Rendsburg.

Danylo, der seit Tagen keinerlei Regung mehr gezeigt hatte, fing vor Freude fast an zu weinen, als sie in Alinas Krankenzimmer durften. Vadim gab sich zuerst männlich cool, doch als Alina ihn anstrahlte, als würde sie seit Langem zum ersten Mal die Sonne sehen, war es auch um seine Beherrschung geschehen. Er stürzte zu ihr und nahm sie in seine Arme. »Du bist so dünn geworden, Cousinchen, so schrecklich dünn!« Er sagte es in einem möglichst scherzhaften Ton, damit sie nicht merkte, wie entsetzt er über ihr elendes Aussehen war.

Sie klammerte sich an ihn, weinte und lachte gleichzeitig und wiederholte schier endlos seinen Namen. Es dauerte Minuten, bis sie endlich auch Danylo begrüßte, der sie innig rechts und links auf die Wangen küsste. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schön es ist, dich zu sehen«, sagte er heiser.

»Wo kommt ihr her? Papa hat mir gar nichts davon gesagt!«

»Wir wollten dich überraschen.« Nach dem ersten Aufruhr der Gefühle setzte sich Vadim auf den Bettrand. Er hielt Alinas Hand, als wolle er sie nie wieder loslassen. Sie schauten sich eine Zeit lang einfach nur an.

»Wie geht es dir?«, unterbrach Danylo schließlich die Stille.

»Schon viel besser. Der Arzt hat gesagt, wenn ich so weitermache, darf ich in ein paar Tagen nach Hause. Und das Methadon soll ich …« Alina brach ab. Ihr war bewusst geworden, dass weder Vadim noch Danylo wissen konnten, was alles mit ihr passiert und in welchem Zustand sie war. Ihre Eltern hatte sie belogen. Sie wollte nicht, dass sie die Wahrheit wussten.

»Du hast Radu und Ileana gesagt, dass du die ganze Zeit als Dienstmädchen gefangen gehalten wurdest. In einem reichen deutschen Haushalt. Und dass man dich im Grunde gut behandelt hat«, sagte Vadim leise. »Mir kannst du das nicht erzählen. Ich will die Wahrheit wissen.«

Alina zögerte, doch dann erzählte sie alles, was sie als Frau einem Mann erzählen konnte. Vadim hörte mit starrer Miene zu. Danylo hatte den Kopf in die Hände gestützt und sah zu Boden.

Alina endete ihren Bericht mit einer gewissen Genugtuung: »Der Arzt hat mir heute Morgen verraten, dass die Polizei gestern einen Mann verhaftet hat. Er heißt Heiko Bender und sitzt jetzt in Untersuchungshaft.« Dann fragte sie ängstlich: »Wisst ihr etwas von Sofia?«

Vadim schüttelte den Kopf, Danylo hob ihn nicht einmal. Die beiden waren auf der Fahrt übereingekommen, weder Alina noch den Eltern etwas über Sofias mutmaßliches Ende zu sagen. Bis sie Gewissheit hatten.

»Ihr müsst sie finden«, flüsterte Alina. Ihre anfangs vor Freude geröteten Wangen waren wieder ganz bleich geworden. Die Erinnerung an ihre Torturen hatte sie physisch und psychisch sehr angestrengt.

»Das werden wir!« Endlich sah Danylo Alina an. Seine Augen waren rot gerändert.

Es klopfte an der Zimmertür. Kai Thamm kam mit Staatsanwalt Reile herein. Alina stellte Danylo und Vadim vor.

»Christian Beyer hat mir von Ihnen erzählt«, sagte Thamm zur Begrüßung. »Ich nehme an, Sie sind derjenige, der gerne mal eine illegale Waffe mit sich herumschleppt?« Er sah Vadim auffordernd an.

Vadim öffnete seine Jacke und drehte sich einmal im Kreis, so dass Thamm auch seinen hinteren Hosenbund sehen konnte.

Thamm nickte zufrieden und wandte sich an Danylo: »Wir wollen Frau Suworows Aussage aufnehmen. Geplant war das in Englisch. Aber vielleicht wären Sie so nett und würden in Zweifelsfällen dolmetschen?«

Danylo stimmte zu.

Während des polizeilichen Gesprächs, das auf Band aufgenommen wurde, wartete Vadim im Aufenthaltsraum und trank Kaffee. Zwei alte Männer, die gelangweilt in ihren Bademänteln am Nebentisch saßen, wollten ihn in ein Gespräch verwickeln, doch Vadim nahm nichts mehr um sich herum wahr, weder die alten Männer noch den dünnen Kaffee, den er trank, noch das Geklapper des Geschirrs, das die Krankenschwestern über den Flur karrten. Er hatte nur noch einen Gedanken im Kopf: Bender. Heiko Bender.