Hamburg.
Christian saß mit hochgelegten Füßen und einem Kaffee am Konferenztisch, und betrachtete das Schaubild von Pete. Er fand es gar nicht so blöd, irgendetwas daran fesselte seine Aufmerksamkeit. Gestern Abend hatte er Anna nach diesem Hellinger befragt. Sie hatte sich ähnlich abfällig über den Schweizer Priester und Psychologen geäußert, der Aufstellung jedoch einen gewissen methodischen Wert zugestanden. Petes Gedanken, einen Mordfall als systemisches Gebilde zu betrachten, fand sie interessant.
Im Nebenraum hämmerte Daniel auf der Tastatur seines Laptops herum. Er war heute noch nicht aus seinem Büro gekommen, nur die dicken Qualmwolken seiner Selbstgedrehten quollen heraus. Christian ließ ihn völlig eigenverantwortlich arbeiten. Im ersten Jahr hatte er gelegentlich nachgefragt, was und wie Daniel recherchierte, war dann aber stets innerhalb einer Minute aus Daniels Erklärungen ausgestiegen. Christian zählte zu den Menschen, die schon froh waren, fehlerfrei eine Mail mit Anhang zu versenden. Yvonne war mal wieder an der Uni, Volker und Pete trafen sich mit zwei Informanten, um etwas über Mnatsakanovs Kontakte herauszufinden, und Herd ölte draußen im Flur die Eingangstür zur Zentrale, deren Gequietsche ihm zusehends auf die Nerven gegangen war.
»Herd!«, rief Christian in den Flur. »Lass die Tür, und komm her!«
»Sofort, nur noch ein Tropfen …«
Die Tür quietschte noch einmal, dann herrschte Stille. Herd wusch sich die Hände in der Küche und kam mit einem Kaffee zu Christian.
»Sorry, aber du weißt, dass mich so was wahnsinnig macht.« Herd hatte Modellschreiner gelernt, bevor er sich nach einem Mord in der Nachbarschaft für eine Polizei-Laufbahn entschied. Vermutlich besaß er deswegen seinen akribischen Blick fürs Detail. Praktisch für alle waren Herds handwerkliche Fähigkeiten zudem: Wenn in der Bruchbude, die sie Zentrale nannten, etwas zu reparieren war, und das kam häufig vor, übernahm er es.
»Was fällt dir auf?«, fragte Christian und zeigte auf das Schaubild.
Herd schaute hin. »Pete hätte ein Lineal benutzen sollen. Die Pfeile sind total krumm.«
»Dein Ordnungswahn nimmt langsam krankhafte Züge an. Sonst fällt dir nichts auf?«
Herd ließ sich mehr Zeit. »Nur zwei deutsche Namen.«
»Genau. Henning Petersen und Beatrix Hutter. Zwei deutsche Namen. Und kein Pfeil zwischen den beiden. Ist das nicht seltsam?«
»Liegt wohl daran, dass Pete für das private Umfeld Petersens ›Morgenpost‹ und ›Eltern‹ notiert hat. Sonst gäbe es mehr deutsche Namen. Oder denkst du an was Bestimmtes? Es gibt wirklich keine Verbindung zwischen der Hutter und Petersen, das haben wir genau überprüft.«
»Wir haben zwei Tote. Und drei Verschwundene«, sinnierte Christian weiter. »Und nicht Danylo hat die meisten Pfeile, sondern Sofia.«
Auf der rechten Seite des Schaubildes ging von Danylo ein Pfeil zu Sofia, von der zu Radu und Ileana, Alina und Vadim.
»Stimmt, wir haben da rechts eine ganz schöne Anhäufung von Personen. Rechts. Der Ostblock.« Herd grinste.
»Henning Petersen steht in der Mitte, weil er unser Opfer ist und der Mordfall im Zentrum der Ermittlungen steht. Aber pfeilmäßig ist bei ihm gar nicht so viel los. Die Dynamik, oder wie Pete das genannt hat, spielt sich rechts auf dem Schaubild ab.«
»Im Ostblock«, wiederholte Herd.
