2. April 2010
Hamburg.
Der Winter ließ immer noch nicht richtig locker, doch die überraschend warme Sonne gab sich alle Mühe, die immensen Schneemassen wegzutauen. Christian Beyer, Chef der Soko Bund, einer vor wenigen Jahren eingerichteten Sondereinheit mit bundesweiten Kompetenzen und spezialisiert auf die Jagd nach Serienkillern, befand sich auf dem Weg von der Staatsanwaltschaft zurück in die Zentrale seiner kleinen, aber schlagkräftigen Truppe. Wie immer, wenn es nur irgend möglich war, ging er zu Fuß. Er genoss das annähernd frühlingshafte Wetter weitaus intensiver als das Lob, das er und seine Leute gerade vom Leitenden Oberstaatsanwalt bekommen hatten. Ein komplizierter Fall war schnell und gründlich abgeschlossen worden, der Mörder dreier junger Mädchen seit heute Morgen rechtskräftig verurteilt. Wieder einmal hatte der Oberstaatsanwalt Christian angeboten, mit seinen Leuten zurück ins moderne und komfortable Gebäude des Polizeipräsidiums zu ziehen. Und wieder einmal hatte Christian abgelehnt. Als die Soko als einzige ihrer Art in Deutschland auf Betreiben des BKAs gegründet und Christian die Leitung übertragen worden war, hatten einige Neider aus den obersten Hamburger Polizeirängen die Soko in schäbige Büroräume im Schanzenviertel ausgelagert, die früher als Beobachtungsposten von den Drogenfahndern genutzt worden waren. Christian und seine handverlesene Truppe fühlten sich dort sehr wohl, und auch wenn die Neider sich längst zurückhielten und inzwischen kollegialer Respekt vorherrschte, wollten Christian und seine Leute nicht zurück ins Präsidium.
Als Christian in aller Gemütsruhe den Park »Planten un Blomen« durchquert hatte und in der Zentrale ankam, herrschte dort ausgelassene Stimmung. Der abgeschlossene Fall wurde zur Mittagspause mit einer Runde Döner für alle gefeiert. Wie immer hatte Yvonne, Teilzeit-Sekretärin nach eigenem Gutdünken und Psychologiestudentin, das Futter nebst Getränken besorgt. Sie saß mit den anderen im Konferenzraum, dessen Möbel eher an Sperrmüll denken ließen denn an eine bundesweit agierende Kriminalabteilung.
Christian nahm sich eine Cola und setzte sich dazu. Sofort schob ihm Eberhard Koch, der Spuren- und Tatortspezialist der Truppe und wegen seines Nachnamens und seiner dazu passenden Leidenschaft nur Herd genannt, seinen Döner zu. Er aß dieses Zeugs nur aus Gruppenzwang, sein Gaumen wehrte sich jedes Mal. Christian griff zu, wusste er doch, dass er damit nicht nur sich, sondern auch Herds empfindsamen Geschmackspapillen einen Gefallen tat. Neben Herd saß Daniel Meyer-Grüne, der Rechercheur der Soko. Daniel war kein ausgebildeter Polizist und verweigerte jegliche Berührung mit dem real existierenden Verbrechen. Er näherte sich der Welt rein virtuell. Als ehemals berüchtigter Hacker arbeitete er im Dienst der Soko, seit Christian ihn aus einer misslichen juristischen Lage beim BKA befreit und ihm einige Jahre Knast wegen illegaler Aktivitäten im World Wide Web erspart hatte.
Volker Jung, der baumlange, glatzköpfige Verhörspezialist der Soko, privat Buddhist und Teilzeit-Vegetarier, fehlte am Tisch. Er hielt im Präsidium einen Vortrag über verschärfte Verhörtechniken und ethische Verantwortung und würde mit seinen theoretischen Überbauten vermutlich den Großteil seiner praxisorientierten Zuhörer schon in der ersten halben Stunde einschläfern.
