29. Juli 2010
Rendsburg.
Am nächsten Morgen, während Anna und Christian frühstückten, rief der Arzt aus dem Krankenhaus an. Alina war aufgewacht. Ihr Fieber war gesunken, das Schlimmste schien überstanden. Allerdings hatte sie mit erheblichen Entzugserscheinungen zu kämpfen, die der Arzt durch Methadon linderte.
Christian und Anna ließen ihr Frühstück stehen, zahlten das Zimmer und machten sich auf den Weg. Sie kamen gleichzeitig mit Thamm auf der Intensivstation an. Anna schlug vor, auf dem Flur zu warten, damit Alina nicht durch zu viele fremde Menschen verunsichert wurde.
Christian und Thamm betraten das Zimmer. Christian war überrascht, wie sehr Alina ihrer großen Schwester ähnelte. Das gleiche ebenmäßige Gesicht, feine Züge, nur wirkte sie noch zierlicher, ihre Augen noch trauriger, größer und glänzender, aber Letzteres konnte auch am Fieber liegen. Christian war sicher, dass er Alina Suworow vor sich hatte.
Thamm stellte sich und Christian mit ruhiger, sanfter Stimme vor. Alina gab ihnen schwach die Hand und sagte mit einem starken Akzent etwas roboterhaft oder wie auswendig gelernt: »Mein Name ist Alina Suworow. Ich bin von Moldau. Ich will telefonieren. Mit meine Schwester in Bremen und meine Eltern zu Hause.«
»Wir wollen Ihnen nur noch ein paar Fragen stellen«, erwiderte Thamm. »Sagen Sie uns bitte, was passiert ist.«
Alina drehte den Kopf weg und starrte die Wand an. »Ich will nicht reden.«
»Aber es ist wichtig. Hier, mein Kollege aus Hamburg …«
Christian unterbrach Thamm. Er wollte nicht, dass Alina zu früh erfuhr, dass auch ihre Schwester verschwunden war. »Sie können Radu und Ileana gleich anrufen«, sagte er.
Alina wandte den Kopf wieder zu ihnen und sah Christian verwundert an. Ihre Augen waren wirklich erstaunlich schön. »Sie wissen Name von Papa und Mama?«
»Ich war bei ihnen. Ich kenne auch Sofia. Und Vadim. Alle suchen Sie. Deswegen muss ich wissen, was passiert ist.«
Alinas Blick verdunkelte sich. »Schlimm passiert. Sehr schlimm. Mein Deutsch nicht gut.«
»Wir können einen Dolmetscher auftreiben.«
»Mein Englisch sehr gut. Aber ich will nicht reden.« Tränen füllten ihre Augen.
Christian ahnte, warum Alina nicht reden wollte. »Hören Sie, meine Freundin ist draußen. Sie ist Psychologin und sehr nett. Würden Sie mit ihr reden?«
Alina überlegte. »Weiß nicht.«
Christian bat Thamm mit hinaus und sprach mit Anna: »Sie ist bestimmt traumatisiert, wer weiß, was sie alles erlebt hat. Vermutlich eine Menge, über das sie mit Männern nicht sprechen wird. Noch was: Erzähl ihr bitte nur von Sofias Verschwinden, wenn es sich nicht vermeiden lässt.«
»Wie, bitteschön, soll ich das denn machen?«
Anna ging hinein. Der Anblick des zerbrechlich wirkenden Mädchens rührte sie sofort.
Anna setzte sich ans Bett und lächelte Alina an. »Hallo, Alina. Ich bin Anna. Wenn Sie wollen, können wir englisch reden.«
»Kennen Sie auch meine Eltern und meine Schwester?«, fragte Alina in makellosem Englisch.
