7. April 2010
Bremen.
Christian und Pete standen vor Sofia Suworows Wohnungstür und klingelten zum dritten Mal. Als sie angekommen waren, hatten sie deutlich klassische Musik von drinnen gehört, die jedoch beim ersten Klingeln sofort abgeschaltet wurde. Seitdem Stille. Pete hämmerte mit der Faust gegen die Tür: »Frau Suworow, hier ist die Polizei. Machen Sie auf, wir wissen, dass Sie da sind.«
Nach einer kurzen Weile bekamen sie Antwort: »Gehen Sie, bitte. Ich bin krank.«
»Wir werden Sie nicht lange belästigen. Aber wir brauchen Ihre Hilfe.«
Nach einem weiteren Moment hörten sie sich nähernde Schritte, das Geräusch einer Ketten-Entriegelung und das zweifache Umdrehen des Wohnungsschlüssels. Als Sofia Suworow die Tür öffnete, erschraken Christian und Pete. Sofia sah aus, als wäre ein Traktor über sie gebrettert. Die wenigen unverkrusteten Teile des Gesichts waren grün und blau bis violett gefärbt, das linke Auge halb zugeschwollen. Sie hielt sich schief, zur linken Seite geneigt, und den rechten Arm legte sie wie zum Schutz auf ihre linke Rippenhälfte.
»Wer hat Sie so zugerichtet?«, fragte Christian.
»Ich bin mit dem Fahrrad gestürzt. Was kann ich für Sie tun?«
»Dürfen wir kurz hereinkommen?«
Nachdem sie die Ausweise kontrolliert hatte, öffnete Sofia die Tür gerade so weit, dass Christian und Pete eintreten konnten. Sie humpelte voran ins Wohnzimmer und bot ihnen Platz an. Christian und Pete sahen sich um. Die Wohnung war klein und ohne Aufwand, aber mit viel Geschmack eingerichtet. Sofia stöhnte vor Schmerz, als sie sich setzte.
»Wie heißt das Fahrrad denn? Ich würde es gerne verhaften.« Pete lächelte Sofia gewinnend an. Jede Frau schmolz dahin, wenn er sie so anblickte. Sofia nicht.
»Das Fahrrad hat keinen Namen. Können Sie jetzt bitte zur Sache kommen? Was will die Hamburger Kripo hier in Bremen?«
»Es geht um Ihren Freund und Kollegen Danylo Savchenko …«, begann Christian.
Sofia unterbrach ihn: »Danylo ist die längste Zeit mein Freund gewesen. Er hat mich kürzlich bei einem Konzert hängen lassen. Das war’s. Thema durch.«
»Am Abend vor dem Konzert haben Sie ihn im ›Crazy Horst‹ aufgesammelt. Er war sehr betrunken und … aufgewühlt.«
»Sie sind gut informiert.«
»Das ist unser Job.«
Pete bat, die Toilette aufsuchen zu dürfen. Sofia sagte ihm, wo sie sich befand.