»Und?«, fragte Herd, nachdem er sich den Mund mit Mineralwasser ausgespült hatte. »Wollte uns der Herr Oberstaatsanwalt wieder heim ins Reich holen?«
»Mit allem Brimborium«, antwortete Christian.
»Du hast ihm hoffentlich gesagt, dass ich ein Erdgeschossbüro mit Kleingarten will, wo ich ein Kräuterbeet anlegen kann!« Herd lächelte.
»Ich will ein riesiges Chefsekretärinnenzimmer mit einem nackten Nubier als Praktikanten!«, fügte Yvonne hinzu.
»Und ich will einen Tisch mit fünf Computern, um die immer eine Miniatur-Eisenbahn mit frisch zubereitetem Sushi auf den Containern läuft!«, ergänzte Daniel.
Christian hob abwehrend die Hände. »Ich habe ihm klargemacht, dass für solche Arschlöcher wie euch kein Platz im Präsidium ist. Wir bleiben in der Diaspora. Ein für allemal.«
»Oh, Mann, sag bloß, du hast schon wieder abgelehnt, dass wir schicke, klimatisierte Räume mit Cola-Automaten auf dem Flur und willigen Kolleginnen mit durchtrainierten Körpern im Nebenzimmer beziehen?« Pete Altmann war unbemerkt von draußen dazugekommen. Durch seinen teuren Designer-Anzug hatte er wie immer mehr Ähnlichkeit mit einem italienischen Dressman als mit einem Beamten der deutschen Kripo.
»Für einen sexistischen Macho wie dich ist erst recht kein Platz dort!«, entgegnete Christian ohne hochzublicken.
Pete grinste. Der Halb-Amerikaner, der vor wenigen Jahren als Profiler vom BKA zu der Truppe befohlen worden war, hatte am Anfang erhebliche Schwierigkeiten mit Christian gehabt. Die waren allerdings längst ausgeräumt. Der rüde Tonfall in der Truppe gehörte zum Alltag und stellte nichts als eine seltsame Form der Wertschätzung dar.
Pete setzte sich dazu und nahm sich ebenfalls eine Cola. »Habt ihr das Urteil gegen Andres Puri mitbekommen?«
»Den Baltenboss?«, fragte Herd. »Ich dachte, das ergeht erst nächsten Monat.«
Pete verneinte. »Sie haben ihn eben verknackt. Wegen Zuhälterei und sonst ein paar Kinkerlitzchen. Das Verfahren wegen des Auftragsmordes an dem Zuhälter ist schon auf Ermittlungsebene eingestellt worden. Sie konnten es ihm nicht nachweisen.«
»Weil er sich den Mega-Staranwalt Reile geleistet hat. Seltsam, dass der sich bei Puri reinhängt. Ist gar nicht sein Gebiet. Der vertritt sonst nur Medienfuzzis, die von ihrer Assistentin wegen Vergewaltigung belangt werden.« Christians Miene verfinsterte sich. Jeder Bulle wusste, dass Puri reichlich Dreck am Stecken hatte.
»Und wenn Reile sie ins Kreuzverhör nimmt, steht die Assistentin hinterher als Publicity-geiles Drecksstück da, das den armen unschuldigen Promi erpressen und abzocken wollte!« Yvonne las begeistert die Yellowpress.
»Wer ist dieser Puri?«, fragte Daniel. Seine Unwissenheit war einmal mehr Beweis dafür, wie wenig Polizist er war.
»Gebürtiger Este. Hat sich dort mit Drogenhandel und Rotlicht-Geschäften einen Namen gemacht. Dann die Schwester des führenden litauischen Milieu-Königs geheiratet und damit die beiden kriminellen Klein-Imperien zu einem größeren vereinigt.«
Daniel begann zu lachen: »Das nenne ich wertkonservativ. Die europäischen Königshäuser verwässern sich immer mehr mit Schlammblut. Da ist es doch echt schick, wenn wenigstens die Unterwelt am Erhalt des dynastischen Gedankens arbeitet!«
»Sehr witzig«, kommentierte Yvonne.
