Hamburg.

Christian saß mit Anna in der Küche beim Abendessen. Er hatte Bioeier mit Speck und Kartoffeln in die Pfanne geworfen, alles durcheinandergerührt, gebraten, mit frischen Kräutern garniert und Anna serviert, als sie von ihrem Job an der Uni nach Hause kam. Viel mehr gaben Christians Kochkünste nicht her, doch Anna war zufrieden. Sie selbst kochte selten, ihr häusliches Engagement scheiterte entweder an mangelnder Zeit oder mangelnden Ideen. Deswegen gab es bei den beiden abends fast immer eine schlichte Brotzeit, gelegentlich mit Salat, oder beim Italiener um die Ecke gekauften Antipasti. Dass Christian heute gekocht hatte, verwunderte Anna. Erstens steckte er mitten in einem Fall und zweitens hatte er ganz offensichtlich schlechte Laune.

»Ich habe gedacht, das Kochen beruhigt mich«, gestand er kauend.

»Und?«

»Nö.«

»Was war denn?«

»Nix. Das regt mich auf!«

»Ich weiß. Gib mir mal den Pfeffer. War wirklich gar nix?«

»Nicht scharf genug?« Christian legte sein Besteck hin, reichte Anna den Pfeffer und schaute zu, wie sie nachwürzte. Er trank einen kräftigen Schluck von seinem Pils.

»Welchen Ärger spülst du denn jetzt runter? Dass ich nachwürze?« Anna lächelte.

»Quatsch. Es geht um den Fall. Karen kommt mit den Laborergebnissen aus der Rechtsmedizin nicht rüber, Herd und Volker vergeuden ihre Zeit in den Stapeln von Aussagen mit zusätzlichen und dennoch fruchtlosen Befragungen in Henning Petersens privatem Umfeld und den Bewegungsabläufen seiner letzten Tage, Pete bastelt an einem Opfer- und Täterprofil, und Daniel daddelt den ganzen Tag wortlos an seinem Computer rum.«

»Und du? Was machst du?«, fragte Anna mit vollem Mund.

»Ich brate Eier und Kartoffeln. Mehr fällt mir gerade nicht ein.«

»Kein Wunder, dass du mies gelaunt bist. Aber das Rührei ist super.«

Eine Weile aßen sie schweigend. Schließlich forderte Anna Christian auf, mit der Sprache herauszurücken. Sie wusste, dass der Fall ihn unaufhörlich beschäftigte.

»Es gibt so viele verschiedene Versionen. Das macht es schwierig, die Richtung der Ermittlungsarbeit festzulegen«, begann er. »Auf den ersten Blick würde ich vermuten, dass der Mord an Henning Petersen etwas mit seinem beruflichen Umfeld zu tun hat. Er ist Journalist, allerdings noch in der Ausbildung und nicht mit brandheißen Themen beschäftigt. Das spricht gegen diese These.«

»Aber sein Zimmer wurde durchwühlt«, merkte Anna an.

»Und sein Handy wie auch der Laptop sind verschwunden.«

»Das zeigt doch, dass jemand was gesucht hat!«

»Muss aber nichts mit seinem Beruf zu tun haben. Wir haben seinen Kollegen und Mentor, diesen Ramsauer, in Österreich aufgetrieben. Ramsauer ist auf einer Alm bei seinen Eltern, irgendwo tief in der Steiermark verklappt. Wir mussten einen österreichischen Kollegen bitten, dort hinzufahren und ihm zu sagen, dass er uns zurückrufen soll. Hat er getan. Er war erschüttert über Petersens Tod, glaubt aber nicht, dass der Mord einen journalistischen Hintergrund hat. Petersen hätte ihm erzählt, wenn er eine Story roch. Da war nichts.«

»Was, glaubst du, hat Danylo Savchenko damit zu tun?«

»Wenn ich das wüsste, wäre ich ein gutes Stück weiter.« Christian wirkte verärgert. »Auch hier zu viele Möglichkeiten. Vielleicht ist er der Mörder und deswegen untergetaucht.«

»Aber du hast gesagt, es sah nach Profi-Arbeit aus. Das kann ich mir bei Savchenko einfach nicht vorstellen. Er wirkt so … sensibel und kultiviert.«

»Und Hitler hatte einen Schäferhund, also war er tierlieb.«

Anna schüttelte den Kopf über Christians Argument.