»Danylo war sehr betrunken, das stimmt. Und das ist er häufiger. Aber aufgewühlt? Er wird gerne melodramatisch, wenn er betrunken ist. Russkaja dusha, die russische Seele.«
»Wo haben Sie ihn hingebracht in jener Nacht? Zu seiner Wohnung in Winterhude?«
»Nein, in mein Hotel. Ich war schon für das Konzert angereist, weil wir an dem Tag noch proben wollten. Aber da ist er auch schon nicht erschienen.«
»Warum in Ihr Hotel und nicht in seine Wohnung?«
Sofia zögerte nur kurz. »Das Taxi vom Kiez zu meinem Hotel am Dammtorbahnhof war erheblich billiger als bis nach Winterhude. Und ich weiß, dass ich das Geld von Danylo nie zurückbekomme.«
»Sie sind nicht gut auf ihn zu sprechen.«
»Ist das ein Wunder? Aber nun sagen Sie mir bitte, warum Sie hier sind.«
»Wir suchen ihn dringend als Zeugen in einem Mordfall. Leider konnten wir ihn in seiner Wohnung nicht antreffen. Er wurde seit Tagen nicht gesehen, und niemand weiß, wo er sich aufhält. Sein Handy ist abgeschaltet«, sagte Christian. »Hat er Ihnen etwas über seinen Freund Henning Petersen erzählt?«
Sofias Miene war undurchdringlich. »Über sein Privatleben weiß ich nichts.«
»Das fällt mir schwer zu glauben, Frau Suworow. Soweit wir informiert sind, kennen Sie sich seit frühester Kindheit. Für eine enge Freundschaft spricht auch, dass Sie ihn nachts um drei in einer Bar aufsammeln, obwohl er Sie tagsüber bei den Proben hat hängen lassen.«
»Das war das letzte Mal, das können Sie mir glauben.«
»Hat er sich bei Ihnen gemeldet nach dem Konzert? Sein Fortbleiben begründet? Sich entschuldigt?«
»Danylo hat mir vor Jahren schon erklärt, dass es ihm lästig ist, sich für Dinge zu entschuldigen, die er im Suff gesagt oder getan hat.«
»Er hat sich also nicht gemeldet?«
»Nein.«
Pete kam von der Toilette zurück und nahm den Faden nahtlos auf: »Kommt es öfter vor, dass er einfach für ein paar Tage verschwindet und niemandem Bescheid gibt?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich kann nur sagen, dass er noch nie ein Konzert geschmissen hat.«
»Machen Sie sich Sorgen um ihn? Auch wenn Sie genervt sind von seinem Verhalten?«
Sofias Blick flackerte kurz. Dann nickte sie. »Schon. Er ist ein Chaot. Aber er ist kein Arschloch. Und kein Mörder, falls Sie das denken.«
»Warum sollten wir das denken?«
»Sie sagen, Sie suchen ihn als Zeuge in einem Mordfall. So würden Sie es vor mir sicher auch formulieren, wenn er Ihr Verdächtiger wäre. Ist er Ihr Verdächtiger?«
»Könnte es sein, dass er bei seinem Vater ist, der in Berlin lebt? Wir haben auch Maxym Savchenko bislang nicht erreicht.«
»Dort ist er garantiert nicht. Er kann seinen Vater nicht ausstehen. Seine Mutter übrigens auch nicht.«
Christian lächelte: »Sie wissen also doch etwas über sein Privatleben.«
»Seine Mutter will immer nur Geld von ihm. Wie es ihm geht, ist ihr egal. Und Maxym Savchenko war Lehrer an der Staatlichen Musikschule in Moskau, wo Danylo und ich uns als Kinder kennengelernt haben. Maxym war der schlimmste Despot dort. Weil er als Pianist und Komponist gescheitert war, hat er Danylo sein eigenes ungelebtes Leben aufgezwungen. Mit Methoden, die jede Kindheit töten.« Sofia sprach voller Bitterkeit.
»Heißt das, Danylo mag sein Leben als gefeierter Pianist nicht? Hat er sich vielleicht deswegen aus allem rausgezogen und ist verschwunden?«
Sofia lachte bitter auf: »Gefeiert? Das war einmal. Im Alter von acht bis zwölf, mit seinen süßen Löckchen und dem dunkelblauen Samtanzug, da wurde er gefeiert. Hat sogar mal vorm Papst gespielt. Wie niedlich! Wie talentiert! Wie begnadet! Für den Papst sind Wunderkinder eine Art Gottesbeweis! Aber dann, als er älter wurde und einen Plattenvertrag als neuer publikumswirksamer Richard Clayderman abgelehnt hat, weil er ein ernstzunehmendes Repertoire spielen wollte, da war es vorbei mit niedlich und gefeiert.«
Sowohl Christian als auch Pete hatten den Eindruck, dass Sofia auch von sich selbst sprach. Ihre Enttäuschung war selbst in ihrem verprügelten Gesicht abzulesen.