»Und was macht dieser Puri in Deutschland?«, fragte Daniel weiter.
Christian erklärte es ihm: »Seine Urgroßmutter war Deutsche. Nachdem er neben Litauen auch noch Lettland in seinen Einflussbereich eingegliedert hatte – deswegen der Name ›Baltenboss‹ –, besann er sich seiner Wurzeln, beantragte die deutsche Staatsbürgerschaft und kam her. Hier ist weitaus mehr zu holen als im Baltikum.«
»Die Kollegen von der Organisierten sind seit Jahren hinter ihm her. Sehr lustig, dass er sich jetzt beinahe selbst ins Bein geschossen hat!« Pete lachte verächtlich. »Liegt im Krankenhaus und baggert eine Schwester an, indem er mit seinen Machenschaften vor ihr angibt wie ein verliebter Trottel auf dem Schulhof … Was für ein Elend, dass sie ihn nicht drangekriegt haben!«
Christian konnte der allgemeinen Belustigung über die Dummheiten eines alternden Syndikatsbosses nicht länger zuhören, sein Handy klingelte. Er ging ran, bedeutete den anderen per Handzeichen, die Klappe zu halten. Sofort kehrte angespannte Stille ein. Christian sagte nicht viel. Fragte nur: »Wieso wir?« und dann: »Verstehe.« Seine konzentrierte Miene sprach Bände. Die Mittagspause war vorbei.
Eine Stunde später betraten Christian, Pete und Herd ein heruntergekommenes Gebäude in der Friedensallee im Stadtteil Ottensen. Im Treppenaufgang zur zweiten Etage musste Christian wegen seiner knapp ein Meter neunzig Körperlänge den Kopf einziehen. Vor der Wohnung wartete ein uniformierter Polizeibeamter, den Christian kannte. Mit käsiger Miene winkte er die drei durch. Ein zweiter Beamter, dem ebenfalls übel zu sein schien, wies auf ein Zimmer, das direkt rechts vom Flur abging. In der Küche, die sich nur einen Meter weiter geradeaus befand, saß ein völlig aufgelöster junger Mann, laut Aussage des Beamten der WG-Mitbewohner des Opfers, der die Leiche gefunden hatte. Christian schickte die beiden Schutzpolizisten auf Befragungstour zu den Nachbarn und Anwohnern in der Straße. Die Spurensicherung würde bald eintreffen. Bis dahin wollte er mit Herd allein am Fundort der Leiche sein, um möglichst wenig von der Spurenlage zu verändern. Pete fasste den jungen Mann aus der Küche unterm Arm und führte ihn behutsam nach draußen, um ihn dort zu befragen. Die Tür der Wohnung zog er mit einem Taschentuch vorsichtig hinter sich zu, denn aus dem Zimmer, in dem die Leiche lag, waberte ein intensiver Kotgeruch, der durch die Wohnung bis in den Hausflur drang.
Erst als Christian und Herd allein waren, betraten sie das Zimmer. Es war klein und unordentlich. Ein junger Mann, etwa Mitte zwanzig, lag auf dem Dielenboden neben einem verstreuten Haufen schmutziger Wäsche. Das Opfer war ziemlich groß, sein hellblondes Haar stoppelkurz, die Figur sportlich. Er trug Wollsocken, ausgewaschene Jeans und ein buntes Shirt. Vor ein paar Tagen noch würden die Frauen auf der Straße hinter ihm hergesehen haben. Ein Einschuss mitten in die Stirn jedoch hatte allem ein Ende bereitet. Herd und Christian zogen ihre Handschuhe an, den Plastikschutz für die Schuhe hatten sie schon vor der Tür übergestreift. Dann näherten sie sich der Leiche, gingen in die Hocke und betrachteten sich genauer, was sie auf den ersten flüchtigen Blick am Kopf des Opfers irritiert hatte.
»Was für eine fiese Scheiße«, flüsterte Herd.
