ICE – irgendwo zwischen Frankfurt und Hamburg
Vadim saß mit Danylo vor einer dünnen, kalten Lauchcremesuppe im Speisewagen. Der Zug war überfüllt, die Menschen hockten sogar in den Fluren auf dem Boden. Vadim war froh, noch einen Platz im Speisewagen ergattert zu haben. Er war geradezu in Hochstimmung. Vor knapp zweieinhalb Stunden war er von Radu telefonisch über Alinas Auftauchen in Norddeutschland informiert worden. Zwar fand er Radus Nachricht von der Freundin des Bullen, der in Moldawien gewesen war, reichlich wirr, aber das war egal. Alles war egal, Hauptsache, Alina lebte. Er war sofort losgestiefelt, um Danylo zu suchen. Wie immer hatte der sein Handy abgeschaltet. Vadim hatte ihn in der Nähe ihres Hotels am Main-Ufer gefunden, wo Danylo stumm und düster auf das schmutzig-braune Wasser starrte. In seinen Händen hielt er die Waffe aus Paris. Danylos Miene hatte sich kaum erhellt, als Vadim ihm die Neuigkeit über Alina brachte. Seit sie erfahren hatten, dass Sofia vermutlich tot war, brachte Danylo kaum ein Wort heraus. Vadim hatte ihm die Waffe aus den Händen genommen und in Danylos Jackeninnentasche gesteckt. Sie hatten ihre Habseligkeiten zusammengepackt, das Hotel bezahlt, waren zum Bahnhof gefahren und hatten den ersten ICE nach Hamburg bestiegen.
Vadim schob die Suppe von sich und blickte zum Fenster hinaus. Es regnete schon wieder. Er fand den deutschen Sommer beschissen. In Moldawien schien die Sonne, und es war heiß. An einem solchen Augusttag würde er zu Hause in Moldawien zum Schwimmen gehen. Vielleicht mit Alina und ihren Freundinnen.
»Ich wollte diese Puffmutter erschießen«, sagte Danylo plötzlich. Er hatte seit über einer Stunde kein Wort gesprochen. »Letzte Nacht habe ich bis morgens um halb sechs vor dem ›Justine‹ gewartet, bis sie rauskam. Dann habe ich die Pistole gezogen und auf sie angelegt, so wie du es mir gezeigt hast.«
Vadim hoffte, dass keiner der Leute an den Nebentischen Russisch verstand. Danylo schien auch das egal zu sein. »Aber ich konnte nicht abdrücken. Ich kann es einfach nicht.«
»Und ich kann kein Klavier spielen.« Vadim zuckte mit den Schultern. Was sollte er dazu sagen? Er würde diese Evelyn noch abknallen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Aber zuerst musste Alina in Sicherheit gebracht werden. Dann konnte man weitersehen. Aber bis dahin wollte er nicht ständig eine Mordkommission in seinem Nacken spüren.
»Ich habe in Frankfurt bei der Polizei angerufen«, fuhr Danylo fort.
»Wieso das denn? Was sollen die denn noch machen?« Vadim war sauer. Allein aus Gewohnheit wollte er Kontakte zur Polizei möglichst vermeiden.
»Keine Panik, ich habe ihnen nichts erzählt. Ein anonymer Anruf. Hab nur gesagt, dass im Main die Leiche einer jungen Frau treibt. Sie sollen sie finden. Damit Radu und Ileana was zum Begraben haben.«
Vadim nickte. Endlich hatte Danylo mal eine gute Idee gehabt. Er schob Danylo sein Handy zu. »Wenn du dich so gut mit den Bullen verstehst, dann kannst du jetzt endlich auch diesen Hamburger anrufen.«
»Beyer? Keinen Bock. Der wird mir sofort wieder tausend Fragen wegen Henning stellen.«
»Sei nicht so scheiß-egoistisch! Ich will verdammt noch mal zu Alina! Aber dazu musst du vorher abklären, ob der Bulle mir Schwierigkeiten machen wird, weil ich ihm in Berlin die Knarre an den Kopf gehalten habe. Da reicht es mir nicht, wenn Radu glaubt, dass der Typ okay wäre und uns helfen will.«
Danylo nahm das Handy und rief die Nummer an, die Radu ihm durchgegeben hatte. Er sprach ein paar Minuten auf Deutsch und legte wieder auf.
»Und?«, fragte Vadim ungeduldig. Seine sprachliche Hilflosigkeit in diesem Land trieb ihn in den Wahnsinn.
»Radu hat da was falsch verstanden. Alina ist nicht in Flensburg, sondern in Rendsburg. Der Bulle will im Krankenhaus Bescheid geben, dass wir zu ihr dürfen.«
»Ich auch?«
»Sag ich doch. Aber er lässt dir ausrichten, wenn er dich auf deutschem Boden noch einmal mit einer Waffe erwischt, dann steckt er dich in den Knast.«
Vadim lächelte. Er war unendlich erleichtert. Er wusste nicht, was er gemacht hätte, wenn man ihm den Besuch bei Alina verweigert hätte. »Wie weit ist es von Hamburg bis zu diesem Rendsburg?«
»Nicht weit. Ich bin dafür, dass wir über Nacht in Hamburg bleiben. Alina hat eine Spritze bekommen und wird lange schlafen. Morgen früh können wir dann zu ihr. Ist von Hamburg aus ein Klacks.«
»Prima.« Vadim bestellte zwei Bier und betrachtete Danylo. Dessen düstere Miene ärgerte ihn plötzlich maßlos. »Sag mal, freust du dich gar nicht, dass Alina wieder da ist?«
»Doch. Aber du vergisst in deiner Euphorie anscheinend Sofia! Wirst du Alina erzählen, dass ihre heiß geliebte Schwester tot ist?«
»Sag du es ihr. Schließlich bist du an allem schuld.«
Vadim bereute sofort, was er gesagt hatte. Aber es würde nichts nützen, sich dafür zu entschuldigen. Vadim sah wieder aus dem Fenster. Es regnete immer noch.