»Ihre Eltern leider nicht. Aber Christian hat mir viel von ihnen erzählt. Sie machen sich große Sorgen um Sie. Ihre Schwester Sofia habe ich schon zwei Mal auf der Bühne gesehen. Sie ist eine wundervolle Künstlerin.«
Alina nickte stolz: »Bitte, lassen Sie mich bei ihr anrufen. Sie soll kommen und mich abholen. Der Arzt hat gesagt, dass ich in Norddeutschland bin. Irgendwo zwischen Hamburg und Kiel. Da ist Bremen doch nicht weit weg, und Sofia kann ganz schnell hier sein.«
Anna war klar, dass Alina nicht locker lassen würde. Also erzählte sie ihr, dass Sofia nach Moldawien geflogen war, um sie zu suchen. Dass ihr Cousin Vadim Sofia dabei helfen wollte. Dass es schiefgegangen und Sofia nun auch verschwunden war.
Alina hörte mit ungläubiger Miene zu, dann begann sie zu zittern und zu weinen. Anna nahm sie in ihre Arme und hielt sie fest. »Deswegen muss die Polizei möglichst genau wissen, was Ihnen passiert ist. Damit Sofia gefunden werden kann.«
»Oh, mein Gott, wenn ihr genau das Gleiche wie mir …« Alinas Stimme versagte. Sie wurde von Schluchzern geschüttelt.
Anna wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
Alina setzte sich auf, so weit das mit ihrer Infusion in der Armbeuge möglich war, und atmete tief durch. »Ich werde Ihnen alles erzählen. Und dann finden Sie Sofia, versprechen Sie mir das!«
»Es wird alles Menschenmögliche getan werden, das verspreche ich.«
Alina begann zu erzählen.
Nach etwa einer Stunde wurde Christian unruhig. Außerdem hatte er keine Lust mehr, mit Thamm bei dünnem Tee in diesem Aufenthaltsraum zwischen Krebsvorsorgeplakaten zu sitzen und über Politik im Allgemeinen und die Schwierigkeiten der Polizeiarbeit im Besonderen zu plänkeln. Gerade, als er aufstand, um nach Anna und Alina zu sehen, kam Anna herein.
»Alina will Tee.«
»Seid ihr immer noch nicht fertig?«, fragte Christian.
»Gib uns noch ’ne Stunde.« Anna sah mitgenommen aus. Sie nahm eine Kanne Tee aus dem Regal, zwei Tassen und verschwand wieder.
Es dauerte über anderthalb Stunden, bis sie wiederkam. Sie fand Christian auf einer Bank vor dem Krankenhaus.
»Wieso sitzt du hier im Regen?« Es nieselte nur leicht, dennoch fand Anna es befremdlich, dass Christian im Freien saß.
»Thamm labert ja schon genug. Aber dann sind Patienten in den Aufenthaltsraum gekommen, die waren noch redseliger als er. Zwei alte Männer. Der eine hat alles über Prostatakrebs erzählt, der andere über künstliche Darmausgänge. Ich hasse Krankenhäuser! Egal. Wie geht es Alina?«
Erschöpft setzte sich Anna neben ihn. Sofort spürte sie die Nässe durch ihre Jeans. »Eigentlich wollte sie noch ihre Eltern anrufen. Aber während sie mir alles erzählt hat … Ihr Kreislauf ist fast kollabiert. Der Arzt hat ihr eine Beruhigungsspritze geben müssen. Jetzt schläft sie. Gehen wir rein zu Thamm? Dann muss ich nicht alles zwei Mal erzählen.«
Sie erhoben sich. Christian legte seine Lederjacke um Annas Schultern, damit sie auf dem Weg zurück nicht noch nasser wurde als sie wegen ihm schon war.
Im Aufenthaltsraum hörte sich Thamm immer noch den Vortrag über Prostatakrebs an. Sichtlich erschöpft schlug er vor, aufs Revier zu fahren. Dort waren sie ungestört. Alina schlief sowieso tief und fest, hier konnten sie nichts tun.
Auf dem Revier angekommen, stellte Thamm die Gäste aus Hamburg seinen Leuten vor. Die meisten kannten Christian und die Erfolge seiner Soko vom Hörensagen. Sicher waren einige der Kollegen irritiert über seine Anwesenheit, aber keiner stellte neugierige Fragen.
