Der erste Schultag
Die ganze folgende Nacht konnte ich nicht schlafen, auf dem Stuhl in der Ecke lag die Schultüte tot da, der widerliche Clown stierte mich leer an und schien sich ebenso vor dem nächsten Tag zu fürchten wie ich. Als um sechs Uhr der Wecker schellte und meine Mutter das Zimmer betrat, lag ich nicht mehr in meinem Bett. Nach kurzer Suche fand sie mich aber unter dem Bett – selbst bei der Suche von Verstecken war ich nicht sonderlich kreativ. Vielleicht hatte der Clown mich verraten, ich hatte das Gefühl, dass er mich traurig angeblickt hatte, wie ich da eine Barriere aus Kissen unter meinem Bett baute. Ich hatte still gehofft, meine Mutter würde mich nicht finden, ich könnte diesen Tag einfach aussitzen, abwarten wie in einem Luftschutzbunker und einfach ein paar Tage später das erste Mal in der Schule auftauchen, wenn die ganze Schultütenhysterie abgeklungen war.
Mit meinem Tornister hatte ich mich mittlerweile abgefunden, im Vergleich zu der Schultüte war er nur halb so übel. An schlechten Dingen ist immer gut, dass man sie durch noch schlimmere Sachen relativieren kann. Eigentlich war auch der Tornister scheußlich, aber im Gegensatz zur Schultüte war er ein echtes Prachtexemplar chinesischer Fließbandarbeit. Er war meinen Eltern von meinem Cousin Sören Malte, der mittlerweile auf dem Gymnasium war, vermacht worden. Sören Malte, diese Wohlstandssacklaus, war fünf Jahre älter als ich und trotz seiner Jugend ein so auffallend spaßbefreites Kind, als hätte er bei seiner Geburt schon seinen Mitgliedsausweis für die Junge Union beantragt. Sören Maltes Humorlosigkeit hatte sich auch in der Auswahl seines Tornisters niedergeschlagen. Das Ding war grau, dunkelgrau wie ein Taubenarsch, und hatte keinerlei offensichtliche Verzierungen, außer dem Logo des Markenherstellers. Ich sah damit eher aus wie ein Liliputaner vom Finanzamt als ein fröhliches Kind auf dem Weg zu seinem ersten Schultag.
Der 18. September 1990 war ein sehr heißer Spätsommertag. Ein paar orientierungslose Spatzen schossen durch den Backofenhimmel, am Horizont lag nur eine träge kleine Wolke, die sich langsam auflöste. Ich ging an der Hand meines Großvaters zum Schulgebäude, mein Vater folgte uns mit einer Super-8-Kamera, die klackernd jeden meiner unsicheren Schritte dokumentierte. Mein Opa war ein Bilderbuchgroßvater, eine menschgewordene Trutzburg gegen die städtische, graue Wirklichkeit. Er hatte wahnsinnig viel Phantasie und war bereit, diese mit seinem Enkel zu teilen. Zitternd griff ich seine Hand, den schweren Tornister auf dem Rücken, das Tütenmonster in meiner Armbeuge.
»Mach dir keine Sorgen, das wird schon. Was kümmert es den Mond, wenn ihn ein Hund anbellt«, flüsterte er mir zu, als er auf den klebrigen Klotz schaute, der fast so groß war wie ich selbst. Langsam wurden meine Schritte sicherer, die Sonne ruhte wie ein Brandloch am Himmel. Als wir an der Schule ankamen, herrschte bereits riesiger Trubel. Zahllose euphorisierte Eltern brabbelten ihren Kindern Grußformeln zu oder forderten sie auf, in die Kameras zu lächeln. Mein Opa drückte meine Hand, schloss seinen Arm um mich und wiederholte noch einmal sein Mantra, das später zur bestimmenden Formel meines Lebens werden sollte. Mein Vater platzte vor Stolz, und meine Mutter wartete schon vor dem Schulgebäude, sie bekam ebenso wie die anderen Lehrerinnen heute eine neue Klasse zugeteilt.
Gerade als ich zu ihr wollte und dabei in ungelenkem Galopp den Schulhof durchmaß, machten sich die Auswirkungen der brüllenden Hitze bemerkbar. Der Kleber meiner Schultüte löste sich, der hämische Clown hielt sich schon nur noch mit einem Teil seiner Mütze fest, und auch die sonstigen Verbindungen lösten sich und erbrachen den Inhalt meines ABC-Schützen-Accessoires auf den Pausenhof. Die anderen Kinder und Familien verstummten plötzlich, alle starrten auf den grauen Kasten in meinem Arm, der meine Geschenke auskotzte. Meine Eltern hatten tatsächlich Süßigkeiten gekauft. Karamelle, Plombenzieher und anderes Süßzeugs schossen aus der Klebeöffnung, und dann fiel noch ein Buch heraus, auf dessen Cover ein riesiger Käfer abgebildet war, der sich in der Ecke eines leeren Raums zusammenkauerte. Sie hatten mir ernsthaft Kafkas »Verwandlung« in die Schultüte getan. Ich bückte mich und schaute auf den vergilbten Bucheinband, konnte jedoch nichts damit anfangen. Ich würde erst später erfahren, dass es sich bei der »Verwandlung« um eine Art »Raupe Nimmersatt« für Bildungsbürgerkinder handelte. Mein Vater filmte stolz, wie ich das Buch vom Boden aufhob, und erläuterte für den geneigten Zuschauer: »Wir wollten erst mal mit der einfachsten Symbolik anfangen, bevor wir über ›Das Urteil‹ oder Ähnliches reden.«
Die anderen Eltern und Kinder schauten mich, den kleinen Jungen mit dem brechenden Schuhkarton an, als hätte ich einen brennenden Bombengürtel umgeschnallt.
Mein Opa rettete die Situation, indem er sich zu mir herunterbückte und einen kleinen, fiependen Kasten aus dem Haufen Krimskrams hervorkramte. Es war ein Gameboy, ein Botschafter der Neuzeit, von dessen Bildschirm mir der monochrome Schnurrbart von Super Mario entgegenlächelte.
»Schau mal, was da noch drin war …«, sagte mein Großvater, der sich völlig im Klaren darüber war, dass er gerade ein Kinderleben rettete. Derartige Auftritte, wie ich gerade einen hingelegt hatte, waren nicht selten der Beginn eines jahrelangen Martyriums. Mein Vater blickte leicht verdutzt durch das Objektiv, auch meine Mutter schien verwundert darüber zu sein, was sich da ins Carepaket für humanistisch gebildete Erstklässler verirrt hatte. Die anderen Kinder ließen ihre glitzernden Tüten liegen und bildeten einen neidischen Kreis um mich und meinen tragbaren Heilsbringer.
Der Tag war gerettet.