»Dennoch würde Danylo nie im Leben mit der Musik aufhören«, fuhr sie fort. »Wie auch? Wir können ja nichts anderes. Wovon sollen wir leben? In einer Bäckerei arbeiten?« Sie lachte wieder bitter. »Wenn man die Bühne von klein auf gewohnt ist, und den Applaus, dann wird man danach süchtig. Und diejenigen von uns, die irgendwann darauf verzichten müssen, die gehen auf die eine oder andere Art kaputt.«
Mit schmerzhafter Mühe erhob sich Sofia. »Ich kann Ihnen wirklich nicht weiterhelfen. Falls er sich bei mir melden sollte, werde ich ihm sagen, dass Sie ihn suchen.«
Auch Christian und Pete erhoben sich. Als die beiden sich an der Tür von Sofia verabschiedeten, fragte Christian noch einmal: »Wollen Sie uns nicht doch sagen, wer Sie so zugerichtet hat? Wir können Sie schützen.«
»Vor dem Leben kann man nicht beschützt werden. Vor dem Tod auch nicht«, gab sie zur Antwort. Dann schloss sie die Tür.
Im Dienstwagen, auf dem Weg zurück nach Hamburg, sagte Pete zu Christian: »Sie weiß etwas.«
»Sie weiß eine Menge. Und ich würde mich nicht wundern, wenn die Prügel, die sie eingesteckt hat, in irgendeinem Zusammenhang mit Savchenko stehen. Vielleicht war er es sogar selbst.«
»In der Wohnung gibt es jedenfalls keine Hinweise auf männlichen Besuch, auch nicht im Badezimmer. Ich habe mir alles genau angesehen. Aber sie hat Angst, obwohl sie es ganz gut verbirgt. Fragt sich nur, wovor. Oder vor wem.«
Christian nickte. »Sie wird es uns nicht sagen. Ich glaube, sie ist eine sehr loyale und sehr tapfere junge Frau.«
»Sieht aus, als hätten wir ein Problem. Eine Leiche, keine Zeugen, bislang kein Motiv in Sicht, unser Hauptverdächtiger verschwunden, womöglich schon außer Landes, und unsere einzige Verbindung zu ihm schweigt sich aus. Wir sollten eine Fahndung an Interpol rausgeben. Aber wir haben definitiv kein Tötungsdelikt im Affekt. Dann hätten wir Spuren gefunden. So sauber arbeitet nur ein Profi. Das war eine geplante und eiskalt durchgeführte Tat, das zeigt der Modus Operandi. Dieser Savchenko ist anscheinend der Typus sensibler Künstler. Der schneidet keine Finger ab und zerteilt Zungen. Petersen wurde professionell hingerichtet, nicht von einem frustrierten Liebhaber gekillt. Da lege ich beide Hände für ins Feuer.«
Christian stimmte ihm zu: »Wir müssen herausfinden, was der Mörder in Petersens Zimmer gesucht hat. Warum er Laptop und Handy mitgenommen hat. Das berufliche Umfeld spielt eine Rolle, da verwette ich meinen Arsch. Auch wenn dieser Petersen nur ein kleiner Volontär war, er ist auf irgendetwas gestoßen, er wusste etwas, was er nicht hätte wissen sollen.«
»Genau wie Sofia Suworow. Die weiß auch was. Und das Bindeglied zwischen beiden ist Danylo Savchenko. Der weiß auch was.« Pete schnaubte genervt. »Ein beschissener Beruf. Immer wissen alle was, nur wir nicht.«
Christian musste lachen: »So habe ich das noch nie gesehen. Aber stimmt. Wir sind die Trottel auf Schnitzeljagd. Wird Zeit, dass wir ein paar Schnitzel finden.«