12. April 2010
Gomel, Weißrussland.

Sofia war nicht mehr Herrin ihrer Sinne. Sie durchlebte die letzten vierundzwanzig Stunden wie in einem bösen Traum, sah weder Sonne noch Mond, noch konnte sie Wahn und Wirklichkeit unterscheiden. Das Einzige, an das sie sich deutlich erinnerte, waren die vergeblichen Versuche des Bosses in Chişinău gewesen, sie zu vergewaltigen. Wann hatte das stattgefunden? Gerade eben? Vor Jahren? Niemals oder im Leben einer anderen Frau?

Er hatte sie von seinem Laufburschen baden lassen. Dabei war sie von fremden Händen angefasst worden, die sie eingeseift hatten, auch an intimen Stellen. Der Gorilla hatte zotige Bemerkungen gemacht, als er mit seinen Wurstfingern zwischen ihre Beine geglitten war, aber aus Angst vor seinem Boss nicht gewagt, sie zu vergewaltigen, obwohl ihm deutlich nicht nur der Sinn danach stand. Sofia hatte nach ihrem ersten verzweifelten Aufbäumen alles widerstandslos über sich ergehen lassen. Vadim war vermutlich tot, und sie hatte versagt. Alina konnte sie nicht retten, sie konnte nicht mal sich selbst retten. Was hatte sie sich nur gedacht? Woher hatte sie die Arroganz genommen, in ihrem ihr fremden Heimatland die Gewichte der Macht verschieben zu wollen? Wie dumm sie war! Stattdessen hatte sie nackt in einer Badewanne gelegen und war gewaschen worden wie ein Säugling. Sofia hatte versucht, die Embryonalstellung einzunehmen, sie hatte gewimmert wie ein Baby, hatte irgendwo in einer frühkindlichen Zeitfalte ihrer Psyche Zuflucht gesucht.

Als sie gesäubert und eingeölt war, hatte man ihr eine Spritze verabreicht. Danach hatte sie sich besser gefühlt. Leichter. Gleichgültiger. Man hatte sie in ein Zimmer gebracht mit einem großen Bett unter einem weinroten Samtbaldachin, an das erinnerte sie sich. Es war eine schöne, schwere Farbe gewesen, da über ihr. Und dann war der Boss gekommen, und die Kassettentür aus Eichenholz war leise hinter ihm geschlossen worden, und er hatte sich ausgezogen, er wirkte irgendwie lächerlich auf sie, gar nicht Furcht einflößend, und sie hatte lachen müssen, und er hatte sie geschlagen und dann versucht, sie zu nehmen, mit seinem kleinen schlaffen Pimmel, aber es war ihm nicht gelungen, und dann hatte er sie wieder geschlagen, als sei sie schuld daran gewesen, und dann hatte er auf das Laken gepisst, ganz so, als würde seine Mama am nächsten Morgen kontrollieren, ob es eine bestimme Nässe gäbe, die man mit dem Laken als Fahne des Triumphes in die Öffentlichkeit hängen könnte. Das war demütigend gewesen. Aber während des ganzen Vorgangs, denn es war nicht mehr gewesen als ein Vorgang, hatte sie sich einigermaßen erfolgreich bemüht, nicht anwesend zu sein. Vielleicht hatte ihr die Spritze dabei geholfen. Vielleicht war es aber auch die Partitur gewesen, die sie im Geiste durchgegangen war. Es war Tartinis Trille du Diable gewesen, der Teufelstriller, den sie Note für Note durchging, und schon nach dem ersten Satz, der mit larghetto affettuoso überschrieben war, hatte der Boss ermattet von ihr abgelassen. Sofia hatte es trotzdem für keine gute Idee gehalten, in ihren Körper zurückzukehren, und sie hatte recht damit gehabt, denn der alte Ziegenbock war erst der Anfang gewesen. Der Boss hatte sich bei seinen Bodyguards mit zwei knappen, herrisch klingenden Sätzen über ihre mangelnde Leistung beschwert und sie frei fürs Geschäft gegeben. Damit war ihr Schicksal besiegelt worden.

Genau deswegen befand sie sich nun hier. Sofia wusste nicht so recht, was das für ein Ort war. Noch nie hatte sie einen solchen Ort gesehen oder von einem gehört. Genau dreiundzwanzig andere Frauen teilten ihr Schicksal. Sofia hatte gezählt. Sie musste Ordnung in die Dinge bringen, die sie nicht begriff.

Mit zwölf dieser Frauen war Sofia letzte Nacht hier angekommen und in einer großen Bretterbude voller Pritschen und sonst nichts eingesperrt worden. Noch immer war Sofia benebelt, konnte sich nicht genau erinnern, was geschehen und wieso sie hier war. Sie lag auf ihrer Pritsche und fröstelte. Irgendwann kamen zwei Männer, zerrten sie hoch, nahmen sie mit in einen ebenso karg eingerichteten Vorderraum und vergewaltigten sie. Sie versuchte, sich zu wehren, aber sie wurde gefesselt und geschlagen. Als sie wieder auf ihrer Pritsche lag, konnte sie sich nicht einmal erinnern, ob die Männer jung oder alt, dick oder dünn gewesen waren. Sie wimmerte nur ein wenig, weil ihr alles wehtat und sie sich schämte.

Die junge Frau auf der Pritsche neben ihr herrschte sie an: »Halt dein Maul und gewöhn dich dran. Oder du verreckst jetzt schon.« Sie wusste offensichtlich, wovon sie sprach.

»Wo bin ich hier? Was passiert mit mir?«, fragte Sofia, instinktiv auf Rumänisch. Ihre Stimme klang teigig, als würde ein anderer Mensch sprechen. Sie war nicht mehr sie selbst.

