Die Armee der Lazarettschwestern
Der Tag der Rache war schon wenig später gekommen. Wir waren in Schachtys Bildungskaderschmiede zu Gast, deren Räumlichkeiten vor dem Fall des Eisernen Vorhangs wahrscheinlich eine Borschtschfabrik beherbergt hatten. Mein Vater stellte sich hinter das Lehrerpult und setzte seine Miene für staatstragende Reden an das Volk auf. Das Volk bestand in diesem Fall aus 16 Nachtwagenschaffnern und 17 Lazarettschwestern aus der Zarenzeit, jedenfalls waren das die ersten Assoziationen, die mir beim Anblick der russischen Schüler kamen. Alle trugen zum Festtag unseres Besuches ihre ehemaligen Schuluniformen aus der Sowjetzeit. Die Jungen hatten dicke Filzanzüge an, die Mädchen trugen schwarze Kleider mit weißer Spitze und riesige cremefarbene Bommel auf dem Kopf, die an Baisertörtchen erinnerten. Es sah ein wenig so aus, als wäre ein Bataillon Bergmänner mit Folkloretänzerinnen aus dem Schwarzwald zur Blitzhochzeit genötigt worden, der ganze Klassenraum war mit Lametta und glitzernden Girlanden bedeckt, in ihrer Mitte standen ich und mein Vater wie zwei graue, archaische Obelisken.
Mein Vater hielt eine Rede auf Russisch, die Kinder nickten synchron wie betrunkene Wackeldackel zu jedem Wort, das er sprach. Sergej Lokosimov stand an der Seite und schaute die Klasse ermahnend an. Das, was mein Vater dort zum Besten gab, schien sehr erheiternd zu sein, nach jedem Satz fing die Klasse an zu klatschen und zu lachen, vielleicht lag es auch daran, dass Sergej stets das passende Signal gab, indem er selbst anfing zu lachen und zu klatschen, wenn mein Vater einen Satz beendet hatte.
Während des Völkerverständigungsmonologs fiel eine Girlande fast lautlos von der Wand, das brüchige Gemäuer war kaum in der Lage, eine Heftzwecke zu halten. Ein kühler Wind pfiff durch die undichten Fensterrahmen, auf dem Boden lagen Teile der Deckenverkleidung, alles wirkte trotz der betonten Festlichkeit sehr marode. Sergej versuchte diesen Umstand zu kaschieren, indem er sich vor das riesige Loch stellte, welches in der Klassenraumwand klaffte.
Die russischen Schüler erinnerten nur entfernt an ihre deutschen Pendants, bis auf die grundsätzliche Gewaltenverteilung (Lehrer spricht, Schüler sollen zuhören) war nicht viel vom deutschen Schulsystem wiederzuerkennen. Anders als die auf den Stuhlbeinen kippelnden und gelangweilten Schüler aus meiner Heimat saßen diese hier wie stocksteife Puppen da, die Hände auf dem Tisch gefaltet und den Tornister einheitlich rechts neben dem Stuhl platziert.
Mein Vater war von so viel Zuspruch durch die Schüler selbst wohl etwas verunsichert – obwohl ich kein Wort von dem verstand, was er da mit ausladender Gestik von sich gab, merkte ich, dass seine Stimme zitterte.
Es war der vorletzte Tag unseres Russland-Urlaubs, meine Eltern sahen nach weiteren heiteren Saufgelagen bei Mamita Maja inzwischen leicht ramponiert aus. Mein Vater hatte Augenringe und war unrasiert, meine Mutter erinnerte eher an Iggy Pop als an eine deutsche Grundschullehrerin. Auch an mir hatten die 14 Tage Survivalurlaub Spuren hinterlassen: Mein ganzer Körper war mit Blessuren übersät, weil ich bei einem Jagdausflug mit Sergej und Ivan eine Böschung heruntergerollt war. Immerhin hatte ich so die armen Schweinchen verjagt, die sonst im undurchdringlichen Dickicht eines russischen Nadelwalds vor Ivans absurd großer Flinte gestanden hätten.
Jedenfalls war die Stimmung auf dem Marianengraben angekommen, ich hatte die Kommunikation zu meinen Eltern, die sich sowieso nur noch mit Ächzlauten verständigten, fast komplett eingestellt und hätte mich am liebsten den Rest der Zeit auf dem Klo eingeschlossen und auf den Abflug gewartet.
Leider gab es noch diesen letzten Programmpunkt. Sergej hatte mich und meinen Vater als deutsche Delegierte eingeladen, seine Arbeitsstelle zu besuchen, und natürlich sollten wir dort möglichst viel (dem interkulturellen Austausch dienend) von unserer deutschen Schule erzählen.
Ich hatte meinem Vater am Vorabend erklärt, dass ich mich lieber live im Samstagabendfernsehen einer Darmspülung unterziehen würde, als auch nur drei Sätze über mein Leben als deutsches Schulkind abzugeben. Er hatte wohl schon Ähnliches erwartet und deshalb ein Gedicht über deutsche Schulen verfasst, welches ich den hoffentlich gnädigen Schülern vortragen sollte.
