27. Juli 2010
Haßmoor.

Weil oben das Telefon klingelte, hatte er vergessen, den Schlüssel außen abzuziehen! Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Seit Wochen schon versteckte sie ein Stück Draht in ihrer Kammer, und erst vorgestern hatte sie beim Putzen ein Zwei-Cent-Stück gefunden, das perfekt in den Schraubenschlitz der Verkleidung der Heizungsanlage passte. Mehrfach hatte sie die Schraube heraus- und wieder hineingedreht. Sie war lang genug, um den Schlüssel aus dem Schlüsselloch herauszudrücken. Falls sie den Schlüssel in die richtige Position bekam. Jetzt musste sie nur noch warten, bis er eingeschlafen war. Es war kurz vor Mitternacht, sicher würde er bald ins Bett gehen. Sie bemühte sich, ihre Anspannung zu unterdrücken und ruhig durchzuatmen. Geduld war jetzt das Schwierigste, aber sie wollte sich nicht durch irgendein Geräusch verraten. Vermutlich hörte er sie oben gar nicht. Dennoch durfte sie keinen Fehler machen und nichts übereilen. Vielleicht würde es Monate dauern, bis sie eine zweite Chance bekam. Sie sah auf die Leuchtziffern ihrer Uhr und zwang sich, eine Stunde still verstreichen zu lassen.

Sie lauschte. Kein Geräusch war von oben zu hören. Sie erhob sich von ihrem Feldbett, tastete sich die zwei Meter zur Heizungsanlage und drehte leise die schon gelockerte Schraube aus der Metallverkleidung. Es war stockdunkel, die Deckenlampe in ihrem Raum wurde von außen betätigt. Dann nahm sie die Schraube und kniete sich vor die Tür. Sie war so nervös, dass ihre Hände zitterten. Langsam führte sie die Schraube in das Schlüsselloch. Schon nach wenigen Millimetern stieß sie auf Widerstand. Der Schlüssel. Sie versuchte zu drücken und zu schubsen, doch der Schlüssel bewegte sich nicht. Fast hätte sie zu weinen begonnen vor Enttäuschung, doch sie riss sich zusammen. Sie konnte nicht erwarten, dass es leicht werden würde. Nichts war leicht gewesen in den letzten Monaten. Sie nahm die Schraube wieder heraus, zog den Draht aus seinem Versteck unter der Heizungsanlage und verstärkte die Spitze durch eine kleine Biegung. Sie führte den Draht in das Schlüsselloch und versuchte, seitlich vom Schlüssel zu landen, um ihn in eine aufrechte Position zu bringen. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis es ihr gelang. Sie schwitzte. Vor Aufregung war ihr übel. Plötzlich spürte sie, dass der Schlüssel sich lockerte und bewegen ließ. Sie drehte ihn. Angespannt versuchte sie es erneut mit der Schraube. Es funktionierte. Millimeter für Millimeter schob sie den Schlüssel nach außen aus dem Schlüsselloch. Als er herunter auf die Fliesen fiel, schepperte es so laut, als würde die Stille explodieren. Sie hielt den Atem an und lauschte wieder. Nichts. Dann legte sie sich flach auf den Boden, bog die Spitze des Drahtes wieder auseinander und formte eine Öse. Sie schob den Draht unter der Tür hindurch. Der Abstand zwischen Tür und Boden war breit genug. Wenn sie in der Heizkammer lag und er noch im Raum davor im Pool schwamm, drang stets ein sehr breiter Streifen Licht in ihre Dunkelheit. Durch diesen Lichtstreifen war sie auf die Idee gekommen.

Der Draht kratzte über die Fliesen. Einige Sekunden, die ihr endlos schienen, suchte und kratzte sie im Leeren. Dann hörte sie das metallische Geräusch des Schlüssels, den sie endlich mit dem Draht erreicht hatte und nun bewegte. Es dauerte weitere Minuten, bis sie den Schlüssel unter der Tür hindurch in ihre Kammer ziehen konnte. Sie hielt inne und lauschte wieder. Stille. Langsam, ganz langsam führte sie den Schlüssel von innen in das Schloss und drehte ihn um. Sie konnte es kaum fassen, als die Tür aufging. Mit angehaltenem Atem nahm sie ihre Schuhe in die Hände, die sie neben der Tür bereitgestellt hatte, und verließ ihre Kammer. Auf Zehenspitzen schlich sie durch den Poolraum, tastete sich an den Wänden entlang, bis sie zu der Tür kam, die vom Souterrain in den Garten führte. Der Schlüssel hier steckte immer, das hatte sie oft genug gesehen.

