side Hotel‹. Das ›Side‹ war mindestens genauso vornehm wie die Villen in Alsterdorf – ein Fünf-Sterne-Design-Hotel mit futuristisch angehauchter Ausstattung und einem hervorragenden Restaurant. Christian hatte bislang weder das Hotel noch das Restaurant von innen gesehen. Das ›Side‹ war nicht sein Stil und auch nicht seine Preisklasse.
Der Hotelchef empfing sie und bat um Diskretion in dieser »unkomfortablen Sache«, wie er sich ausdrückte. Christian ignorierte ihn. Mit dem Fahrstuhl fuhren sie hoch zu einer der Executive-Suiten.
»Ich wollte, ich hätte ’ne Sonnenbrille dabei. Bei den Farben kriege ich Augentripper«, flüsterte Herd Christian zu. Auch Christian fand die Ausstattung zu grell, interessierte sich jedoch mehr für die versprochene Überraschung.
Auf dem riesigen Bett lag ein bulliger, nackter Mann. Die Szenerie ähnelte der in der Alsterdorfer Villa fast bis ins Detail: ein blutiger Striemen am Hals, Augen hervorgetreten, Zunge heraushängend. Der ganze Körper war mit kleinen Schnitten versehen. Überall krochen und krabbelten und wimmelten Maden, Würmer und kleine Käfer auf und in der Haut. Sie sammelten sich vor allem im Mund, an den Lidrändern, in den Nasenlöchern und an den Genitalien.
An der Wand befanden sich jede Menge dunkelroter Spritzer.
»Sieht nicht wie Blut aus«, sagte Herd.
»Ist es auch nicht.« Christian wies auf das zersplitterte Rotweinglas, das in einer kleinen Pfütze am Boden vor der Wand lag. Er beugte sich über die Leiche.
Obwohl sich auf dem Gesicht jede Menge Viehzeugs tummelte, erkannte Christian den Toten sofort. »Fuck! Das ist Puri! Andres Puri, der Baltenboss.«
»Genau«, sagte Bode. »Ein Arschloch weniger unter der Sonne.«