19. April 2010
Hamburg.

Walter Ramsauer war seit über vierundzwanzig Stunden zurück in Hamburg. Er hatte kaum geschlafen, sondern so gut wie durchgearbeitet. Das Material von Henning war sortiert und um seine eigenen ersten Recherchen ergänzt worden. Vielleicht steckte sogar noch mehr in der Story, als er bisher ahnte. Gegen Mittag hatte seine Mutter das Telefon bei Elfriede im ›Hirschen‹ benutzt und ihn angerufen. Er hatte gehofft, dass Merle dabei wäre, doch sie wollte nicht mit ihm sprechen. Er verschob das Problem, zuerst galt es, sich auf die vor ihm liegende Aufgabe zu konzentrieren. Wenn diese Story sein Comeback sein sollte, möglicherweise beim Spiegel oder beim Stern, dann musste er sauber und wasserdicht arbeiten. Er vergaß keineswegs, dass Henning – vermutlich wegen dieser Geschichte – sein Leben gelassen hatte. Es war gefährlich. Brandheiß und gefährlich. Genau der Stoff, der Journalistenherzen bis zum Hals schlagen lässt. Normalerweise hätte er sich mindestens drei, vier Wochen Zeit für die Recherche gegeben. Aber er wusste nicht, ob Henning noch jemanden informiert hatte. Er bezweifelte es, aber er wollte keinerlei Risiko eingehen, dass ihm jemand die Story vor der Nase wegschnappte. Es galt zu handeln. Klug und umsichtig, aber dennoch zielgerichtet.

Die entscheidende Telefonnummer zu bekommen, war ein Leichtes gewesen. Walter hatte beschlossen, gleich mitten ins Wespennest zu stechen. Hennings Material war brisant, aber unvollständig. Er hatte seine Quelle nicht angegeben. Ohne diese Quelle war für Walter das Material fast wertlos, wenn es hart auf hart ging. Also musste er kräftig auf den Busch klopfen, um den Gegner aufzuschrecken. Er sollte ihm selbst die Bestätigung liefern, die er mangels eines Zeugen dringend brauchte. Er atmete tief durch und rief an.

Zwei Wochen Knast waren mehr als genug für Andres Puri, das würde ihm nie wieder passieren. Natürlich hätte er der Schlampe von Krankenschwester am liebsten eigenhändig den Hals umgedreht, aber sie war das Risiko nicht wert. Als seine Frau ihm bei seiner Rückkehr vorwarf, er sei doch an allem selbst schuld, er musste ja mal wieder sein Maul aufreißen, da hatte er ihr eine gescheuert, dass sie mit Überschallgeschwindigkeit gegen ihr beschissenes Sideboard gedonnert war und sich dabei den linken Arm brach. Seitdem war wieder Ruhe im Puri-Haushalt eingekehrt. Er hielt sich brav an die Auflagen des Gerichts, kümmerte sich in der gebotenen Vorsicht um seine Geschäfte, spielte Poker mit seinen Freunden und Kollegen und lud ab und zu eine oder zwei Nutten in den Whirlpool ein. Alles war in Ordnung, bis an diesem Tag sein absolut abhörsicheres Telefon klingelte.

»Andres, du musst mir helfen!«

Puri stöhnte genervt auf. Schon wieder dieser Vollidiot. »Was ist denn diesmal?«

»Ich weiß jetzt, wer das Material hat. Das heißt, ich weiß nicht, wer es ist, aber er hat mich angerufen. Hat aber keinen Namen genannt. Schätze, er will mich erpressen.«

»Wie viel hat er verlangt?«

»Erst mal nichts. Er will sich mit mir treffen und reden. Was soll ich denn jetzt machen?«

»Was hast du ihm gesagt?«

»Zuerst habe ich so getan, als wüsste ich nicht, was er will. Und dann habe ich einem Treffen zugestimmt. Damit er erst mal Ruhe gibt. Aber ich kann da doch nicht hingehen!«

»Du hast keinen Schimmer, wer es sein könnte?«

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Aber du bist sicher, dass er das Material hat?«

»Er hat es angedeutet. Er erwähnte ein brisantes Vermächtnis eines kürzlich gewaltsam verstorbenen Volontärs …«

»Okay. Wann und wo?«

»Was?«

Puri war kurz davor, die Nerven zu verlieren. Wie konnte man so dämlich sein? »Das Treffen!«

»Ach so, ja. Übermorgen. Um vier Uhr nachmittags. Im ›Alsterpavillon‹.«

»Klug gewählt. Anscheinend kein so blutiger Anfänger wie dieses kleine Frettchen.«

»Umso schlimmer!«

»Reg dich ab. Ich kümmere mich darum.«

»Was soll ich jetzt machen? Und was willst du tun?«

»Du gehst wie verabredet zu dem Treffen. Rede so wenig wie möglich, streite alles ab. Dann verschwindest du wieder. Den Rest übernehme ich.«

»Wenn es geht, bitte nicht schon wieder … so … drastisch …«, jammerte sein Gegenüber. »Und sorg dafür, dass wir das Material bekommen. Damit ich es endlich vernichten kann.«

»Mach dir nicht in die Hose.« Puri legte auf.

Langsam ging ihm die Geschichte auf die Nerven. Sie nahm Zeit und Geld in Anspruch. Außerdem stellte der Vollidiot ein unkalkulierbares Risiko dar. Vielleicht sollte er mal eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufmachen. Brachte ihm dieser Kontakt wirklich so viel? Puri wägte ab und entschied sich für ein Ja. Prospektiv gesehen war der Vollidiot ein wichtiger Baustein. Also würde er ihm mal wieder die Kartoffeln aus dem Feuer holen und ihn damit unauflöslich an sich binden. Wen sollte er damit beauftragen? Mnatsakanov war so blöd gewesen, sich von der Krankenschwester den Schädel einschlagen zu lassen. Beschissene, dämliche Russen.

Vielleicht sollte er auf deutsche Wertarbeit zurückgreifen. Da gab es diesen Richy. Allerbeste Referenzen, angeblich gutes Auftreten, saubere und schnelle Arbeit ohne verspieltes Gedöns wie Finger abschneiden oder Nasenflügel aufschlitzen und so’n Quatsch. Er rief seinen Bodyguard und beauftragte ihn, jemanden zu beauftragen, diesen Richy zu kontaktieren. Doch dann kam ihm eine noch bessere Idee …

Walter Ramsauer war zufrieden. Sein Gesprächspartner hatte zuerst alles geleugnet, aber er war so geschockt gewesen von Walters Einlassungen, dass man den Angstschweiß durchs Telefon riechen konnte. Es hatte kein zehn Minuten gedauert, bis der Kerl eingeknickt war. Noch zwei Tage bis zum Treffen. Diese zwei Tage gaben Walter die Gelegenheit, über mögliche und wahrscheinliche Abwehrmaßnahmen des Gegners nachzudenken. In der stets überfüllten Touristenfalle ›Alsterpavillon‹ war er sicher, nicht nur wegen der vielen Menschen. Sein Gesprächspartner würde garantiert keinen Wert darauf legen, bei einem Auftragsmord anwesend zu sein. Aber sobald er das Café am Jungfernstieg verließ, würde man ihm folgen, um seine Identität herauszubekommen und ihm das Material abzujagen. Und ihn mund- oder ganz tot zu machen. Wie Henning Petersen. Das galt es zu verhindern. Walter Ramsauer wollte wie Phönix aus der Asche steigen und nicht in ein Grab versenkt werden.