Les Haies, Frankreich.

Danylo war inzwischen bei einem anderen Freund untergekommen. Er hatte Antoine Savigny vor Jahren in einer Pariser Schwulenbar kennengelernt und ein paar Monate mit ihm verbracht. Antoine war damals schon über fünfzig gewesen, aber er mochte den kultivierten Geschichtsprofessor, der ihm viel über Stil und Savoir-vivre beibringen konnte. Von Antoine hatte er gelernt, wie man Austern öffnete, Weine dekantierte und Louis-XIV- von Louis-XVI-Möbeln unterschied. Danylo betrachtete es als Geschenk Gottes, dass seine Welt von Freunden bevölkert war, auf deren Hilfe er jederzeit zählen konnte. Sofia hatte ihm deswegen schon mehrfach Naivität unterstellt. Ihrer Meinung nach ging es bei Danylos zahllosen Freundschaften rein ums gegenseitige Profitieren. Antoine schmückte sich mit dem jungen, gut aussehenden Pianisten, dafür wurde Danylo ein paar Monate lang fürstlich verpflegt und verwöhnt. Bis er unruhig wurde, weiterzog und die nächste »Freundschaft« schloss.

Beim ersten Mal war Danlyo sauer geworden, doch inzwischen verletzte ihn Sofias Sichtweise nicht mehr. Sie verstand das einfach nicht. Möglicherweise war sie auch eifersüchtig, weil es ihr nur selten gelang, überhaupt Nähe zu Menschen herzustellen. Jedenfalls hatte Antoine, als Danylo ihn anrief, sofort seine Hilfe zugesagt, und zwar ohne groß Fragen zu stellen. Sie waren in Paris in eines der besten Restaurants gegangen. Danach hatte Antoine ihn mit seinem Austin Healey ins Landhaus bei Les Haies gebracht und ihn bei zwei Flaschen Bordeaux in die Grundsätze des Schießens eingeweiht. Antoine war seit Jahrzehnten begeisterter Jäger. Sicher glaubte er Danylo nicht, dass er die vollautomatische Pistole in SaintTropez an einem illegalen Pokertisch gewonnen hatte. Aber er sagte nichts.

Antoine war am nächsten Tag wieder nach Paris zurückgefahren. Er würde erst am Samstag wiederkommen. Danylo hatte also drei Tage Zeit, auf seinem neuen Instrument zu üben. Zu Antoines Landhaus gehörten mehrere Hektar Grund, auf denen der Hausherr mit seinen Gästen des Öfteren Schießübungen machte. Geballer war also kein Störfaktor für die weit entfernt wohnenden Nachbarn.

Danylo befand sich am äußersten Nordost-Ende von Antoines Anwesen, das an den Forêt des Quatre Piliers grenzte. Er hielt seine Pistole im Anschlag, konzentrierte sich auf sein Ziel, eine etwa zwanzig Meter entfernte Eiche. Er schoss. Jedes Mal wieder wunderte er sich über den Rückstoß dieser kleinen Waffe. Antoine hatte ihm zwar etwas über Impulserhaltung erzählt, doch Danylos Aufmerksamkeit war durch den Bordeaux schon geschmälert gewesen.

Nun wollte er sich konzentrieren. Munition besaß er genug, Talent zum Schießen nicht. Nur selten traf er die Eiche, deren Umfang durchaus beträchtlich war. Doch Aufgeben war keine Option. Danylo wusste, wie man lernte, ein Instrument zu beherrschen. Durch Zähigkeit und endloses Wiederholen.

Nur eine winzig kleine Pause wollte er sich gestatten. Sein rechtes Handgelenk schmerzte vom Rückstoß, seine Finger schwollen an. Er würde tagelang kein Klavier spielen können. Außerdem war er halb taub. Er sorgte sich um sein Gehör und einen möglichen bleibenden Schaden. Doch er hatte einen Entschluss gefasst. Nun hieß es üben, üben, üben. Wenn er bis heute Abend die Eiche nicht zehn Mal hintereinander traf, würde er eine halbe Stunde auf Erbsen knien.

Plötzlich zeigte sich ein Reh zwischen den Bäumen. Es blieb stehen und sah Danylo an. Danylo betrachtete diese Situation als eine erste Prüfung. Wenn er einen Menschen töten wollte, dann musste er auch ein Reh töten können. Langsam hob Danylo die Waffe an und zielte. Die Tränen, die über seine Wangen liefen, spürte er nicht.