Nachdem frischer Kaffee ausgeschenkt war, gingen Thamm, sein Kollege Lemke, Christian und Anna in Thamms Büro. Anna erzählte, was mit Alina geschehen war. Sie setzte an, zu Thamm gewandt: »Alina ist bereit, eine offizielle Aussage zu machen. Betrachten Sie bitte das, was ich Ihnen jetzt erzähle, als erste, aber inoffizielle Information.«
Thamm nickte und schaltete das Aufnahmegerät wieder aus.
»Danke. Also: Man hat sie in Moldawien in dieser Bar gekidnappt …«
»Dem ›Black Elephant‹«, ergänzte Christian.
»Sag mal, willst du nicht ihre Eltern benachrichtigen?«, fragte Anna ihn, ihren eben begonnenen Bericht unterbrechend.
»Ich denke, dass Alina das lieber selbst tun möchte.«
»Die schläft mindestens acht bis zehn Stunden. Ich finde, jede Minute, die ihre Eltern unnötig Angst um sie haben, ist Folter.«
»Sobald ich jemanden gefunden habe, der rumänisch oder russisch spricht, rufen wir an, okay?«
Lemke schaltete sich ein: »An der Tanke unten an der Kreuzung, der Typ hinter der Kasse, der ist Russe. Er heißt Leonid. Wie Breschnew. Soll ich ihn holen?«
Thamm sah Anna und Christian fragend an. Christian nickte: »Wenn wir hier fertig sind.«
Anna war zufrieden und setzte ihren Bericht fort: »In dieser Bar hat Alina auf dem Weg zurück von der Toilette einen Schlag auf den Kopf bekommen und das Bewusstsein verloren. Ich erzähle jetzt die Kurzversion. Aufgewacht ist sie in einem Auto. Da waren zwei Typen und noch ein anderes Mädchen. Das andere Mädchen stand so unter Drogen, dass sie nicht ansprechbar war. Sie wurden über mehrere Zwischenstationen, die sie nicht genau verorten kann, nach Moskau gebracht. Auf jeder Station kamen neue Frauen und Mädchen dazu. Sie wurden alle mehrfach vergewaltigt und unter Drogen gesetzt, die Details erspare ich euch. In Moskau – Alina hat keine Ahnung, wo genau – wurde sie in eine Art Saal gebracht und verkauft. Es waren ungefähr vierzig Frauen da. Die meisten Männer haben russisch gesprochen, einige rumänisch oder irgendeine baltische Sprache.«
»Eins von diesen Sammellagern, die Jost erwähnt hat«, merkte Christian an. Thamm wirkte irritiert über Christians Wissensvorsprung, unterbrach aber nicht.
»Scheint so. Untereinander haben sie sich auf Russisch unterhalten, deshalb hat Alina einiges verstanden. Zuerst hieß es, dass sie nach Norwegen gebracht werden soll, doch das stellte sich schnell als Missverständnis heraus. Alina hat am Rande mitgekriegt, dass sie für einen Mann reserviert war, den sie den ›Baltenboss‹ genannt haben. Er war zwar nicht selbst da, aber es wurde mehrfach von ihm gesprochen.«
»Andres Puri. Dachte ich’s mir doch.«
»Du weißt ja schon einiges über die Zusammenhänge«, stellte Thamm fest. Er fühlte sich ein wenig außen vor, obwohl Alina Suworows Fall doch in seine Zuständigkeit fiel.
Christian nickte: »Ich erkläre dir nachher alles.« Er sah Anna auffordernd an.
