Hamburg.

Die Krankenschwester Beatrix Hutter fuhr nach ihrem Dienst in die Innenstadt und kaufte sich neue Spitzenunterwäsche, zwei Jeans, ein Shirt und eine neue Jacke. Der Frühling kam, sie war frisch verliebt und das Leben wieder schön. Die Drohungen, die sie in den vergangenen Monaten erhalten hatte, blieben seit der Verurteilung ihres berühmt-berüchtigten Patienten Andres Puri aus. Auf allen möglichen Wegen hatten Unbekannte versucht, sie einzuschüchtern und von ihrer Aussage gegen Puri abzubringen. Doch sie war hart geblieben. Als sie die Drohungen bekam, hatte sie ihre Eltern besucht und mit ihnen gemeinsam über ihre staatsbürgerlichen Pflichten nachgedacht. Ihre Mutter, eine Biologielehrerin, wusste um die Verletzlichkeit des menschlichen Körpers und stellte ihre Angst um die Tochter in den Vordergrund ihrer Argumentation, auch wenn die Polizei Beatrix bis zum Prozess Personenschutz gab. Sie selbst fürchtete sich auch. Aber die Argumente ihres Vater, Lehrer für Geschichte und Politik, gaben den Ausschlag: Man darf sich Repressalien niemals beugen, wehret den Anfängen, sonst geht die Demokratie in den Arsch. Das waren seine Worte gewesen. Beatrix hatte ausgesagt. Sie bedauerte nur, dass Puri nicht wegen des Auftragsmordes verurteilt worden war, mit dem er damals im Januar vor ihr geprahlt hatte.

Nun war der Albtraum vorbei, und sie konnte sich voll und ganz auf den hübschen, neuen Assistenzarzt konzentrieren, der seit Kurzem auf ihrer Station arbeitete. Sie fuhr mit der S-Bahn nach Hause und freute sich darauf, in etwa zwei Stunden ihrem ganz persönlichen Halbgott in Weiß ihre neue Spitzenunterwäsche vorzuführen.

Im Flur stellte sie ihre Tüten auf den Boden, streifte die Schuhe ab und ging in die Küche, um sich einen Tee aufzubrühen. Hinter der Küchentür versteckt erwartete sie jedoch ein Mann, der ihr einen heftigen Kinnhaken gab. Sie stürzte über einen ihrer Küchenstühle und landete unsanft auf dem Tisch. Überrascht von der Attacke bekam sie gar nicht mit, dass sie mit dem Blut auch ihren linken Vorderzahn ausspuckte. Noch bevor sie sich aufrichten konnte, war der Mann über ihr, legte seine rechte Hand um ihre Kehle und drückte zu. Beatrix rang nach Luft. Ihre Augen traten vor, sie sah den Mann mit flehendem Blick an. Der Mann trug eine schwarze Pudelmütze und einen Schal vor dem Mund. Beatrix konnte nur seine Augen sehen. In seinen Augen stand Freude. Es bereitete ihm Vergnügen, sie zu würgen. Sie lag auf dem Rücken, war kurz vor der Ohnmacht, versuchte mit beiden Händen die Hand des Mannes von ihrer Kehle zu lösen, was nicht gelang. Seine Hand war wie ein Schraubstock. Beatrix begann wild um sich zu treten, erwischte die Beine des Mannes ein paar Mal, was ihn jedoch nicht zu beeindrucken schien. Aus der Nebenwohnung erklang laut der Eurovisions-Song von Lena.

Plötzlich ließ der Mann sie los. Beatrix konnte sich halb aufrichten und rang nach Luft. Sie riss den Mund weit auf, um so viel Luft wie möglich zu bekommen, da stopfte er ihr ein Tuch in den Mund. Beatrix atmete Stofffäden ein, begann zu würgen, das Gefühl zu ersticken überfiel sie erneut. Instinktiv griff sie nach dem Tuch, um es wieder herauszuziehen, doch er hielt ihre Hände fest und versetzte ihr noch einen Hieb ins Gesicht, so dass ihr Kopf zurück auf die Tischplatte schlug, wo sie benommen liegen blieb.