Als sie in den Garten trat, schlug ihr nächtliche Kühle entgegen. Es regnete. Sie hob die Augen zum Firmament und atmete tief durch – wie lange war sie schon nicht mehr draußen unter freiem Himmel gewesen? Barfuss überquerte sie den Rasen. Erst hinter dem Zaun zog sie ihre Schuhe an. Sie sah sich um. Weit und breit war kein anderes Haus zu sehen. Nichts als brachliegende Felder. Es war ihr egal. Irgendwo würden Häuser, würden Menschen sein. Sie musste nur laufen. In irgendeine Richtung. Sie ging in Richtung Mond, der schwach zwischen den Regenwolken hindurchschien. Sie wollte endlich wieder ans Licht.

Nach knapp zwei Kilometern kam sie an einen Waldrand. Inzwischen goss es wie aus Kübeln. Sie überlegte. Wenn sie in den Wald hineinging, fand sie etwas Schutz vor dem Regen. Aber sie konnte sich verlaufen. In einem dunklen Wald war es schwierig, die Richtung zu halten, man konnte stundenlang im Kreis gehen, ohne es zu bemerken. Sie beschloss, am Waldrand entlangzulaufen, und hoffte, dass der Forst nicht allzu groß war. Deutschland war dicht besiedelt, irgendwann musste sie auf ein Dorf oder eine Stadt treffen.

Der Regen kühlte sie immer mehr aus, der Boden wurde matschiger. Das Haar klebte ihr im Gesicht, die Kleidung triefte, die Jeans waren komplett vollgesogen und zogen sie wie kalte Gewichte nach unten. Ihre hochhackigen Pumps waren zu eng und vollkommen ungeeignet für das Gelände, doch sie besaß keine anderen Schuhe. Ihre Fersen waren schon wund. Jeder Schritt schmerzte. Sie setzte sich hin und untersuchte ihre Füße. Beide Fersen bluteten. In diesen Schuhen würde sie nicht weiterkommen. Sie warf sie in den Wald. Der kühle Boden tat ihr bei den ersten Schritten gut, doch nach wenigen Minuten froren ihre Füße. Niemals hätte sie vermutet, dass es Ende Juli in Norddeutschland so unangenehm frisch sein konnte. Ihre schlechte körperliche Verfassung tat ein Übriges. Gestern am späten Nachmittag hatte er ihr den letzten Schuss gesetzt. Morgen würde sie mit heftigen Entzugserscheinungen zu kämpfen haben. Schon jetzt brach ihr andauernd kalter Schweiß aus, und ihr Magen krampfte sich in Wellen zusammen.

Sie kämpfte sich wieder hoch, obwohl sie am liebsten liegengeblieben wäre. Einfach nur schlafen. Inzwischen war der Himmel komplett von dicken Wolken bedeckt. Sie sah die Hand nicht mehr vor den Augen, stolperte durch Gestrüpp, trat auf einen scharfkantigen Stein, der ihr die Fußsohle aufriss. Humpelnd lief sie weiter. Nach einer weiteren Stunde oder zweien hatte sie jegliche Orientierung verloren. Plötzlich wurde das Gelände leicht abschüssig. Auf dem durchweichten Boden geriet sie ins Rutschen. Sie verlor den Halt, schlitterte eine Böschung hinab und landete in einem See. Völlig überrascht schluckte sie jede Menge Wasser, schlug panisch um sich. Mit letzter Kraft zog sie sich an einem Busch aus dem Wasser und kletterte auf allen vieren die Böschung wieder hinauf. Schlammbedeckt und am Ende ihrer Kräfte blieb sie liegen.

Fünf Stunden später, in aller Herrgottsfrühe, schlug Toni, der Tigerdackel eines Spaziergängers, wie wild an. Auf der Jagd nach einem Hasen hatte er ein nur noch halb lebendiges Bündel aus Dreck, Schüttelfrost und Fieber gefunden.