Sie fuhr fort: »Mit zwei anderen Frauen ist sie dann nach Deutschland gebracht worden, und zwar nach Hamburg. Kannst du dir das vorstellen? Du lässt sie in ganz Europa suchen, und sie ist in Hamburg! Zumindest für ein paar Wochen.«
»Wo genau war sie und wie lange? Kann sie uns Namen sagen, Orte, Kontakte?«
»Langsam. Alina ist zwar eine intelligente junge Frau, aber sie hatte zwei, drei andere Probleme, die sie davon abhielten, akribische Polizeiarbeit zu betreiben.« Anna schwieg kurz, es war ihr deutlich anzumerken, wie sehr sie die ganze Sache erschütterte. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, was die mit den Frauen machen. Einreiten nennen sie das. Es ist ekelhaft. Als ich Alinas Geschichte gehört habe, sind mir wieder die Thesen und Forderungen der Emanzen aus den Siebzigern in Erinnerung gekommen: Jeder Mann ist ein potenzieller Vergewaltiger, also Schwanz ab!«
»Glücklicherweise hat sich diese radikale Haltung nicht durchgesetzt.« Christian schlug wie beiläufig die Beine übereinander. »Was war mit Puri? Was weiß Alina über ihn?«
»Sie hat ihn nur einmal getroffen. Er hat sie … ausprobiert. Das muss direkt nach seiner vorzeitigen Haftentlassung gewesen sein, Mitte oder Ende April.«
»Er ist am 17. April rausgekommen«, erinnerte sich Christian mürrisch.
»Das passt. Alinas Zeitgefühl ist ziemlich verschoben. Durch die Drogen und das ständige Eingesperrtsein, oft in fensterlosen Räumen, in denen sie Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden konnte.«
»Was ist dann passiert?«
»Puri hat sie verschenkt. An einen Privatmann, offensichtlich ein Geschäftspartner von Puri. Er hat Alina gegenüber damit geprahlt, dass sie sein Geschenk wäre und somit ganz ihm gehöre – als seine Sex-Sklavin. Sie weiß nur den Vornamen. Heiko. Irgendwas zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt. Sie wurde vollkommen bedrogt zu ihm nach Hause gebracht. Dort war sie seit Ende April eingesperrt. In einem fensterlosen Souterrainraum, wo die Heizungs- und Poolanlage untergebracht war. Dieser Heiko hat ihr morgens und abends zu essen gebracht, ihr Heroin gespritzt und sie vergewaltigt. Vorgestern hat er den Schlüssel außen an der Tür stecken lassen. Sie hat ihn mit einer Schraube aus dem Schloss gedrückt und mit einem Draht unter der Tür durchgezogen. Den Rest kennt ihr.«
»Kann sie das Haus beschreiben? Irgendwas, das uns hilft, dieses Schwein zu finden!« Christian wirkte erbittert.
»Sie war leider nie oben im Haus. Aber der Poolraum hat Fenster. Alina sagt, der Garten hinter dem Haus müsste nach Süden liegen, sofern sie das am Lauf der Sonne richtig erkennen konnte. Außerdem stehen dort ein recht großes Garten- oder Gerätehaus und eine Art sechseckiger, weißer Pavillon neben einem kleinen Teich. Das Haus liegt sehr einsam. Als sie weggelaufen ist, hat sie sich im Mondlicht umgesehen, aber kein Nachbarhaus entdeckt.«
»Den kriegen wir, da könnt ihr Gift drauf nehmen!« Thamm war ebenso aufgebracht wie Christian. »Wir werden sofort alle Heikos in zwanzig Kilometern Umgebung von Alinas Fundort am See herausfischen und die in Frage kommenden überprüfen.«
»Ich schätze, zehn Kilometer reichen«, warf Anna ein. »Der Regen, der Schlamm, die erste Strecke in Stöckelschuhen … Alina meinte, sie wäre nur extrem langsam vorwärtsgekommen.«
Kurze Zeit später hatten Thamms Leute eine Liste mit den Personendaten von siebzehn Heikos allein in Rendsburg und noch einmal einundzwanzig aus der Umgebung zusammengestellt. Dreißig fielen gleich aus dem Raster, nur acht davon waren annähernd in dem Alter, das Alina angegeben hatte. Davon hatten fünf Familie, nur drei waren alleinstehend.