Christian fuhr fort: »Ich glaube nicht, dass er der Mörder ist, aber ich kann es auch nicht außer Betracht lassen. Gerade weil er verschwunden ist. Und sich auch im ›Crazy Horst‹ sehr auffällig verhalten hat.«

»Und wenn er ebenfalls umgebracht wurde, nur ihr habt die Leiche noch nicht gefunden?«

»Auch eine Möglichkeit. Die nächste wäre, dass er weiß, warum Petersen dran glauben musste, und sich deswegen versteckt. Eine andere Möglichkeit ist, dass er mit all dem nichts zu tun hat, nicht mal weiß, dass sein Lover tot ist und sich irgendwo auf der Welt die Eier schaukelt oder den Wanst in die Sonne hält.«

»Dagegen spricht aber doch, dass er Sofia Suworow bei dem Konzert hat hängen lassen.«

»Genau das meine ich. Zu viele Möglichkeiten. Und bei jeder Version spricht einiges dafür und anderes dagegen.«

Es klingelte. Christian erhob sich und kam mit Daniel zurück in die Küche. Wie immer trug Daniel seinen Laptop unterm Arm. »Hmm … Rührei. Habt ihr noch was?«

Christian schob ihm seinen noch fast vollen Teller hin, Anna gab Daniel frisches Besteck dazu. Daniel band sich seinen langen, dunklen Pferdeschwanz neu, wie er es immer vor dem Essen zu tun pflegte, und fing an zu futtern.

»Hast du das Essen bis in die Schanze gerochen, oder wieso bist du hier?«, wollte Christian wissen.

»Um dir eine Freude zu machen, Chefe! Du hast dich doch heute so aufgeregt, weil Karen ihren abschließenden Bericht noch nicht vorgelegt hat …«

»Ein Wunder, dass du überhaupt was mitkriegst«, murmelte Christian.

»Karen hatte ein Problem. Sie hat was gefunden, was unmöglich war. Deswegen hat sie es noch mal überprüfen lassen. Das gleiche Ergebnis. Immer noch unmöglich. Bis sie Daniel davon erzählt und Daniel mal kurz um die Ecke denkt.«

»Kann Daniel uns an seinen Gedanken teilhaben lassen?« Christian fragte sich häufig, warum die Gespräche mit seinen Kollegen stets Frage- und Antwortspielen glichen. Eine Berufskrankheit? Oder die allseits verbreitete Vorliebe für Quiz-Sendungen?

Daniel wischte sich den Mund ab. Er hatte den Teller in Windeseile geleert. »Die Spusi war ja recht verzweifelt wegen der verwirrenden Spurenlage in Henning Petersens Zimmer. Irre viele Fingerabdrücke, Haare und sonst was. Typische Studi-Bude. Tausend Partys und keine Putzfrau.«

»Sie haben nichts gefunden, was man eindeutig dem Täter zuordnen könnte«, stimmte Christian zu.

»Karen schon. Am Wundrand des einen abgetrennten Fingers fand sie einen winzigen Speichelrest, der nicht von Petersen stammt. Der Mörder hat wohl gesabbert beim Abschneiden …«

»Wieso erfahre ich das erst jetzt?«, wetterte Christian. »Das ist die beste Spur, die wir bislang haben! Hat sie den Speichel mit den DNA-Proben verglichen, die wir aus der Haarbürste in Savchenkos Wohnung haben?«

»Logisch. Fehlanzeige. Der Speichel ist nicht von ihm.«

»Trotzdem kann er zur Tatzeit dort gewesen sein. Und am Mord beteiligt. Das ganze Zimmer war übersät mit seinen Fingerabdrücken.«

»Er war der Liebhaber von Petersen. Natürlich sind seine Abdrücke im Zimmer«, sagte Anna.

Christian dachte genau wie Anna darüber und hatte Danylo als Täter vom Gefühl her schon aussortiert. Aber er verließ sich letztlich nicht auf seine Gefühle, sondern nur auf Fakten. Er sah Daniel erwartungsvoll an. Der machte ein Gesicht, als würde er gleich eine Bombe platzen lassen. Tat er auch.

»Karen hat die DNA in unserer Datenbank gefunden. Erinnert ihr euch an Fjodor Mnatsakanov, genannt Joe?«

Anna erbleichte. Nur zu gut erinnerte sie sich an ihn. Der russische Auftragskiller hatte sie hier in ihrer Küche vor einigen Jahren überfallen und gefoltert.

»Seine DNA war an Petersens Leiche«, verkündete Daniel.

Anna schaute auf eine bestimmte Stelle am Küchenboden. Genau dort hatte Fjodor Mnatsakanov gelegen. Und ein Teil seiner Gehirnmasse auch. Neben ihm.

