16. April 2010
Brcko, Bosnien-Herzegowina.

Cristi hatte den Sturz nicht überlebt. Sie war in Windeseile vom Hof gekratzt und weggeschafft worden. Die Aufpasser hatten den Zwischenfall mit keinem Wort kommentiert, nicht einmal in ihren Mienen zeigte sich irgendeine Regung. Sie nutzten die Schockstarre der Frauen für eine zweite Zureit-Runde. Unterdessen wurde das kaputte Fenster mit Brettern zugenagelt, ebenso wie die anderen beiden Fenster. Der Raum war nun fast völlig abgedunkelt. In der Nacht herrschte eine gespenstische Stille. Nicht einmal das übliche Wimmern war zu hören.

Am Morgen danach wurden die Frauen sehr früh geweckt. Das Licht des Tagesanbruchs sickerte nur mühsam durch die Bretterverschläge. Einige blickten zu Cristis leerer Pritsche, andere vermieden den Blick dahin.

Die Aufpasser brachten Kaffee und belegte Brötchen zum Frühstück. Dann wählten sie sieben der hübschesten Frauen aus und gaben ihnen Waschzeug, Schmink-Utensilien, neue, sexy Unterwäsche in auffälligen Farben und hochhackige Pumps. Die sieben bekamen den Befehl, sich zu duschen, zu schminken und die neuen Sachen anzuziehen. Die Schuhe sollten sie untereinander tauschen, bis jede ein einigermaßen passendes Paar besaß. Sie hatten eine Stunde Zeit.

Sofia gehörte zu den ausgewählten Frauen. Widerstandslos nahm sie die billige Wäsche und die Schuhe entgegen. Die ersten drei Frauen gingen in den Duschraum.

Sofia setzte sich zu Katya. »Was passiert jetzt?«

»Ich nehme an, ihr müsst zu der Versteigerung, von der ich erzählt habe. Bordellbesitzer aus Westeuropa werden um euch feilschen. Die können mehr Geld ausgeben als ihre Kollegen hier, sind insofern bevorzugte Kunden, die die beste Ware bekommen.«

»Alina sieht extrem gut aus. Und sie ist jung. Sie ist bestimmt auch versteigert worden.« Sofia wollte an etwas glauben, was sie näher zu Alina brachte.

»Kann sein.« Katya zuckte mit den Schultern. Im Moment interessierte sie Alinas Schicksal wenig. Ihre eigene Zukunft war ihr wichtiger, und die sah düster aus. Das letzte Mal hatte sie zu den Mädchen gehört, die versteigert wurden. Jetzt nicht mehr. Sie war verlebt, aussortiert, ihr Marktwert gesunken. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren gehörte sie schon zum Ausschuss und würde in einem einheimischen Puff oder dem eines angrenzenden Balkanstaates landen, um die KFOR-Soldaten zu bedienen, die der Meinung waren, dass sie bei ihrem freudlosen Job fern der Heimat zumindest das Anrecht auf willige und billige Frauen hatten. Dafür fuhren sie an den Wochenenden auch gerne in die grenznahen Städte nach Serbien oder Montenegro rüber – damit sie zu Hause am Stammtisch nicht nur von Kosovo-Nutten erzählen konnten.

»Wer gibt denn am meisten Geld aus für die Frauen?«, fragte Sofia weiter.

Katya seufzte. »Deutschland, Holland und Norwegen.«

»Deutschland … Vielleicht ist Alina in Deutschland?«

»Ach, Scheiße, lass mich doch in Ruhe, ich weiß es nicht!« Katya fing plötzlich an zu weinen, was Sofia fast noch mehr schockte als Cristis Sprung in die Freiheit gestern. Bislang war Katya für sie ein Fels in der Brandung gewesen, der unerschütterliche Beweis für die psychische Widerstandskraft des Menschen. »Tut mir leid, wenn ich dir wegen Alina auf die Nerven gehe«, sagte sie betroffen.