»Die drei werden wir jetzt mal besuchen«, sagte Thamm entschieden.
»Vielleicht ist das nicht nötig«, warf Christian ein. Er tigerte seit einer halben Stunde untätig durchs Revier und trank Unmengen von Kaffee, um die Wartezeit zu verkürzen. »Kann ich mal an einen Computer?«
Thamm räumte irritiert seinen Schreibtisch.
Christian setzte sich: »Die Adressen von den drei Typen bitte.«
Thamm legte sie ihm vor. Christian rief Google Maps auf und gab die erste Adresse ein. Dann stellte er von Karte auf Satellitenfotos um und zoomte an die Adresse. »Was hat Alina gesagt? Ein freistehendes Haus mit Südgrundstück, in dem ein Teich und ein sechseckiger Pavillon sind. Dieser Heiko hier wohnt in einem Reihenhaus.«
Christian gab die nächste Adresse ein. »Fällt auch flach. Ein Gebäude mit zig Wohnungen.«
Bei der dritten Adresse pfiff er durch die Zähne. »Bingo.«
Thamm und Anna beugten sich über den Computer. Auf dem Bildschirm war die Luftaufnahme eines großen, allein stehenden Hauses zu sehen. Auf dem Südgrundstück konnte man verschwommen einen Teich erkennen und ein weißes kleines Dach – der Pavillon.
Christian sah auf den Zettel: »Heiko Bender, siebenundfünfzig Jahre alt, geboren in Kiel, wohnhaft in Haßmoor.«
»Haßmoor. Ich weiß nicht«, sagte Thamm. »Sie wurde zehn Kilometer westlich von Rendsburg an einem kleinen See gefunden. Der liegt allerdings sehr nah bei Haßmoor. Und sie war Stunden unterwegs.«
»Vollkommen entkräftet und auf Droge«, warf Anna ein.
»Kann sein, dass sie deswegen im Kreis gelaufen ist«, stimmte Thamm zu. »Luftlinie sind es nämlich nur knapp zwei Kilometer vom Haus bis zu dem Tümpel.« Er wandte sich an einen seiner Kollegen. »Besorg ein Foto von diesem Bender. Vielleicht kann Frau Suworow ihn identifizieren.«
»Die schläft noch bis an die zehn Stunden. Und der Typ hat heute Morgen sicher schon in aller Frühe gemerkt, dass sein unfreiwilliger Gast ausgeflogen ist. Was ist, wenn er sich absetzt? Mir reicht das Satellitenbild vom Grundstück«, sagte Christian.
»Ich habe keine offizielle Aussage als Handhabe«, gab Thamm zu bedenken.
Christian sah Anna an.
»Ich, Frau Doktor Anna Maybach, wohnhaft in Hamburg, behandelnde Psychologin von Frau Anna Suworow, gebe hiermit offiziell zu Protokoll, dass Anna Suworow laut ihrer Aussage mir gegenüber von einem Heiko zwischen fünfzig und sechzig in einem Haus mit Südgrundstück, Teich und Pavillon seit Monaten gefangen gehalten und vergewaltigt worden ist.«
»Und schon haben wir Flucht- und Verdunkelungsgefahr«, sagte Christian.
Thamm grinste: »Na, wenn das mal nicht reicht, um vom Hof zu reiten! In etwa einer Stunde habe ich einen Durchsuchungsbeschluss. In welcher Eigenschaft willst du mitkommen, Christian?«
»Wenn es recht ist, bin ich nur ein kollegialer Besuch, der zufällig in der Gegend ist.«
»Dann los. Und unterwegs erzählst du mir die Vorgeschichte.«
»Was ist mit diesem russischen Tankwart? Du wolltest doch in Moldawien anrufen.« Anna ließ nicht locker. Der Gedanke, dass Alinas Eltern vor Sorge um ihre Töchter vergingen, ließ ihr keine Ruhe. Wenigstens eine war gerettet, das sollten sie so schnell wie möglich erfahren.
