Mariazell.

Bis in die Haarwurzeln angespannt saß Walter Ramsauer vor dem Material von Henning Petersen. Es war am heutigen Mittag mit der Post gekommen, geschickt von der Nachbarin in Hamburg. Er hatte sich sofort ins Wohnzimmer zurückgezogen, das Päckchen aufgerissen und den Inhalt geprüft. Henning hatte ein Anschreiben beigelegt:

 

»Lieber Walter, ich hoffe, meine Post erreicht Dich noch, bevor Du Dich ins Österreichische zurückziehst. Ich brauche Deine Hilfe, alleine kriege ich das nicht auf die Reihe. Aber schau Dir erst mal alles in Ruhe an und sag mir dann: Ist das eine Story oder ist das keine? Ich habe keinen Schimmer, wie ich die Sache angehen soll. Können wir das nicht zusammen machen? Schätze, das ist eine Nummer zu groß für mich kleinen Volo. Aber ich will den Kram nicht auf den Schreibtisch vom Chef legen, wer weiß, wen der dransetzt, und dann bin ich raus aus der Nummer. Dir vertraue ich. Ruf mich bitte an, wenn Du Dir das Band angehört hast, und sag mir, was Du davon hältst. Ich gehe dann so vor, wie Du es sagst, okay? Ich sozusagen als Speerspitze vor Ort, Du als große Denkfabrik im Hintergrund. Schreiben musst Du es natürlich am Ende, aber ich würde gerne die Recherche machen. Du hast doch mal gesagt, dass da meine Stärken liegen.

Ich bin so gespannt, was Du sagst! Wenn Du einsteigst, stelle ich Dir auch meinen Informanten vor. Vielleicht können wir Dich ja in der Einöde vom Ösi-Land besuchen, zwecks genauerer Abstimmung.

Jetzt erst mal liebe Grüße und Alm ahoi, oder wie sagt man bei Euch?

Dein Henning

Walter las den Brief zum dritten Mal. Ja, Henning, das ist eine Story, eine verdammt gute sogar! Walter fühlte sich schuldig, obwohl er nichts dafür konnte, dass ihn das Päckchen mit dem Brief und dem USB-Stick samt MP3-Datei erst jetzt erreichte. Er sah auf den Poststempel. Eine Woche später war Henning tot gewesen. Ermordet. Walter war sicher, dass Hennings Tod mit diesem Material zusammenhing. Er schämte sich für den Gedanken, dass der Mord die Story noch brisanter machte, doch für einen Journalisten war dieser Gedanke nur logisch und konsequent. Vermutlich hatte Henning auf eigene Faust mit der Recherche angefangen, enttäuscht, dass er, Walter, sich nicht meldete. Vermutlich war er dabei ungeschickt vorgegangen. Hatte den falschen Leuten die falschen Fragen gestellt und ganz offensichtlich auch falsch eingeschätzt, wem er damit auf die Füße trat und wie heftig.

Walter stand auf und nahm sich einen Cognac aus dem Giftschrank seines Vaters. Er stürzte ihn mit einem Schluck hinunter. Was sollte er tun? Wenn er seinen staatsbürgerlichen Pflichten nachkam und das Material der Hamburger Polizei übergab, würden die den Wirbel veranstalten, und er konnte nur noch hinterher darüber berichten. Wenn er an seinen journalistischen Auftrag dachte und an das Recht der Öffentlichkeit auf Information, dann tendierte er dazu, das Material noch kurze Zeit unter seinem privaten Verschluss zu halten. Bis er die nötigen Zusatz-Infos gesammelt hatte, um einen hieb- und stichfesten Artikel zu schreiben. Dann würde er Hennings Datei der Polizei übergeben und zeitgleich seinen Artikel veröffentlichen. Nicht bei der Hamburger Morgenpost, nein, mit dieser Story waren seine Zeiten bei dem Stümperblatt vorbei. Das war seine Chance. Investigativer Journalismus. So wie früher. Vielleicht sogar beim Spiegel.

Walter wusste, dass er zurück nach Hamburg musste. Er wusste auch, wie seine Frau Merle darauf reagieren würde. Trotzdem. Er hatte keine Wahl. Seine Chance, seine letzte Chance, das musste sie verstehen.

