Familie auf Russisch
Erst aber sollte eine vierstündige Odyssee durch das Flughafengebäude folgen. Die übrigen Fluggäste, die eindeutig russischer Herkunft waren, wurden von den Flughafenbeamten mit einem kurzen, zustimmenden Nicken bedacht, während wir als Westdeutsche und damit ehemalige Klassenfeinde erst einmal unter Generalverdacht standen. Der einzige Grund, warum uns nicht wirklich jeder Angestellte des Flughafens mit einem Gummihandschuh ins Poloch fasste, war, dass sich Sergej lauthals ereiferte, und als das nichts nützte, einfach jeden zweiten Beamten bestach.
Hinter den Kontrollen wartete schon Sergejs Familie darauf, uns in Empfang zu nehmen. Wobei der Begriff »Familie« auf Russisch einen etwas weiteren Personenkreis zu umfassen schien als auf Deutsch. Bei unseren russischen Gastgebern bildete sich das Empfangskomitee aus fünf Generationen von Lokosimovs, von der neugeborenen Oxana bis zur greisen Babuschka Maja, auf deren faltigem Körper ein noch faltigeres Gesicht mit zwei hellwachen Knopfaugen thronte. Außerdem waren alle Onkel, Tanten, Neffen und Cousinen, Schwager, Schwippschwager, Nachbarn sowie ein paar handverlesene Bekannte angereist. Insgesamt mussten es wohl an die hundert Leute sein, wobei manche wohl einfach umstehende Flughafengäste waren, die sich den Besuch aus dem weit entfernten Deutschland genauer anschauen wollten. Alle hielten ein kleines Geschenk in der Hand, das uns dann wild händeschüttelnd überreicht wurde.
Nach einem Marathon an Begrüßung, Umarmung, Kneifen in die speckige Wange und nochmaligem Tätscheln aller Gliedmaßen war meine Familie gänzlich in einen Wust aus Geschenkpapier versunken, und jedes Präsent musste unter den wachenden Augen des jeweiligen Familienmitglieds geöffnet werden. Mitten in der Ankunftshalle des Flughafens! Am Ende hatten wir den halben Konsumapparat des ehemaligen Ostblocks vor uns ausgebreitet. Es gab Unmengen an zärtlich verpackten groben Leberwürsten, Teekochbestecken, selbst gestickten Kochlappen und Matrjoschka-Puppen. Außerdem gab es Unmengen an Kartoffelschnaps, also Wodka, wobei auch ich einige an mich adressierte Flaschen unter dem Geschenkehaufen ausmachen konnte. Mein Vater versuchte schon gar nicht mehr, sie mir zu entreißen, der drohende Zeigefinger von Sergej wartete in Bereitschaftshaltung. Dann provozierte mein Vater den ersten Beinahe-Eklat unseres Ankunftstages, indem er unsere Mitbringsel aus Deutschland (die zwar nicht ausreichen würden, um alle Familienangehörigen zu versorgen) ebenfalls den Gastgebern gleich überreichen wollte. Das war, wie man es in der bilderreichen Sprache dösiger Society-Redakteurinnen nennen würde: das »ultimative No-Go«. So als würde Paris Hilton vor den Augen der Weltöffentlichkeit auf den Rasen des Weißen Hauses scheißen. Der gesellschaftliche Untergang. Dem Gastgeber in Russland ein Geschenk mitzubringen ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, ebenso selbstverständlich ist es aber auch, dass dieser die freundliche Geste des Gegenübers erst einmal mit aller Kraft ablehnt. Da wird mit den Armen gewedelt, das Gesicht zu einer lächelnden, aber bestimmten Grimasse verzogen und das Geschenk mit der ausgestreckten Hand zum Gast zurückgeschoben. Auf diese Ablehnung muss der Gast nun mit einer noch stärkeren Bestimmtheit reagieren, das Geschenk mit noch größerer Kraft in die Hände des Gastgebers schieben und das Ganze mit einem Ausfallschritt und einer Umarmung komplettieren.