Dem jungen Mann steckten seine beiden abgetrennten Zeigefinger tief in den Ohrmuscheln. Auf den vermutlich geschlossenen Augenlidern – man konnte sie kaum sehen – lagen dunkelbraune Fleischstücke, an denen Klumpen von geronnenem Blut klebten. Christian öffnete vorsichtig den Mund des Opfers. Er hatte richtig vermutet. Die vordere Hälfte der Zunge fehlte und war, zerlegt in zwei Einzelteile, zum Bedecken der Augen benutzt worden.
»Nichts sehen, nichts hören …« , sagte Herd.
»… und sprechen kann er auch nicht mehr«, vollendete Christian den Gedanken an die drei Affen.
Der Schuss in die Stirn war mit einem kleinen Kaliber aus nächster Nähe ausgeführt worden. Das Ganze sah nach einer Hinrichtung aus. Die Verteilung der Blutspritzer sprach eindeutig dafür, dass Fundort und Tatort identisch waren.
»Profis«, fand Herd.
Christian blickte sich im Zimmer um. Falls das Opfer nicht ein extrem unaufgeräumter Mensch gewesen war, ließ das Chaos nur auf eine gründliche Durchsuchung schließen. Christian ließ alles ein paar Minuten auf sich wirken, versuchte, sich jedes Detail einzuprägen, und nickte dann Herd zu. Er ging hinaus. Herd würde das Zimmer genauestens untersuchen und alles dokumentieren, bis die Spurensicherung eintraf, sie ihre Arbeit koordinierten und gemeinsam zu Ende brachten.
Pete saß mit dem Zeugen im Hausflur auf der Treppe. Als er Christian aus der Wohnung kommen sah, legte er kurz die Hand auf den von Schluchzen geschüttelten Rücken des jungen Mannes, erhob sich und wandte sich Christian zu.
»Personalien sind aufgenommen. Sebastian Dierhagen, Student. Er ist völlig fertig. Braucht dringend psychologische Betreuung. Im Moment ist nicht viel mehr aus ihm rauszukriegen.«
»Als was?« Christian wollte keine Zeit verlieren.
Pete sprach leise: »Unsere Leiche heißt Henning Petersen, 27 Jahre alt, Volontär bei der Hamburger Morgenpost. Dierhagen war für ein paar Tage bei seinen Eltern in Hohwacht. Als er zurückkam, hat er seinen Kumpel gefunden. Hat angeblich nichts in Petersens Zimmer angerührt. Ins Bad gerannt, gekotzt, Polizei gerufen. Das ist alles.«
»Okay. Du rufst den Polizeipsychologen für den Jungen und koordinierst die ersten Befragungen der Nachbarn. Ich fahre schon mal zurück. Daniel wird uns alle Daten über Petersen zusammenstellen. Wir treffen uns in der Zentrale, wenn ihr hier fertig seid. Dann legen wir los.«
Es war schon nach drei Uhr in der Nacht, als Sofias Handy klingelte. Sie schreckte hoch, brauchte wie so oft ein wenig, um sich zu orientieren, um zu wissen, wo sie sich befand. Hotel. Hamburg. Das Telefon schrillte weiter. Schlaftrunken hob sie ab. Sie hörte Lärm, laute Musik und eine ihr unbekannte Männerstimme, die regelrecht schrie, um den Lärm zu übertönen: »Hey, hier ist das ›Crazy Horst‹! Wir haben in unserer Bude einen jungen Mann, der dreht voll ab! Dani oder so ähnlich. Er hat uns Ihre Nummer gegeben, ich hoffe, das stimmt, denn er kann kaum noch lallen! Entweder Sie holen ihn jetzt sofort ab, oder die Bullen erledigen das!«
Schlagartig war Sofia wach und saß kerzengerade im Bett: »Geben Sie mir die Adresse, ich bin in ein paar Minuten da!«
Hastig sprang sie aus dem Bett, wusste nicht, ob sie eher verärgert oder besorgt sein sollte, und entschied sich, während sie ihre Klamotten überstreifte, definitiv für verärgert. Es war zwar schon länger her, dass Danylo solche Aktionen gebracht hatte, aber noch nicht lange genug. Das letzte Mal war vor zwei Jahren in Kopenhagen gewesen, als er volltrunken vor der Skulptur der »Kleinen Meerjungfrau« in den Hafen urinierte und laut auf Englisch pöbelte, er pisse auf Hans Christian Andersen, die »verlogene, alte Schwucke«. Daraufhin war er von drei dänischen Patrioten verprügelt worden, und sie hatte ihn mit gebrochenem Kiefer ins Krankenhaus gebracht. Glücklicherweise war seinen Händen nichts passiert.
