Elternsprechtag
Mein Vater war schon die ganze Woche schlecht drauf, aus seiner sonstigen Einsilbigkeit war ein Gemisch aus Grunz- und Stöhnlauten geworden, das man nicht mehr Sprache nennen konnte. Meine Mutter putzte nervös Fenster und schrubbte dabei fast ein Loch ins Glas. Spannung lag in der Luft, es war die Art von Stimmung, bei der man sich als Kind gern in sein Zimmer verzieht und in die heile Welt einer Benjamin-Blümchen-Kassette flüchtet.
Ein Blick auf den Kalender verriet den Grund der apokalyptischen Gemütslage meines Vaters, es war der Tag, den jeder Lehrer heimlich fürchtete: Elternsprechtag.
Elternsprechtag ist für Lehrer das, was für die Kanzlerin eine Pressekonferenz nach der gescheiterten Vertrauensfrage ist. Man muss sich für die Fehler anderer rechtfertigen, sich von allen Seiten Vorwürfe anhören, und man tritt mit allem, egal was man sagt, irgendjemandem auf den Schlips.
Mein Vater hasste das, in einer Stunde würde er wieder auf einem kargen Holzstühlchen vor einer besorgten Mutter sitzen und versuchen, ihr zu vermitteln, warum ihre kleine Prinzessin Jessica, die so klug wie ein Kasten Brause war, die siebte Klasse wiederholen musste. Solche Mütter machten ihr Verhältnis zum eigenen Kind immer besonders deutlich, indem sie das schöne Wort »meine« vor jede Namensnennung klatschten:
»Meine Jessica raucht doch nicht … So redet meine Jessica doch nicht … Meine Jessica soll das gesagt haben, das glaube ich nicht!«
Mein Vater schaltete dann in den geistigen Autopilot. Über die Jahrzehnte als Lehrer hatte er ein entsprechendes Notfallvokabular aufgebaut, um den Eltern schonend zu vermitteln, dass ihre Thronfolger bestenfalls zum Briefebeschweren taugten und einer sonnigen Zukunft im Plattenbau entgegenschielten.
»Es gilt einfach Vergleichbarkeit zu bewahren, man muss Bildungschancen schaffen und trotzdem den Ansprüchen der Kinder adäquat entgegenkommen.«
Deutlicher formuliert: »Ihre Tochter ist zu doof zum Türstoppen. Eigentlich stoffwechselt sie in der Schule nur vor sich hin. Die einzige Berufschance, die ich sehe, wäre, dass sie sich später vor große Schaufenster stellt, mit den Armen wedelt und so Vögel vor dem Aufschlagtod bewahrt. Eine Art ornithologische AB-Maßnahme, wenn Sie so wollen.«
Die Mütter brachen dann oft in opernreifen Szenen zusammen. Jessicas lang angestrebtes Medizinstudium (»Sie sieht doch so gerne Blut, Herr Bielendorfer!«) rückte in weite Ferne, und mein Vater bekam den ganzen Zorn der verschmähten Erzeuger ab.
Dann hieß es meist, der Lehrer habe das Kind absichtlich sabotiert, seine Potenziale nicht erkannt und böswillig alle Zukunftschancen verbaut.
Ob solche Eltern auch mit dem Piloten ihres Ferienfliegers über die Route diskutierten?
Ein Jahr zuvor hatte mein Vater sich fast den halben Vormittag mit einer aufgebrachten Mutter herumschlagen müssen, die das Gespräch mit dem denkwürdigen Satz »Wie kommt dat mit dat schlechte Deutsch von den Justin?« eröffnete. Dass Justin des Deutschen nur rudimentär mächtig war, überrascht den geneigten Beobachter vermutlich nur wenig, dem Justin seine Mutter war jedoch schockiert, was sie mit der schönen Wortstafette »Sie machen dem Justin seine Zukunft im Arsch. Watt sind Sie bloß für’n Mensch?« zum Ausdruck brachte.
Dass sich der Justin schon morgens auf dem Schulklo mithilfe einer Wasserpfeife zudröhnte, den Großteil seiner Zeit die Klassenstreber vermöbelte oder gar nicht erschien, war in dem Bewusstseinskosmos der Frau kein Thema.
Eher waren der Lehrer und das ganze Schulsystem schuld an »die schlechte Deutsch«, das sich auch über die ersten drei Klassen Gymnasium nicht verbessert hatte und wegen dem nun eine Versetzung in die eher handwerksorientierte Gesamtschule anstand.
Elternsprechtag war der Tag der enttäuschten Ansprüche, der übertriebenen Erwartungen und der möglichst flauschigen Verpackung von höchst unangenehmen Themen. Selbst das Gespräch mit den Eltern eigentlich sehr guter Schüler konnte unangenehm werden, da diese oft ein gesteigertes Interesse daran zeigten, die wirklich ordentliche Leistung ihrer Kinder ins Genialische zu erhöhen.
Zum Reizwort für alle Lehrer war der Begriff »Hochbegabung« geworden, und der Elternsprechtag war eindeutig der Tag im Jahr, an dem dieses Wort am häufigsten benutzt wurde.
Da hatte irgendein Bildungsforschungsinstitut aus Wanne-Eickel den ambitionierten Wohlstandseltern ein Dokument ausgestellt, welches den kleinen Maximilian als Heiland einer neuen Bildungselite auswies. Nun stand der Lehrer, oftmals auch mein Vater, vor der Frage, ob der kleine Maximilian einfach nur überdurchschnittlich leistungsfähig war oder ob man sich nicht doch vielleicht schon einen Lehrstuhl in Cambridge vorreservieren lassen sollte?
Dass die Eltern an Zweiteres dachten, versteht sich von selbst, und es ist auch niemandem vorzuwerfen, sein eigenes Kind in einem positiven Licht zu sehen.
Jedoch ist das Etikett »Genie« nicht zwingend der Garant für ein glückliches Leben, und so sollte ein Lehrer stets ausloten, wo zwischen der übertriebenen Erwartungshaltung der Eltern und der nüchternen Wirklichkeit das Glück des Kindes seinen Platz finden könnte.
Besonders gern wird von vielen Eltern auch argumentiert, ihr Kind stehe am Ende des Jahres nur deshalb mit so schlechten Noten da, weil der Schulstoff es »unterfordert« habe und es sich während des Unterrichts langweile.
Das Problem für den Lehrer liegt nun darin, dass er abwägen muss, ob das betroffene Kind wirklich unterfordert ist oder ob es andere Gründe gibt, warum das Kind den Großteil der Zeit so viel Anteil am Unterricht nimmt wie ein schwermütiger Wiederkäuer.
»Und, schon wieder Elternsprechtag?«, rief meine Mutter meinem Vater mit ein wenig Schadenfreude zu. Er wackelte durch unser Haus wie ein Duracellhäschen auf Starkstrom und schlug die Tür mit einem genervten »Jaaaa« hinter sich zu.