»Du bist in der Nähe von Gomel in Weißrussland in einem Sammellager, Püppi. Die erste Station auf der ›Heroinstraße‹«, antwortete ihre Pritschennachbarin, ebenfalls auf Rumänisch.

»Weißrussland? Heroin?« Sofia fand selbst, dass sie sich wie eine Schwachsinnige anhörte. So stupide, so fremd, so weit weg.

Ihre Pritschennachbarin lachte. Dabei zeigte sie ein lückenhaftes Gebiss. Ihre Figur jedoch war top. »Heroinstraße heißt es, weil früher auf dieser Route Drogen vertickt wurden. Der Name ist geblieben, nur die Ware hat sich geändert. Jetzt sind wir die Ware, Püppi. Wir Frauen aus Rumänien, Moldawien, der Ukraine und Belarus. Sieh dich um. Und weine mit deinen Schwestern.«

Das Wort »Schwestern« versetzte Sofia einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Sie richtete sich auf. »Bist du schon länger hier?«

»Seit vorgestern. Aber leider nicht zum ersten Mal.«

»Vorgestern …« Sofia versuchte, sich zu konzentrieren. Ihr Kopf tat weh. »Hast du meine kleine Schwester gesehen? Alina heißt sie. Ich bin Sofia. Alina ist verschwunden. Vor ein paar Tagen. Was für ein Tag ist heute? … Egal. Donnerstag- auf Freitagnacht ist Alina verschwunden. Aus Chişinău. Sie ist erst siebzehn.«

»Siebzehn … So alt war ich auch, als sie mich das erste Mal gegriffen haben.« Der Ton der Frau war nun nicht mehr ganz so ruppig. »Ich heiße übrigens Katya.«

Katya erhob sich von ihrer Pritsche und rief halblaut in den Raum hinein: »Mädels! War in den letzten Tagen eine Alina aus Moldawien hier?«

Keine Antwort. Einige der Frauen gaben sich immerhin die Mühe, den Kopf zu schütteln. Die anderen dämmerten nur vor sich hin.

»Aber sie muss doch hier gewesen sein!«, widersprach Sofia lautstark der allgemeinen Teilnahmslosigkeit. »Ihr müsst sie doch gesehen haben, erinnert euch! Bitte!«

Katya drückte Sofia zurück auf die Pritsche. Leise, aber deutlich zischte sie: »Mach keinen Aufstand, sonst beziehen wir alle Prügel!«

Sofia begann zu weinen. »Aber … Alina … ?«

»Das hier ist nicht das einzige Sammellager in der Gegend. Ich kenne noch eins in Mahiljou, und sicher gibt es noch mehr.«

»Wieso Sammellager? Bleiben wir nicht hier?«

»Was sollen wir hier? Hier ist nichts zu holen. Auf welchem Planeten lebst du eigentlich?« Katya schien fast wütend. »Die besorgen uns falsche Pässe aus Fälscherwerkstätten in Polen, Litauen und Rumänien. Damit sind wir dann polnische, slowakische oder ungarische Frauen und brauchen kein Visum, sondern nur einen Personalausweis, um in unsere Zielländer einzureisen.«

Sofia wurde schwindlig. »Wieso weißt du das alles?«

»Die Scheiß-Geschichte ist schnell erzählt. Ich wollte raus aus Rumänien. Mit siebzehn. Irgendein Arschloch versprach mir eine Au-pair-Stelle in Holland. Bei einer netten, reichen Familie mit netten, reichen Kindern. Ich hab’s ihm geglaubt, ich dumme Kuh. Es sah alles so echt aus. Man braucht eine Einladung in das Land. Ein großer westeuropäischer Automobilclub, der mit dem weißrussischen Reiseveranstalter SMOG kooperiert, besorgt für ein paar Dollar ein Ersatzpapier für diese Einladung und übernimmt die erforderlichen Garantien wie Krankenversicherung und Rückreise.«

»Die hängen da mit drin?« Sofias Kopfschmerzen wurden von Minute zu Minute schlimmer.

»Und ob. Das Ganze ist nichts als ein großer Beschiss. Du landest nämlich nicht bei einer netten, reichen Familie, sondern in einem elenden Bordell. Ich war in Den Haag. Nach anderthalb Jahren griff mich die Polizei auf, ein paar Sozialarbeiter haben sich um mich gekümmert. Rührend. Wollten mich trösten. Sechs Wochen lang haben sie mich aufgebaut. Dann wurde ich nach Rumänien zurückgeschickt. Die Ärsche dort haben mich schon am Bahnhof wieder eingesackt. Die Polizei verrät ihnen nämlich, wann und wo wir zurückkommen. Raus aus dem Zug, rein in den Lkw. Und alles ging von vorn los. Das hier ist meine dritte Runde.«

»Wie alt bist du?«, fragte Sofia betroffen. Katya sah aus wie Ende dreißig.

»Ich bin zweiundzwanzig.«

»Kannst du mir helfen, Alina zu finden?«

»Schlaf jetzt. Du wirst deine Kräfte brauchen«, sagte Katya, legte sich hin, zog ihre kratzige Decke hoch bis zum Kinn und drehte Sofia den Rücken zu.

Sofia dachte, soweit sie überhaupt noch denken konnte, dass sie bestimmt nicht würde schlafen können. Obwohl schlafen im Grunde eine sehr gute Idee war. Dann würde sie vielleicht in Bremen aufwachen, in ihrer kleinen Wohnung, und sie würde Kaffee trinken und ein frisches Brötchen mit Bio-Kalbsleberwurst essen und an die Musikhochschule gehen und ihren semi-begabten Schülern erklären, was Ausdruck war und wo man ihn herholte. Schlafen war eine gute Idee.