Mein Vater dagegen, in solcherlei Ritualen völlig ungeübt und durch die deutsche Eigenart geprägt, Geschenke immer mit einem Kopfnicken und Höflichkeitslächeln entgegenzunehmen, nahm das verpackte Exemplar eines Bildbands über Gelsenkirchen wieder zurück und schob es in seine Reisetasche (wahrscheinlich mit dem Gedanken, es irgendwann an Weihnachten an die bucklige Verwandtschaft zu verschenken). Die Mienen aller Anwesenden verfinsterten sich, sogar Babuschka Maja formulierte etwas, das zumindest von der Intonation her nach einer Verfluchung klang, so im Sinne von: »Dein Erstgeborenes soll Hörner und Schwanz haben.«
Dem Erstgeborenen selbst, also mir, gelang die Völkerverständigung deutlich besser, alle minderjährigen Neffen und Nichten scharten sich um mich und meinen Gameboy, der in meinen Händen spannend piepste und tutete.
Der rostige Laster, mit dem wir und der Geschenkehaufen abtransportiert wurden, bröckelte dann beim Einsteigen fast auseinander. Sergej machte wieder die Guillotinengeste, die mir in diesem Zusammenhang doch leicht übertrieben erschien. Der Zusammenprall mit einer Ente hätte vollkommen ausgereicht, um den Wagen zu zerreißen.
»Vorsicht, hier viel Räuber«, warnte uns Sergej beim Einsteigen in das Gefährt und klopfte seinem Neffen Ivan auf die Schulter. Der ballte seine Fäuste und holte unaufgefordert eine riesige Handfeuerwaffe aus dem Handschuhfach, die sattsam glänzte. Leider sei die Waffe zu klein, da könne man im Ernstfall nicht viel anrichten, deshalb verstaue er sie lieber wieder im Handschuhfach, nuschelte Ivan, der neben seiner Scharfschützenausbildung anscheinend auch ganz passabel Deutsch gelernt hatte.
Ivan erschien uns wie ein schweigsamer, schießwütiger Verrückter. Dieses Missverständnis sollte sich in den nächsten Tagen auflösen. Ivan war ganz und gar nicht schweigsam.
Wir fuhren Richtung Schachty, eine Unzahl verwitterter Plattenbauten säumte unseren Weg.
Als wir Sergejs Haus erreichten, das recht verloren in die Landschaft geworfen wirkte, stand Darth Vader vor der Tür. Ehrlich, Darth Vader ohne Lichtschwert und Helm, dafür aber mit außergewöhnlich viel Technik um den buckligen Leib geschnallt. So wirkte Opa Alexej jedenfalls auf mich. Der alte Mann winkte vor dem kleinen Backsteinhäuschen, trug einen schwarzen Bademantel und zog einen blinkenden Automaten hinter sich her, der auf dem unebenen Boden unsicher vor und zurück wackelte. Als wir ausstiegen, schloss der dunkle Lord sofort seine Arme um mich, wobei seine Atemmaske beschlug und ich nur sein unstetes Röcheln hören konnte. Alexej war Sergejs Vater und mein Zimmergenosse für die nächsten Tage, wie ich direkt beim Betreten des Hauses mitgeteilt bekam. Er war einer der unzähligen Minenarbeiter von Schachty gewesen, die sich in den goldenen Fünfziger- und Sechzigerjahren ihre Gesundheit tief unter der Erde ruiniert hatten, und wahrscheinlich war er einer der wenigen Privilegierten im Ort, die es sich leisten konnten, einen Kasten mit sich zu führen, der sie am Leben hielt. Jedenfalls halbwegs, Alexej schaute eigentlich einen Großteil der Zeit drein, als würde er schon vor der Himmelspforte stehen. Er bekam nur seinen blinkenden Beatmungsautomaten einfach nicht über die Schwelle gezogen. Überraschenderweise stellte sich das Großmütterchen Mamita Maja später noch als seine Mutter heraus, ein weiterer Hinweis, dass die Frau alt genug war, um beim Letzten Abendmahl gekellnert zu haben.
