Hamburg.

Christian bekam erst am Montagmorgen einen Flug zurück nach Hamburg. Mit Zwischenstopp in München. Es regnete. Die Landung war ruppig. In Hamburg fegten mal wieder heftige Windböen über die Landebahn. Die Landung raubte ihm den letzten Nerv. Kurz vor dem Aufsetzen wünschte sich Christian, Verkehrspolizist in Bhutan zu sein. In dem südasiatischen Königreich gab es eine einzige Kreuzung, an der der vermutlich einzige Verkehrspolizist des Landes die gefühlten fünf Autos von rechts nach links winkte. Er hätte inzwischen Plattfüße, aber an Plattfüßen war noch keiner gestorben.

Vom Flughafen aus nahm Christian ein Taxi nach Hause. Unterwegs dachte er über die Suworows nach. War es tatsächlich tragischer moldawischer Alltag, dass junge Mädchen ins Nirgendwo verschwanden? Er hatte am Sonntag Daniel angerufen und ihn um eine grundsätzliche Recherche zu dem Thema gebeten. Die Antwort war erschütternd: Das Geschäft mit Frauen aus Moldawien, dem Armenhaus Europas, blühte. Die Wege der Rekrutierung reichten von vorgegaukelten lukrativen Jobs für Putzfrauen oder Kindermädchen über Heiratschancen mit gut situierten Männern bis hin zum Kidnapping des »Materials« für die Bordelle. Deutschland war Spitzenabnehmer für Frauen aus Osteuropa, die Quelle spielte dabei keine Rolle.

Bislang hatte Christian immer das Gefühl gehabt, als Kommissar einer Sondereinheit weitaus mehr als der Durchschnittsbürger vom Leben, seinen Tiefen und Untiefen mitzubekommen. Nun wurde ihm klar, dass das bestenfalls für Deutschland gelten mochte. Möglicherweise nur für Norddeutschland oder gar nur für Hamburg. Was wusste er von da draußen? Europa war ihm ein vager Begriff, der sich in einem volatilen Euro, wenig zufriedenstellenden Abkommen und marginaler Zusammenarbeit definierte. Die Schwierigkeiten des europäischen Konzepts erschienen ihm kompliziert genug, sodass er weder die Notwendigkeit sah noch das Bedürfnis verspürte, sich auch noch mit den Problemen außerhalb der gezogenen Grenzen zu belasten.

Nun war er mittendrin. Es ging nicht um Grenzen, es ging nicht um internationales Recht und Befugnisse. Es ging um eine Mutter, die Blaubeerkuchen buk und wollte, dass ihre beiden Töchter mit am Tisch saßen. Christian verstand, dass das internationale Recht eine Sache der Politiker war, das familiäre Glück aber eine Sache der Menschen. Wie Glück überhaupt Privatsache war.

Als Christian gegen Abend in Annas kleiner Hamburger Stadtvilla ankam, stand sie in der Küche und bereitete einen Salat zu. Christian hätte lieber ein Steak mit Bratkartoffeln gehabt. Er fühlte sich leer. Anna küsste ihn und sah ihn prüfend an. »Wie war’s?«

Christian winkte ab, er wollte jetzt nicht darüber sprechen, wollte nur duschen und essen. Anna verstand und entließ ihn ohne eine weitere Frage ins Bad.

Das liebte er an Anna. Sie drängelte nicht. Sie fühlte sich nicht abgelehnt, wenn er sich in sein Schweigen zurückzog. Sie ließ ihn in Ruhe, ließ ihn sein.

Die heiße Dusche tat ihm gut. Selbst den Salat aß er mit großem Appetit, und auch das kalte Bier schmeckte. Es gab tatsächlich Momente auf dieser gepolsterten Eckbank, die ihn seinen Beruf und all das, was da draußen in der Welt stattfand, vergessen ließen. Er dachte an den Titel eines Buches, der ihm gut gefallen hatte, wenn auch nicht so gut, dass er das Buch tatsächlich las: Die Möglichkeit einer Insel. Der Alltag mit Anna war seine Insel.

»Wie war dein Wochenende?«, fragte er.

»Schön. Die Nordsee hat getan, was ich wollte. In beruhigender Monotonie rein und raus rollen. Zwischendurch war ich in der Sauna und im Dampfbad. Alles in allem schön ruhig und erholsam.«

Sie fragte nicht noch einmal: »Und bei dir?« Nur deswegen konnte er zu reden anfangen. Langsam und leise. Als er geendet hatte, sagte Anna: »Scheiße. Was für eine Scheiße.«

Auch das liebte er an ihr. Klare Ansagen.

»Und jetzt?«, fragte sie.

»Keine Ahnung. Ich hoffe, dass Volker, Pete und Herd ein Stückchen weitergekommen sind«, sagte er. Er hörte selbst, wie unwillig und deprimiert er klang. Dabei hätte er zu gerne Hoffnung verbreitet. Aber was er momentan zu bieten hatte, reichte bei Weitem nicht für Optimismus. »Es gehört Glück dazu.«