Ramatuelle, Südfrankreich.
Danylo saß am Pool und starrte in den Sternenhimmel. Den ganzen Tag hatte er versucht zu üben, doch er konnte sich nicht konzentrieren. Also war er mit dem Fahrrad zum Tahiti-Strand bei Saint-Tropez gefahren, die paar Kilometer den Berg hinunter und nach zwei gelangweilten Stunden zwischen den ersten Touristen des Jahres den Berg wieder hinauf. Lediglich der mühsame Anstieg hinauf zum Dorf in der hier schon sehr warmen Frühlingssonne hatte ihn kurzfristig von seinen Problemen abgelenkt.
Nach der Nacht, in der Sofia ihn im ›Crazy Horst‹ aufgelesen und in ihrem Hotel untergebracht hatte, war er zu seiner Wohnung in Winterhude gefahren. Sofia hatte noch geschlafen, ermüdet von dem langen nächtlichen Gespräch. Er hatte ihr nicht mal einen Zettel hingelegt, war einfach so gegangen. Da dachte er noch, dass sie sich am Abend zum Konzert sehen würden. Doch als er nach Hause kam, überfiel ihn Panik. Seine Wohnung war aufgebrochen und durchwühlt worden, die Schubladen herausgerissen, der Schrank geöffnet, Kleider und Noten auf dem Boden verstreut. Unter Schock begann er aufzuräumen. Danylo hasste Unordnung, besonders an Tagen, an denen in ihm das Chaos tobte. Dann musste alles an seinem Platz sein, damit er im Gleichgewicht blieb. Während er die Noten zurück ins Regal sortierte, wurde ihm schlagartig klar, dass er nicht in Hamburg bleiben konnte. Der Mann, der bei ihm eingebrochen war, konnte wiederkommen. Außerdem würde sicher bald die Polizei bei ihm auftauchen. Schließlich war er oft genug an Hennings Seite gesehen worden. Man kannte ihn, und er hatte sich an dem bewussten Abend im ›Crazy Horst‹ äußerst verdächtig benommen. Er konnte sich nicht erinnern, was er im Suff dort alles ausgebrabbelt hatte. Er musste verschwinden, am besten ganz raus aus Deutschland. Danylo überlegte nicht lange und rief einen befreundeten dänischen Dirigenten an, der ein kleines Ferienhaus mit Pool in Südfrankreich besaß und es Danylo schon mehrfach zum Entspannungsaufenthalt zwischen den Konzertreisen angeboten hatte. Zum Glück erreichte er ihn sofort, und das Haus war frei. Danylo packte in Windeseile eine kleine Reisetasche, fuhr mit dem Taxi zum Bahnhof und bestieg den nächsten Zug nach Paris, von wo aus er mit dem TGV nach Süden fuhr.
Hier fühlt er sich sicher, nur sein Gewissen quälte ihn. Henning war tot, und Sofia hatte ihn sicher abgeschrieben, nachdem er sie bei dem Konzert hängen gelassen hatte. Am Tag seiner Flucht hatte er das Konzert völlig vergessen, es war ihm erst am späten Abend, als er in Saint-Tropez ankam, wieder eingefallen. Sofia hatte ihm mehrere wütende Nachrichten auf der Mailbox seines Handys hinterlassen. Auch wenn sie Verständnis für seine Situation aufbrachte, war sie stinksauer, dass er sie, ohne Bescheid zu geben, auf der Bühne im Stich gelassen hatte. Ihre letzten Anrufe klangen jedoch eher besorgt. Sie bat dringend um Rückruf, wollte wissen, ob es ihm gut gehe.
Die ersten beiden Tage in Ramatuelle hatte er nicht an Sofia gedacht. Er wusste, dass er sich wie ein egoistisches Arschloch benahm, aber es war ihm egal. Er hatte Angst. Die nächsten beiden Tage rief er nicht zurück, weil er ihre Wut und Vorhaltungen fürchtete. Gestern endlich hatte er bei ihr in Bremen angerufen. Sogar zwei Mal. Jedes Mal war er froh gewesen, dass sie nicht ranging. Wenn er ehrlich war, wollte er nicht mit ihr sprechen und ihr schon gar nicht unter die Augen treten. Er schämte sich entsetzlich. Weil er ein Feigling war. Weil er das getan hatte, was er getan hatte und sie seit seinem Geständnis im Suff alles wusste. Sie würde ihn verachten. Vielleicht sogar hassen. Auch wenn sie in der Nacht, soweit er sich überhaupt erinnern konnte, kein Wort zu seinen Verfehlungen gesagt hatte. Vielleicht hatte sie ihm nicht geglaubt. Aber inzwischen würde sie wissen, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Sicher hasste sie ihn, ganz sicher. Zu Recht. Er hasste sich selbst. Henning war tot.
Danylo hatte Sofia auf ihrer Festnetznummer und auf ihrem Handy aufs Band gesprochen, sich demütig für sein Verhalten entschuldigt und gesagt, dass es ihm gut gehe, soweit das unter diesen Umständen möglich war, und er sich bald wieder melden würde. Dann hatte er aufgelegt und sein Handy schnell wieder ausgeschaltet. Danylo kannte sich mit Technik nicht aus, er konnte nicht einmal einen Computer bedienen. Aber er hatte gehört, dass man Menschen über ihre Handys orten konnte. Und er wollte definitiv nicht gefunden werden. Weder von der Polizei noch von sonst jemandem.
Jetzt saß er schon den sechsten Abend in Folge allein an dem kleinen leeren Pool, sah zu, wie der Wind das wenige vom Vorjahr übrig gebliebene Herbstlaub am Boden des Beckens raschelnd hin und her blies, betrachtete die Sterne, lauschte dem Klang der Nacht und begrub seine Zukunft.
Danylo wusste nicht, was er tun sollte. Zur Polizei gehen und ihnen alles erzählen? Vermutlich würde er nie wieder spielen können, zumindest nicht auf großen Bühnen und bei renommierten Festivals. Die Branche war empfindlich und pflegte ihr kultiviertes Image mit Inbrunst. Schon ein langhaariger Geiger, der in Jeans auftrat, war ihnen ein Dorn im Auge und wurde in die Niederungen der Unterhaltung weggelächelt. Aber er konnte auf Dauer auch nicht hierbleiben. Flucht war keine Option. Verstecken ebenso wenig. Danylo Savchenko war kein Mann, der sich versteckte. Er war ein Mann, der sich zeigte. Er lebte davon, sich zu zeigen.
Also musste er sich wehren. Allerdings wusste er nicht, wie. Er hatte es nie gelernt, kannte nur Schweigen, Ertragen, Gehorchen, Funktionieren und Erwartungen erfüllen. Früher, als er noch ein kleines Kind war, das viel lieber mit anderen Kindern spielen als Klavier üben wollte, hatte ihn sein Vater Maxym als Disziplinarmaßnahme häufig in kurzen Hosen auf getrockneten Erbsen knien lassen. Wie hätte er sich dagegen wehren können? Wie konnte er sich jetzt wehren?
Danylo öffnete die Flasche Cognac, die er aus der gut bestückten Bar des Hauses genommen hatte, und trank einen großen Schluck direkt aus der Flasche. Es brannte. Alles in ihm brannte. Er war so allein wie noch nie im Leben.