Brcko, Bosnien-Herzegowina.

Sie tranken Holunder-Brandy. Eine der Frauen hatte zwei Flaschen von einem der Aufpasser bekommen. Sie behandelte die Flaschen wie einen kostbaren Schatz. Fast alle der Frauen stammten aus Gegenden, in denen man trinkfest war. Zwei Flaschen für dreißig Frauen, das war jeweils nur ein Tropfen auf den glühend heißen Stein. Ein winziger Schluck brachte den Frauen nicht, was sie ersehnten: den umgelegten Schalter, den Klick im Kopf, der sie von ihrem Denken und Fühlen abtrennte. Für diesen Klick brauchten sie mehr als einen kleinen Schluck. So kam es zum Streit um die Flaschen. Sofia sah die Frauen trinken, und sie sah sich selbst trinken. Dabei stellte sie sich die angewiderten Gesichter ihrer deutschen Kolleginnen an der Hochschule vor. Wenn sich dort jemand gehen ließ, wenn sich jemand unkultiviert benahm … Russinnen, Ukrainerinnen, Rumäninnen, alles Zigeunerinnen … Holt die Wäsche rein!

Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte Sofia so etwas wie Solidarität mit ihren moldawischen Landsleuten und den »Verwandten« aus anderen Balkan-Ländern. Was wussten die kunstbeflissenen Gattinnen in Deutschland von Armut? Von Ausweglosigkeit? Sie veranstalteten aufwändige Wohltätigkeitskonzerte zugunsten von Frauenhäusern und Kinderheimen. Sofia spielte für sie. Strich ihr Honorar ein und fühlte sich gleichzeitig privilegiert und ausgenutzt. Intellektuell privilegiert den jungen Leuten aus ihrer Heimat gegenüber, die ihr Heil in einer G-Star-Jeans suchten, emotional ausgenutzt von den deutschen Frauen, die sich selbstgefällig in Sozialarbeit suhlten, ohne sich die Finger schmutzig zu machen. Sofia begriff, dass sie zu Unrecht so dachte. Auch sie hatte keine Ahnung gehabt, was hier wirklich vor sich ging.

Cristi trank am gierigsten. Sie war erst zwei Stunden nach Sofia vom Zureiten zurückgekommen. Ihr Gesicht, wie Katya prophezeit hatte, völlig unversehrt. Aber ihr Körper und ihre Seele zerschunden. Sie bat die Frau, die vor einigen Stunden die rumänische Nationalhymne gesungen hatte, das Lied zu wiederholen. Die Rumänin, sie war höchstens zwanzig Jahre alt, nahm noch einen Schluck von dem Brandy und begann, mit leiser Stimme zu singen. Nach und nach stimmten zwei, drei andere Frauen ein.

Sofia wünschte sich, ihre Geige zu haben, um das Lied begleiten zu können. Es bestand aus einfachen, aber schönen Harmonien.

Cristi kam zu ihr. »Du suchst deine Schwester, nicht wahr?«

Sofia nickte.

»Glaubst du, sie war hier und ist zugeritten worden?«

Sofia zuckte mit den Schultern und wandte den Blick ab. Sie bekam kein Wort heraus.

»Sie ist siebzehn, deine Schwester, nicht wahr?«

Sofia nickte wieder.

»Ich bin auch siebzehn«, sagte Cristi.

»Das tut mir leid«, sagte Sofia. Sie wusste selbst nicht genau, was sie damit meinte.

»Mir auch«, sagte Cristi.

Die Frauen waren bei der letzten Strophe angelangt.

 

Waffen in den Armen, euer Feuer in den Adern,

Schreit mit einer Stimme: »Lebendig und frei, oder tot!«

Cristi stand auf und rannte los. Sie rannte auf die Wand mit dem größten Fenster zu und sprang mit aller Kraft ab. Die Scheibe klirrte. Cristi flog. Für ein paar Sekunden war sie frei.