Ich hatte mit Selbstmord gedroht und versucht, mich im Wodka zu ertränken, was dazu führte, dass meine Mutter an mein Pflichtgefühl und meinen Familiensinn appellierte. Als sie merkte, dass an beidem bei mir ein eklatanter Mangel herrschte, nahm sie meine Hände und bat mich von Herzen, meinem Vater den Gefallen zu tun, damit dieser Albtraum von einem Urlaub endlich ein friedliches Ende nahm.
Ich willigte ein, doch als ich sah, was mein Vater unter dem Einfluss von Alexejs selbst gebranntem Synapsentod zusammengedichtet hatte, wollte ich mich selbst am liebsten gleich wieder auf die Suche nach dem Kanister machen.
Auf dem kleinen, sorgfältig und leserlich beschriebenen Zettel stand allen Ernstes folgende Strophe:
Gepriesen sei die Tüchtigkeit
Des Lehrers große Tugend
Er fördert wie kein anderer
Die Zukunft uns’rer Jugend.
Der Schüler kann ihm dankbar sein
Für all sein edles Streben
Der Lehrer gibt, der Schüler nimmt
Und lernt auch so fürs Leben.
Das klang ja eher nach einer Pädagogenlobpreisung aus einem Peter-Alexander-Film von 1956 als nach zeitgenössischer Dichtung! Ich lehnte ab und bot an, mir lieber vor versammelter Mannschaft einen Eimer Curryketchup über den Kopf zu gießen, das würde auch zu Heiterkeit führen und war nur halb so blamabel.
Nach einer Nacht des Bittens und Flehens meiner Mutter, die immer noch den Familienfrieden in Gefahr sah, war ich mir sicher, dass das Konzept des familiären Friedens nicht meinen Frieden mit einschloss. Ich sagte zu, auch weil meine Eltern mir für die Zukunft einen Urlaub an einem karibischen Sonnenstrand versprachen. Ich wäre mittlerweile selbst mit FKK-Ferien auf Usedom zufrieden gewesen.
Und dann stand ich da und hielt meinen kleinen Schmierzettel in der Hand, die russischen Schüler sahen mich gespannt an. Mein Vater kündigte mich wortreich als seinen Sohn an, und eigentlich war ich schon froh, wenn er mich nicht wieder mit Oskar Matzerath oder dem Sams verglich. »Hier ist er nun, mein Sohn Bastian«, rief mein Vater und breitete seine Arme aus, als käme jetzt das Nilpferd und fräße einen Kohlkopf.
Ich trat vor, verbeugte mich steif und sah meinen Vater an, der sich stolz neben Sergej postiert hatte. Dann begann ich, meine eigene Version der Deutsch-Russischen-Völkerverständigung vorzutragen …
Moskau, Moskau
Wirf die Gläser an die Wand
Russland ist ein schönes Land
Ho Ho Ho Hey!
Wodka, Wodka
Lehrer, die sind gerne stramm
Weil der Schüler gar nichts kann
Ha Ha Ha Hey!
Schule, Schule
Lehrerkind sein, das ist doof
Lebenslänglich Pausenhof
Ho Ho Ho Hey!
Eine eigenartige Stille setzte ein, fast wie bei unserem Beinahe-Absturz in der russischen Tundra. Anscheinend war Dschinghis Khans deutsche Ostblockhymne niemandem hier ein Begriff. Gut, es fehlte zwar die Hintergrundmusik und statt einer tanzenden Truppe in Karnevalsgewändern stand nur ein Junge mit Knabenbusen und zu kurzem T-Shirt vor der Klasse, aber rein textlich hatte ich die Nummer sicher rübergebracht. Meinem Vater waren meine kleinen Änderungen offensichtlich aufgefallen, er schaute mich wütend an, als wäre aus dem Karibikurlaub gerade Strafdienst im Gulag geworden.
Plötzlich sprang Sergej von der Wand ab und brach in frenetischen Jubel aus, die Kinder fingen auch an zu applaudieren, als hätte ich gerade meisterhaft den Faust gegeben. Anscheinend hatte keiner außer uns beiden etwas von meinen Tiraden verstanden, Sergej klopfte mir stolz auf den Rücken, während ich immer noch dastand wie bei der Musterung.
Er schob mich neben meinen Vater, der mich weiterhin mit versteinerter Miene ansah und wahrscheinlich überlegte, wie er meinen Großeltern in Deutschland erklären sollte, dass ihr Enkel nicht aus Russland zurückgekehrt war.
»Gar nicht schlecht, oder?«, murmelte ich leise, während ein Mädchen mit einer Balalaika den Raum betrat. Mit der absurd großen Folkloregitarre sah sie aus wie Schlumpfine am Kontrabass.
»Ich rede nie wieder ein Wort mit dir, so eine Blamage«, gurrte mein Vater böse. »Es hat doch eh kein Mensch was verstanden«, versuchte ich meine kleine Improvisation zu entschuldigen.
»Ich habe es verstanden …«, sagte mein Vater dann und schwieg.