»Der Kerl ist tot. Wir haben seine Überreste zusammengekratzt, hier in dieser Küche, das weißt du genau!«, sagte Christian zu Daniel.

»Deswegen war Karen ja auch so irritiert und hat alles drei Mal überprüft, bevor sie dir damit auf den Wecker ging.«

»Und des Rätsels Lösung ist?« Christian stand auf dem Schlauch, und das ärgerte ihn.

»Er hat einen Bruder«, flüsterte Anna.

»Genau das haben meine Recherchen in den Abgründen des weltweiten Netzes ergeben. Ich habe unendlich tief gegraben, und zwar an Orten, zu denen Normalsterbliche keinen Zugang haben. Nur Monster, Götter und Halbgötter. Um es zusammenzufassen: Ich bin der Größte, aber das wisst ihr ja. Scherzten wir nicht kürzlich über diesen Baltenboss, der durch Einheirat in andere Syndikate den dynastischen Gedanken aufrechterhält? Nun ja, die Mnatsakanovs halten auch viel von Familientradition. Es sind zwei Brüder, tätig in derselben Branche. Derjenige, der noch lebt, wird Antoschka genannt, der kleine Anton. Als Fjodor hier den Abgang gemacht hat, war Antoschka gerade mal 15 Jahre alt und hat in Moskau mit Kalaschnikows aus Plastik gespielt. Jetzt ist er fünf Jahre älter und ein Profi. Die Vorliebe fürs Fingerabschneiden liegt wohl auch in der Familie.«

Anna zitterte ein wenig, die Erinnerung an ihre Qualen nahm sie sichtlich mit. Zur Ablenkung räumte sie den Tisch ab.

»Pete hat die Fahndung schon rausgegeben«, schloss Daniel seinen Bericht.

»Gute Arbeit«, sagte Christian. »Aber vermutlich ist es schwer, an diesen Antoschka ranzukommen. Die Kerle sind wie Geister. Tauchen auf, töten und verschwinden wieder.«

»Von Russland nach Polen oder ins Baltikum, und schwupps sind sie dank Schengener Abkommen ohne Personenkontrollen in Deutschland. Und wieder zurück.«

»Ein guter Hinweis«, meinte Christian. »Frag doch bitte mal beim SIS nach, ob sie etwas über unseren Antoschka haben.«

»Was ist der, die oder das SIS?«, fragte Anna. Alles, was sie von ihren Erinnerungen ablenkte, kam ihr gerade recht.

»Das Schengener Informationssystem«, erklärte Daniel. »Eine nicht-öffentliche Datenbank über Personen, die zur Fahndung, mit einer Einreisesperre oder als vermisst ausgeschrieben sind.«

»Wer vermisst denn so ein Arschloch?«, murmelte Anna.

Daniel grinste nur und wandte sich an Christian: »SIS hab ich längst gecheckt. Also nicht in Form einer offiziellen Anfrage, das dauert mir zu lang …«

Christian winkte ab: »Ich will’s gar nicht wissen. Nur das Ergebnis.«

»Antoschka Mnatsakanov wird per Phantombild gesucht in Schweden, Norwegen, Österreich, Frankreich, Spanien, Portugal und nun bei uns. Wegen mehrfachen Mordes, schwerer Körperverletzung und anderen Lustigkeiten. Fotos gibt’s nicht, auch da arbeitet Familie Mnatsakanov äußerst professionell. Selbst das Passfoto im russischen Ausweis zeigt vermutlich jemand anderen, zumindest gehen die Kollegen der SIS davon aus. Ich schätze, er reist mit jeder Menge falscher Pässe. Ein aktiver Junge, der sich in fast allen Mitgliedsländern des Abkommens verdient macht. Vermutlich auch in einigen anderen Ländern, zu denen wir keinen Datenzugang haben. Zumindest keinen offiziellen.«

»Für wen arbeitet er?«

»Freischaffend. Wie sein Bruder. Keinen Schimmer, wie man ihn kontaktet. Dazu reichen meine Verbindungen im Netz leider nicht aus.«

»Toll«, sagte Christian trocken. »Dann suchen wir jetzt einen kleinen Anton, den Schweden, Österreich, Frankreich, Spanien und Portugal noch nicht gefunden haben. Ein Spaziergang.«

»Norwegen«, sagte Anna. »Du hast Norwegen vergessen.«

Anscheinend hatte sie ihren Humor wiedergefunden.