Sie tat es nicht. Als er mit dem Päckchen in der Hand in die Küche kam, wo Merle mit seinen Eltern und seinem kleinen Sohn beim Nachmittagstee saß, schaute sie ihn fragend an. Er wollte zu einer Erklärung ansetzen, doch sie verstand auch so. Sie las es in seinem flehentlichen Blick. Stumm schüttelte sie den Kopf, nahm Artur aus dem Stubenwagen und ging nach oben.

»Du wirst deine Frau doch nicht mit dem Baby allein hier lassen?«, fragte sein Vater Rudolf mit strengem Blick.

»Herrgott, sie ist nicht allein, ihr seid schließlich auch noch da!«, erwiderte Walter. Sobald sein Vater den Mund aufmachte, hörte Walter Vorwürfe. So war es schon immer gewesen. »Ich muss mich um diese Sache kümmern, es ist wichtig. Sehr wichtig sogar.«

»Merle hat gesagt, dass der junge Mann, von dem das Päckchen ist, dass sie den umgebracht haben«, mischte sich seine Mutter Helga ein. Angst stand in ihren Augen.

»Deswegen ist es ja so wichtig. Ich bin ihm was schuldig.«

»Und wenn sie dich auch umbringen, Sohn?«

Walter setzte sich zu seiner Mutter, umarmte ihren beträchtlichen Umfang und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Das werden sie nicht. Ich bin kein Anfänger und halte mich schön bedeckt.«

»Wer sind denn die?«, fragte sein Vater. »Herr im Himmel, nichts als Flausen im Kopf, ich hab’s immer gesagt! Statt hier die Zeitung zu übernehmen und ein Madel von hier zu heiraten! Dann wäre alles gut, und deine Mutter tät sich nicht grämen müssen!«

»Lass den Bub, der weiß schon, was er tut«, beschwichtigte Helga ihren Mann.

Walter fand es albern, dass seine Mutter ihn immer noch »Bub« nannte, immerhin war er über fünfzig. Aber es tat ihm gut, dass sie seine Entscheidungen stets akzeptierte.

»Fährst du mich zum Bahnhof?«, fragte er sie.

»Ja, willst denn heut schon los?« Helga erschrak.

Walter nickte. »Vielleicht bin ich bald schon wieder zurück. In ein, zwei Wochen schätze ich.«

»Geh, wohin der Pfeffer wächst«, polterte sein Vater.

Zwei Stunden später saß Walter neben Helga im Kombi des Vaters und ließ sich zum Bahnhof bringen. Sowohl von seinem Vater als auch von Merle hatte er sich unversöhnt getrennt.

»Kümmere dich bitte um Merle und Artur«, bat er seine Mutter. Sie waren am Bahnhof angelangt.

»Natürlich. Und ich fahre jeden zweiten Mittag ins Dorf und rufe dich an. Und wehe, du nimmst nicht ab und sagst mir, dass es dir gut geht!«

»Jeweils um Punkt zwölf stehe ich zu deiner Verfügung. Zumindest versuche ich es, versprochen. Falls es mal nicht klappt, hinterlasse ich bei Elfriede im ›Hirschen‹ eine Nachricht für dich. Ach, Mama, wozu habe ich euch bloß das Festnetztelefon geschenkt?«

»Du weißt doch, wie sehr dein Vater Telefone und Fernseher hasst. Schade, dass wir keinen Handyempfang oben auf der Alm haben. Ein Handy könnte ich gut vor ihm verstecken. Aber vielleicht kann ich ihn ja überreden, jetzt, wo endlich ein Enkel da ist, mit dem er bestimmt gerne telefonieren will, wenn Merle auch wieder zurück in Hamburg ist.«

Walter beugte sich zu seiner Mutter, gab ihr einen Kuss und sagte: »Tschüss, Mama.«

»Servus, Bub. Pass auf dich auf. Und komm bald wieder.«

Walter stieg aus, nahm seine Reisetasche und ging durch die Lichtkegel der Straßenlaternen auf den Bahnhof zu.