Er zerrte sie mit einer Hand vom Tisch und warf sie auf den Boden. Ihr Schädel prallte mit einem lauten Knall gegen den Küchenherd, sie spürte ihre Kopfhaut aufplatzen. Der Mann sah das Radio auf dem Küchentisch und schaltete es ein. Nun trällerte Lena ihr Liedchen auch in Beatrix’ Wohnung. Der Mann dreht die Lautstärke voll auf. Dann nahm er einen Hammer aus seiner Jacke und kniete sich neben Beatrix auf den Boden. Mit der linken Hand hob er ihr Kinn an und sah ihr in die Augen: »Ich weiß nicht, was du getan hast. Aber irgendjemand ist mächtig sauer auf dich. Ich soll dich bestrafen, weil du eine zu große Klappe hast, sagte man mir. Wenn du nicht allzu laut schreist, überlebst du meinen Besuch vielleicht.« Er nahm den Hammer in die rechte Hand, ließ ihn durch die Luft sausen und zertrümmerte damit Beatrix’ rechten Oberschenkel. Beatrix schrie auf, so laut wie noch nie in ihrem Leben, der Schrei wurde durch den Knebel zu einem Röcheln gedämpft, aber in ihrem Kopf war es laut, entsetzlich laut, weil sie den Knochen hatte brechen und splittern hören, noch nie hatte sie einen solchen Schmerz verspürt, doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn der Hammer sauste wieder herab und traf ihren linken Oberschenkel. Wieder schrie sie auf, in ihrem Kopf explodierten tausend Raketen, vor ihren Augen wurde zuerst alles schreiend bunt, dann schwarz, sie sackte mit dem Oberkörper zur Seite, die Beine bewegungslos, nur noch Schmerz, und ihr Gesicht landete auf den kalten Fliesen. Ihr fiel auf, wie wohltuend die Kälte an der Wange war, und dann fiel ihr Blick unter die Eckbank am Tisch, und sie dachte: Ach, schau mal, hier ist das Backofenspray vorgestern hingerollt!

Halb wahnsinnig vor Schmerz begann sie zu lachen, was aufgrund des sich inzwischen komplett rot färbenden Knebels wie ein ersticktes Glucksen klang. Überrascht ließ der Mann den Hammer sinken: »Bist du irre?«

Beatrix nickte mit verzerrtem Gesicht, griff mit der linken Hand unter die Eckbank, zog sie, so schnell sie konnte, wieder hervor und sprühte dem neben ihr knienden Mann eine volle Ladung Backofenschnellreiniger in die Augen. Er schrie auf, ließ den Hammer fallen, versuchte auszuweichen, verlor das Gleichgewicht, Beatrix griff nach dem Hammer und schwang ihn im Sitzen, so wuchtig sie konnte, auf den Kopf des Mannes. Sie traf, er sackte neben ihr auf dem Boden zusammen, aus der Stirnwunde sickerte Blut. Obwohl Beatrix eine gute und krisenerprobte Krankenschwester war, wollte sie den Mann nicht anfassen, um zu sehen, ob er noch lebte. Sie zog sich den Knebel aus dem Mund, atmete gierig durch. Mit dem Hammer in der Hand robbte sie auf den Unterarmen unter Stöhnen und Fluchen und Weinen zurück in den Flur. Zentimeter für Zentimeter zog sie ihre zertrümmerten Beine hinter sich her. Als sie etwa zwei Meter zurückgelegt und noch ungefähr drei bis zu ihrer Handtasche mit dem Handy vor sich hatte, ärgerte sie sich, dass sie nicht überprüft hatte, ob der Mann noch lebte. Wie oft beschimpfte sie dämliche Protagonisten in dämlichen Filmen, die genau dies versäumten, damit der tot geglaubte Bösewicht zur Steigerung der Spannung doch noch einmal aufstehen und Hackebeil oder Messer oder sonst was schwingen konnte.

Beatrix jedoch erreichte ihr Handy. Der Mann schien tot zu sein. Sie rief die Polizei an, die eintraf, ehe Beatrix’ Angreifer sich auch nur einmal gerührt hatte.