»Genau.«
Christian erhob sich und ging auf und ab. »Für uns als Ermittler steht am Anfang immer das Gewaltverbrechen, der Mord. Damit beginnt unsere Arbeit. Wir fangen beim Opfer an, ziehen konzentrische Kreise, stoßen in die eine oder andere Richtung. Der Mord ist der Anfang, das Opfer der Ausgangspunkt. Das Motiv jedoch liegt vor dem Mord.«
Herd nickte. »Klar. Aber ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.«
Unwillig wühlte Christian mit beiden Händen durch seine grau-schwarz melierten Locken. »Weiß ich selber noch nicht. Haben wir schon einmal überlegt, dass Anfang und Auslöser unserer Ereignisse vielleicht gar nicht bei Henning Petersen liegen könnten? Dass der konzentrische Weg hier nicht der richtige ist?« Er ging zum Schaubild und tippte mit dem Zeigefinger auf all die Pfeile bei Danylo und Sofia und ihren gemeinsamen Bezugspersonen. »Das dynamische Gewicht liegt hier. Und Henning Petersen, der wirkt von hier aus betrachtet, wie eine Randfigur.«
Herd nickte anerkennend. »Ist ’ne neue Perspektive. Wir sollten …«
Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn Maxym Savchenko stand plötzlich im Zimmer. »Guten Tag. Störe ich?«
Weder Herd noch Christian hatten ihn kommen gehört. »Die Tür quietscht nicht mehr«, erklärte Herd zufrieden. »Guten Tag.«
Christian erhob sich und begrüßte Maxym mit einem kräftigen Händedruck. »Nehmen Sie Platz. Kaffee? … Was ist mit Ihnen passiert?«
Maxym sah schlimmer verprügelt aus als Sofia vor ein paar Tagen. Allerdings nicht ganz so schlimm wie Vadim.
»Kaffee, sehr gerne.«
Herd erhob sich und holte die noch halb volle Kaffeekanne mit einer frischen Tasse aus der Küche.
»Wie Sie wissen, bin ich noch ein paar Tage in Chişinău geblieben«, begann Maxym, nachdem er den ersten Schluck Kaffee getrunken hatte.
»Sie wollten nach Vadim Zaharia suchen und mir dann Bescheid geben«, bestätigte Christian.
»Ich habe ihn nicht gefunden. Allerdings bin ich mit meinen Fragen ein paar Leuten ziemlich auf den Wecker gegangen. Das Ergebnis sehen Sie. Und mir fehlen zwei Backenzähne. Die Kerle sagten, ich hätte Glück, dass ich ein alter Mann bin. Sie haben mich in der Abflussrinne liegen lassen!« Maxym schien sich mehr über die Unhöflichkeit der Schläger zu echauffieren als über seine fehlenden Zähne. »Und Sie? Haben Sie etwas von meinem Sohn gehört?«
»Anscheinend befindet er sich zurzeit in Paris. Er hat mehrfach bei Sofia angerufen. Wir haben inzwischen ihren Anrufbeantworter abgehört.« Christian brachte Maxym auf den Stand der Dinge. Dann befragte er ihn intensiv zu Danylo, seinen Kontakten, seinem Leben. Er erfuhr wie schon bei der ersten Befragung nichts, was ihn weiterbrachte. Der Kontakt zwischen Vater und Sohn war zu sporadisch und oberflächlich.
Maxym Savchenko wunderte sich über Christians Fragen, war Danylo als Mordverdächtiger doch längst ausgeschieden. Der Mörder von Henning Petersen war bekannt. Und er war tot.
»Danylo hat nichts getan. Und mit Sofias und Alinas Verschwinden haben Sie nichts zu tun. Wieso ermitteln Sie überhaupt noch weiter?«
Christian seufzte. »Wir ermitteln nicht weiter. Der Fall ist als gelöst zu den Akten gelegt. Aber ich habe Alina und Sofia Suworow auf die Vermisstenliste der SIS setzen lassen. Ich würde gerne mehr tun. Das kann ich aber nur, wenn ich die Zusammenhänge begreife. Da sind immer noch viele Fragen offen.«
Maxym bedauerte, nicht weiterhelfen zu können. Er stand auf und bedankte sich bei Herd für den Kaffee. »Ich werde jetzt nach Berlin zurückfahren. Ich brauche unbedingt mein eigenes Bett, meine Badewanne und Ruhe. Wenn Sie etwas hören, sei es von Danylo oder Sofia oder Alina, bitte geben Sie mir Bescheid. Ich tue selbstverständlich das Gleiche.«
Christian nickte und sah Maxym nach, als er das Zimmer verließ. Savchenko wirkte um ein Jahrzehnt gealtert.