Vor ihrem Hotel befand sich ein Taxistand. Wie versprochen war sie in wenigen Minuten auf dem Kiez in der für ihr Empfinden wenig Vertrauen erweckenden Bar mit dem noch weniger originellen Namen. Eindeutig eine Schwulenbar, Sofia wusste, wo Danylo abstürzte, wenn er denn abstürzte. Keiner achtete auf sie. Sofia war erleichtert, dass es sich um eine frauenfreundliche Schwulenkneipe zu handeln schien und nicht etwa um ein Etablissement für die Hardcore-Szene. Der Laden war gut besucht, die Stimmung aufgeheizt. Als sie am Tresen vorbeikam, warf ihr der Theker einen fragenden Blick zu, den sie erwiderte. Er winkte sie durch in den hinteren Teil der Kneipe, wo Danylo mit dem Kopf auf der Tischplatte in einer Nische halb saß, halb lag. Sie setzte sich zu ihm und rüttelte ihn. Danylo hob in Zeitlupe den Kopf an. Er sah furchtbar aus. Die Augen vom Weinen verquollen, die Pupillen erweitert. Ganz offensichtlich hatte er sich mit einer Mischung aus Alkohol und Drogen abgeschossen.
»Kannst du gehen?«, fragte Sofia kühl.
Er fiel ihr theatralisch in die Arme und begann zu schluchzen. »Sofia, Sofi, meine liebe Sofi, geh weg, lass mich allein!«
»Das kann ich tun. Dann holen dich gleich die Bullen ab und sperren dich in eine Ausnüchterungszelle. Willst du das?«
»Nein! … Ja! Ist doch egal, ist doch alles egal!« Danylo ließ den Kopf wieder auf die Tischplatte knallen. Morgen würde er eine Beule haben.
Sofia zog ihn an den Schultern wieder hoch. »Jetzt reiß dich mal zusammen! Wir gehen jetzt raus, ich rufe uns ein Taxi und bringe dich nach Hause.«
Danylo nickte schwerfällig, wobei sein Kopf wieder auf die Tischplatte schlug.
Der Theker kam an ihren Tisch: »Kommen Sie klar, oder brauchen Sie Hilfe?«
Sofia bat ihn um zwei Minuten, der Theker sah ostentativ auf die Uhr und ging zurück zum Tresen. Sofia hievte Danylo mühsam hoch, er war knapp zwei Kopf größer als sie, wenn auch sehr hager. Als sie ihn durch die Gäste zum Ausgang bugsierte, hing er an ihr wie ein Ertrinkender: »Nicht nach Hause, bitte nicht nach Hause!«
Sofia schwieg. Sie hatte Glück, ein freies Taxi bog gerade um die Ecke. Sie hielt es auf, schubste Danylo hinein und gab die Adresse seiner Wohnung im Stadtteil Winterhude an. Sofort randalierte Danylo: »Nicht nach Hause, auf keinen Fall!«
Der Taxifahrer, der offensichtlich schon eine harte Nacht hinter sich hatte, griff nach hinten und öffnete die Tür. Er warf Sofia einen müden, aber deutlich auffordernden Blick zu. Sofia schloss die Tür wieder, beruhigte Danylo und nannte die Adresse ihres Hotels.