»Wieso denn? Mir geht’s doch super!«, herrschte Katya sie zynisch an. »Außer, dass ich in ein Drecksloch hier in der Gegend verklappt werde, wo es definitiv keine Rettung gibt. Keine Bullen oder Sozialarbeiter, die einen rausholen. Keine Chance auf Flucht aus dem Puff, weil der ganze Balkan ein großer Puff ist, in dem jeder jeden in den Arsch fickt!« Katyas Wutattacke war für sie die einzige Möglichkeit, sich wieder zu fangen. Sie wischte sich die Tränen weg und blickte Sofia trotzig an. »Und da kommst du mir mit deinen Luxusproblemen!«

Sofia konnte nicht anders, sie lachte laut und hysterisch los: »Luxusprobleme! Das ist wirklich komisch, Katya. Saukomisch!«

Katya musste plötzlich auch grinsen. »Na ja, ich schätze, das Bordell, in dem du landest, ist ein echter Wellness-Tempel gegen meinen neuen Arbeitsplatz.«

»Klar. Ich hänge in der Sauna rum, bade in Eselsmilch und werde mit ayurvedischen Ölen massiert! Dabei fliegen mir gebratene Täubchen in den Mund!«

Während Sofia immer noch bitter lachte, wurde Katya wieder ernst: »Okay, hör zu: Wenn du bei der Versteigerung bist, sag bloß nicht, dass du perfekt deutsch sprichst. Du sagst, du kannst ein paar Brocken Englisch und ein, zwei Sätze Deutsch. Mehr nicht.«

»Wieso denn? Wenn ich gut deutsch kann, sind meine Chancen, nach Deutschland zu kommen, doch bestimmt größer!«

»Eben nicht! Die wollen hilflose Mädchen. Einen gebrochenen Willen, null Selbstbewusstsein und am besten überhaupt keine Sprachkenntnisse. Wenn du perfekt deutsch sprichst und dich auch noch mit den Behörden und Gesetzen im Land auskennst, ist die Gefahr viel zu groß, dass du Mittel und Wege findest, dir Hilfe zu holen und dich abzusetzen.«

Sofia begriff. Wie dumm sie doch war.

»Los, jetzt hau ab. Geh dich waschen und schminken, damit du gut aussiehst auf dem Laufsteg.« Katya drehte sich um, legte sich hin und zog die Decke über den Kopf. Sentimentalität und Hoffnung konnte sie nur schwer ertragen.

Eine Dreiviertelstunde später wurde Sofia mit den anderen Mädchen abgeholt. Sie mussten in ihrer Unterwäsche und auf Stöckelschuhen die drei Stockwerke hinab, aus dem Haus raus und über die Straße zu dem Club, den sie bei ihrer Ankunft gesehen hatten. Selbst jetzt, bei Tageslicht, leuchtete der »Victoria«-Schriftzug aus grellbunten Neonröhren. Sofia vermutete einen 24-Stunden-Betrieb. Vielleicht brannten die Lichter aber auch nur für die internationalen Gäste der Auktion. Vor dem Club standen einige teure Wagen mit Kennzeichen aus verschiedensten Ländern.

Es war noch nicht mal zehn Uhr, und ein frischer Wind blies durch die verwaiste Straße. Die Frauen verschränkten die Arme vor der Brust, teils weil sie froren, teils weil sie sich wegen ihres Aufzugs auf offener Straße schämten. Sie wurden von drei Aufpassern zum Hintereingang geführt. Dort stank es nach Abfall, eine Ratte huschte zwischen den durchgerosteten Mülltonnen herum. Durch einen dunklen Flur wurden sie zu einer großen Bühne gebracht, die mit schwarzen Stoffen abgehängt war. Strahler, die auf die Bühne gerichtet waren, blendeten sie. Die Aufpasser stellten sie in einer Reihe auf.

Unwillkürlich straffte sich Sofia. Im Gegensatz zu den Mädchen und Frauen neben ihr war sie die Bühne gewöhnt. Sie funktionierte automatisch: Sobald Scheinwerfer auf sie gerichtet waren, nahm sie Haltung an.

Sofia blinzelte. Sie musste sich erst an das Licht gewöhnen, dann erkannte sie etwa zwanzig Personen im Zuschauerraum. Eine Frau war auch dabei. Sie wirkte wichtig. Sie sah aus wie eine dieser reichen, überschminkten Russinnen, die sich alles kaufen konnten außer Geschmack.