»Kümmere du dich bitte darum.« Christian gab ihr die Nummer. »Und grüß ganz herzlich von mir.«
Thamms Kollege Lemke machte sich auf den Weg zur Tankstelle, um den Dolmetscher für Annas Telefonat zu rekrutieren.
Thamm fuhr in Christians Begleitung zum hiesigen Staatsanwalt, um den Durchsuchungsbeschluss zu bekommen. Anna wartete auf dem Revier, bis ihre knappe Aussage aufgenommen war, damit sie sie unterschreiben konnte. Der schriftführende Polizist würde das Protokoll sofort an den Staatsanwalt durchfaxen, damit der eine ausreichende Rechtsgrundlage für seinen Beschluss hatte.
Kurz nachdem das Fax rausgegangen war, kam Lemke mit Leonid zum Revier. Leonid steckte in einem ölverschmierten Blaumann, an dem er seine Hand abwischte, ehe er sie Anna reichte. Er freute sich, helfen zu können. Lemke wählte die Nummer der Suworows in Moldawien und stellte auf Lautsprecher. Anna hatte ihn darum gebeten. Auch wenn sie die Worte nicht verstehen würde, die Freude würde sie fühlen. Sie bat Leonid, den Eltern zu erklären, dass er im Auftrag der Freundin des Polizisten Christian Beyer anrief, der mit Maxym in Chişinău gewesen war.
Radu war sofort am Apparat. Als Leonid ihm sagte, dass Alina in Deutschland in der Nähe Hamburgs gefunden worden war und im Krankenhaus wäre, stockte Radu der Atem, dann rief er nach Ileana. Ein Stimmengewirr brach los.
»Was sagen sie?«, fragte Lemke aufgeregt. Da auch er einen kleinen Anteil zur Übermittlung der frohen Botschaft geleistet hatte, war er emotional involviert.
»Keine Ahnung, ich bin Russe, kein Moldauer und kein Rumäne.« Fast klang Leonid etwas beleidigt. Dann hörte er Radu zu, der wieder ins Telefon sprach. »Sie wollen wissen, wie es ihrer Tochter geht und warum sie im Krankenhaus ist.«
»Nichts Schlimmes. Erschöpfung und eine leichte Rippenfellentzündung.« Anna hatte beschlossen, die Eltern zu schonen. Den Rest sollten sie von Alina erfahren, falls die darüber sprechen wollte. Das war Alinas Entscheidung.
Leonid übersetzte. Dann wandte er sich wieder an Anna: »Sie sagen, sie brauchen ein, zwei Tage, um das Geld für die Flugtickets und die Visa zu besorgen. Dann kommen sie.«
Anna wehrte ab: »Vermutlich ist das gar nicht nötig. Sagen Sie bitte, dass Alina eine Spritze bekommen hat und nun lange schläft. Sobald sie wach ist, wird sie selbst anrufen. Möglicherweise kann sie in ein paar Tagen schon wieder nach Hause.«
Anna hörte, wie Ileana im Hintergrund vor Freude weinte. Radus Stimme war brüchig. Er wollte die Nummer des Krankenhauses, damit er mit dem behandelnden Arzt sprechen konnte. Er würde eine von Alinas Freundinnen holen, die ihm mit ihren Englischkenntnissen behilflich sein würde. Ansonsten wollte er auf Annas Rat hören und warten, bis Alina sich meldete. Dann konnten Ileana und er immer noch über die Reise entscheiden. Zum Abschluss des Gesprächs ließ er Christian grüßen und bedankte sich unbekannterweise bei Leonid fürs Übersetzen und bei Anna für den Anruf.
Im Rendsburger Revier zeigten sowohl die Beamten als auch Tankwart und Dolmetscher Leonid mehr oder weniger ihre Bewegtheit. Lemke drückte aus, was er und seine Kollegen empfanden: »Als Polizisten sind wir viel zu selten in der Situation, gute Nachrichten zu überbringen.«
Anna wusste das von Christians Alltag nur zu gut. Sie musste an Sofia denken.