Der Portier war wenig erfreut, als er sie mit einem volltrunkenen Mann im Schlepptau ankommen sah, doch er schwieg. Schweißgebadet zerrte sie Danylo die Treppe hoch zu ihrem Zimmer in der zweiten Etage, lud ihn auf dem Bett ab und zog ihre Jacke aus. Danylo stöhnte laut vor sich hin. Plötzlich sprang er auf und hielt sich panisch die Hand vor den Mund. Sofia wies auf die Badezimmertür. Eine ganze Viertelstunde lang musste sie mit anhören, wie Danylo sich wieder und wieder übergab. Es ekelte sie.
Als er vom Bad zurückkam, sah er noch elender aus als vorher, doch seine Augen waren etwas klarer. Danylo setzte sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und zog die Knie an. Er sah sich um. »Wieso haben sie dich so schäbig untergebracht? Das ist kein Hotel, das ist eine Absteige, das hast du nicht verdient! Du solltest in einem Palast wohnen! In einem Palast mit flauschigen Orientteppichen und einem riesigen weichen Bett und einer riesigen Badewanne mit heißem Wasser und voller Schaum!« Danylo begann plötzlich wieder zu schluchzen. Er dachte an das Hotel, in dem er im März gewesen war. An die Nacht, die alles ausgelöst hatte. Das Zimmer war schön und groß gewesen. Mit einem dicken, nachtblauen, mit goldenen Ornamenten durchwirkten Teppichboden ausgelegt. Und erst das Badezimmer! Weißer und grauer Marmor. Eine übergroße Wanne. Der breite Waschtisch an drei Seiten verspiegelt. Flauschige, vorgewärmte Handtücher.
»Leg dich hin und schlaf«, befahl Sofia. »Du musst morgen fit sein. Wir müssen beide morgen fit sein.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht schlafen«, sagte er leise. »Ich glaube, ich kann nie wieder schlafen.«
Sofia sah ihn prüfend an. Er war anders heute. Wenn er sich sonst abschoss, begann er zuerst fröhlich die ganze Welt zu umarmen, und wenn die Welt sich schließlich gegen seine allzu aufdringliche Umarmung wehrte, fühlte er sich zurückgestoßen und wurde aggressiv. Heute war er anders. Verzweifelt. Fast ängstlich.
Sofia setzte sich neben ihn auf den Boden und legte einen Arm um ihn. Er stank nach Alkohol und Erbrochenem. »Was ist denn los, mein kleiner Dany? Erzähl’s mir!«
Er klammerte sich an sie wie ein Kind. Nun klang er auch so. »Wenn ich es dir erzähle, wirst du mich hassen!«
Sie strich ihm beruhigend über den Kopf. »Nein, werde ich nicht.«
»Doch, wirst du!«
Sofia schwieg und streichelte weiter.
»Zu Recht wirst du mich hassen! Weil ich Dreck bin, der letzte Dreck! Du weißt ja nicht, was ich getan habe!«
»Erzähl’s mir.«
»Ich habe einen Menschen umgebracht!« Er schrie es fast.
Sofia wurde bleich. Sie wollte nicht glauben, was sie hörte, Danylo neigte zu theatralischen Übertreibungen.
»Erzähl’s mir.«
Er stockte kurz, dann begann er wirr zu reden. Von dem Luxushotel. Von dem heißen Bad, das er dort nahm. Weißer und grauer Marmor. Von seinen nackten Füßen, die sich wohlig in den Teppich gruben, als er Wodka aus der Minibar trank. Von den Männern, die in sein Zimmer kamen. Von dem Preis, den er zahlen musste. Und jetzt war jemand tot.
Sofia hielt ihn ganz fest. Obwohl nur zwei Jahre jünger als sie, war er ihr kleiner Dany. Das war er schon immer gewesen, seit sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte, damals, als er fünf war und sie sieben und sie im Schnee »Himmel und Hölle« gespielt hatten auf dem Schulhof in Moskau. Sie musste ihn beschützen. Vor der Hölle, in der er sich gerade befand. Sie hielt ihn, so fest sie konnte. Sie ahnte nicht, dass die Hölle, die auf sie selbst wartete, eine viel schlimmere sein würde.