26. April 2010
Mariazell.

Die Sonne stand schon tief, als Walter Ramsauer mit der Ötscherbär-Bahn aus Sankt Pölten an seinem Heimatbahnhof ankam. Seine Familie wusste nichts von seiner Rückkehr. Er hatte die besorgten Anrufe seiner Mutter ignoriert. Die Tage und Nächte, die seit seiner Begegnung mit Nina, der Maniküre-Spezialistin, vergangen waren, hatte er in seiner abgedunkelten Wohnung verbracht – liegend auf dem Sofa oder sitzend auf seinem Lieblingssessel. Dabei hatte er unaufhörlich die Wände angestiert. Erst wenn sich die Nacht über Hamburg legte, hatte er die Vorhänge geöffnet und das Spiel der Autoscheinwerfer auf den gegenüberliegenden Hauswänden beobachtet. Er hatte sich von Dosensuppen ernährt, wollte die Wohnung nicht verlassen, keinem Menschen begegnen, nicht einmal der Kassiererin im Supermarkt ins Gesicht blicken. Nach vier Tagen war er aus seiner Starre erwacht und hatte beschlossen, nach Österreich zurückzukehren. Zurück zwischen die Berge, deren Wände ihm den Blick auf die Welt verstellten und ihn in ihren Schluchten bargen.

Walter schulterte sein Gepäck und machte sich auf den Weg zur elterlichen Alm. Er wollte die knapp acht Kilometer zu Fuß gehen. Einerseits tat er mit dem stetig aufsteigenden Gewaltmarsch eine Art Buße, andererseits zögerte er die Ankunft noch etwas hinaus. Walter war sich nicht sicher, ob Merle ihm verzeihen würde.

Schon bei den ersten beiden beschwerlichen Kilometern begann er zu schwitzen und spürte den pochenden Schmerz in seinen Fingern. Er hatte die Wunden in Hamburg nicht versorgt. Nur angestarrt. Inzwischen waren sie verkrustet. Er musste mehrere Pausen einlegen, setzte sich dafür auf Bänke am Wegesrand oder auf Findlinge. Die Luft duftete frisch und klar nach Frühling und Alpenveilchen, der Weg war gesäumt von Anemonen, Waldgoldstern und Vogelwicken. Der Anblick der aufs Neue erwachenden Natur machte Walter Mut. Vielleicht würde auch er noch einmal von vorne anfangen können. Ganz anders diesmal. Ganz neu. Bitter lachte Walter über sich selbst. Wie billig das war.

Als er auf der Alm ankam, war die Sonne längst hinter den Bergen verschwunden. Schon von Weitem sah er, dass in der Küche Licht brannte. Sie saßen beim Abendbrot. Er war noch etwa zwanzig Meter vom Haus entfernt, da schlug der Hund an. Sein Vater kam ans Fenster und spähte hinaus. Dann traten alle vor die Tür: seine Mutter, sein Vater und auch Merle mit Artur auf dem Arm. Der Hund schoss auf Walter zu und leckte ihm beide Hände ab. Walter hätte die relative Kühle der Hundezunge an seiner verletzten Hand sicher als angenehm empfunden, wenn er darauf geachtet hätte. Doch er hatte nur Blick für Merle. Sie stand unschlüssig auf der Holzveranda, während Walters Mutter ihren verlorenen Sohn mit Tränen und Beschimpfungen und Lachen und Küssen begrüßte. Sein Vater nickte nur, schlug ihm kurz auf die Schulter und räusperte sich bewegt. Unsicher ging Walter auf Merle zu. Sie zögerte noch immer, doch schließlich kam sie ihm entgegen, legte ihren freien Arm um ihn und küsste ihn. Dann reichte sie ihm glücklich lächelnd das Baby. Artur gluckste vor Vergnügen.

Walter sah seinem Sohn in die Augen und fühlte sich zu Hause.

Beim Abendbrot bestürmte ihn seine Mutter mit Fragen, doch er machte ihr klar, dass er über die Ereignisse der letzten Woche nicht reden wollte. Heute nicht und auch an keinem anderen Tag. Verstummt sahen alle auf seine geschwollenen Finger. Die Mutter erhob sich und brachte ihm Wundsalbe. Doch Walter schüttelte unwirsch den Kopf und ging hinaus. Er setzte sich auf die Veranda und schaute die Berge an.

Er würde hier bleiben. Merle wünschte sich das auch, das wusste er. Sie wollte ihren Sohn in einer weitgehend intakten Natur aufwachsen sehen, wollte, dass er draußen spielen konnte und Hütten im Wald baute und im Winter mit dem Rodelschlitten und später auf Skiern ins Tal brauste. Sie träumte von einer heilen Welt abseits der Großstadt.

Walter wusste, dass es keine heile Welt gab, hier nicht, nirgendwo. Aber auch er wollte hierbleiben. Zwischen den Bergen konnte er sein Versagen begraben.

Walter Ramsauer war ein gebrochener Mann. Aber es war nicht die Folter, die ihn gebrochen hatte. Es war die Scham.