Irgendwo im dunklen Hintergrund schaltete jemand Discomusik ein. Den Frauen wurde befohlen zu tanzen. Ein paar gehorchten sofort, andere mussten ein zweites Mal aufgefordert werden, bevor sie ihre Körper verängstigt bewegten. Nach einigen endlosen Minuten wurde die Musik ausgeschaltet. Die Stimme aus dem Hintergrund befahl den Frauen, die Unterwäsche auszuziehen. Widerwillig kamen sie der Aufforderung nach. Eine der Frauen bedeckte schamhaft ihre Brüste mit den Händen, aber sofort kam ein Aufpasser und riss ihre Hände brutal nach unten. Dann betraten die Gäste aus dem Zuschauerraum die Bühne und umzingelten die Frauen. Sie fassten die Frauen an, prüften die Festigkeit ihres Fleisches, die Geschmeidigkeit der Haare. Zwei der Männer öffneten allen die Münder und wackelten an den Zähnen. Es war wie auf einem mittelalterlichen Sklavenmarkt. Demütigend und widerlich. Sofia hatte mehr und mehr Schwierigkeiten, in Gedanken bei Bach zu bleiben. Einige der Männer stellten ihnen Fragen. Nach der Herkunft, der Ausbildung, den Sprachkenntnissen. Sofia befolgte Katyas Ratschläge. Sie erwähnte zudem mit keinem Wort, dass sie studiert hatte und Konzertgeigerin war, sondern gab sich als Verkäuferin in einem Lebensmittelladen in Chişinău aus. Dann verließen die Käufer die Bühne wieder und begaben sich an einen großen Tisch zum Verhandeln.

Die Frauen wurden zurückgebracht, das Ganze hatte nicht mal eine Stunde gedauert. Schon bald würden sie von Handlangern abtransportiert und mit den inzwischen eingetroffenen falschen Papieren in die Länder ihrer Käufer gebracht werden.

Kurz bevor es so weit war, setzte sich Sofia ein letztes Mal zu Katya auf die Pritsche. »Was ist, wenn ich mich an irgendeiner Grenze an die Polizei wende? Was können unsere Aufpasser dann noch ausrichten?«

»Welche Grenze? Über die wenigen Grenzstationen, die in Europa noch existieren, werden nur die Ahnungslosen gebracht. Die, die immer noch glauben, sie bekommen einen schönen Job als Au-pair oder Putzfrau. Die, die sich mit Tausenden von Euros bei ihren Schleppern verschuldet haben und nicht ahnen, wie sie es zurückzahlen müssen. Oder die, die über eine Heiratsvermittlungsagentur einreisen und sich einbilden, das große Los gezogen zu haben. Die Gekidnappten wie wir, die werden über grüne Grenzen gebracht.«

»Wozu dann die falschen Papiere?« Sofia war aufs Neue desillusioniert.

»Wegen der Razzien in den Bordellen. Der Chef dort behält die Ausweise ein. Die belegen, dass ihr alle legal im Land seid. Wo auch immer. Das Ganze ist super organisiert. Das System ist wasserdicht. Ein Schlupfloch findest du höchstens per Zufall. Also halt immer die Augen offen und gehorche. Sonst dröhnen sie dich so zu, dass du nicht mal mehr merkst, wenn plötzlich eine Tür offen steht. Und irgendwann bist du so dicht, dass du nicht mal mehr weg willst. Weil dir alles egal ist. Weil du innerlich schon tot und verfault bist.« Katyas Blick war bei den letzten Sätzen ins Leere abgedriftet.

Sofia begriff, dass Katya von ihren eigenen Zukunftsängsten sprach. Spontan umarmte sie die neue Freundin. Katya wurde ganz steif und verlegen, also ließ Sofia sie wieder los. Sie legte ihre Hand auf Katyas Unterarm und drückte ganz fest zu. »Katya, ich verspreche uns beiden jetzt etwas. Nein, ich verspreche es nicht, ich schwöre es: Ich werde zuerst Alina suchen. Ich werde sie finden und ich werde sie retten. Und dann werde ich dich finden. Und dich retten!«

»Jaja. Und Cristi hat gedacht, sie kann fliegen. Seid ihr in Moldawien eigentlich alle so scheiß Superheldinnen und scheiß Lara Crofts?«

Sofia nickte: »Sind wir.«

Zwei Aufpasser schlossen die Tür auf und kamen herein. Es war so weit.

Die beiden Frauen lächelten sich traurig an. Dann erhob sich Sofia und folgte den Aufpassern, ohne sich noch ein einziges Mal umzusehen.