Das Haus wirkte von außen durchschnittlich groß, war aber innen so mit Wandteppichen zugehängt, dass man nur gebückt stehen konnte. Im Fernsehen lief eine russische Musiksendung, das Publikum des russischen Musikantenstadels hatte man anscheinend komplett auf Crystal Meth gesetzt. Eine Frau mit viel zu kurzem Rock und viel zu weitem Dekolleté ballte eine Faust in Richtung Zuschauer und litt dann tränenreich unter schlimmem Singdurchfall, ihr Köper verschwand in einem Wust aus Kunstnebel, während alle dem Menschen bekannten Instrumente gleichzeitig drei verschiedene Folkloremelodien spielten. Dann kam ein russischer Moderator, der aussah, als hätte man Ilja Richter mit einem Opossum gepaart und der inmitten seiner Moderation ganz unvermittelt lossang, während schlagartig Bilder von Tieren und Sonnenaufgängen hineingeschnitten wurden. Auch unsere russischen Gastgeber schienen einer gewissen Gefühlsduselei nicht abgeneigt – anders war es nicht zu erklären, dass Opa Alexej bei unserer Begrüßung vor Freude weinte. Der leicht biederen deutschen Seele meiner Eltern waren solche Gefühlsausbrüche nicht geheuer, ich hingegen war es gewohnt, dass die Leute weinten, wenn sie mich sahen.
Dann gab es erst mal einen kleinen Begrüßungswodka, stilecht aus einem Fünf-Liter-Kanister, der griffbereit unter dem Wohnzimmertisch stand. Sergej klärte meine Eltern nach dem ersten Schluck darüber auf, dass die Stationen unseres Urlaubs schon generalstabsmäßig durchgeplant seien. Für jeden Tag gebe es eine andere, kulturelle Besonderheit. Morgen werde Ivan den Anfang machen und eine seiner beliebten Fremdenführungen durch die örtliche Hauptstadt Rostow anbieten, er sei nämlich Touristenführer, ja sogar der bekannteste und bestbezahlte Touristenführer der ganzen Region.
»Das stimmt, der Bechanteste«, brummte Ivan, er saß etwas krumm auf einem zu kleinen Stuhl. Sein Deutsch war zwar akzentschwanger, aber deutlich verständlicher als das von Sergej. Meine Eltern beäugten den Mann, der ein paar Stunden zuvor noch stolz seinen Revolver aus dem Handschuhfach gekramt hatte, und mein Vater erkundigte sich, ob denn die von Konstantin Andrejewitsch Thon erbaute Christus-Geburts-Kathedrale auf unserer Route liege?
»Auch …«, grummelte Ivan und verstummte. Über die restlichen Ausflugsziele schwieg er sich aus, meine Mutter warf meinem Vater erneut einen fragenden Blick zu.
Egal, es wurde nachgeschenkt. Mein Vater hielt in einem verzweifelten Versuch seine Hand über das Glas, was Opa Alexej wohl nur als Segnungsversuch des eigenen Selbstgebrannten interpretierte, weshalb er das Glas zur Belohnung randvoll machte.
Wir waren noch nicht wirklich angekommen, und meine Eltern schienen langsam aber sicher schon ordentlich einen sitzen zu haben. Ich bekam heimlich unter dem Tisch von Opa Alexej Wodka in mein Colaglas gekippt. Mamita Maja öffnete ihren beachtenswert zahnlosen Mund und setzte tanzend zu einem russischen Volkslied an. Im Gegensatz zur deutschen Fehlannahme, russische Folklore würde nur aus »Kalinka, Kalinka« in Endlosschleife bestehen, verwöhnte uns Oma Maja mit einer halbstündigen Ode über ihr Vaterland, zu dessen Refrain jeweils der gesamte Familienclan einstimmte. Zwischendurch durfte jeder Tischgast einen kurzen Toast ausbringen, und auch wenn wir kein Wort verstanden, schienen es doch alles sehr gefühlvolle Begrüßungen zu sein. Als die Reihe der gegenseitigen Lobpreisung bei meinem Vater angekommen war, blieb dieser erst einmal ruhig sitzen und versuchte sich vor seiner Pflicht zu drücken. Doch als sich gemeinschaftlich ein finsterer Schatten über die Gesichter unserer Gastgeber legte, zwickte ihn meine Mutter in die Seite. Er sprang auf und formulierte die denkwürdige Worthülse:
»Ähm, äh, liebe Freunde, lieber Sergej, lieber Alexej, wird sind, ähm, sehr geehrt von so viel Gastfreundschaft und Aufmerksamkeit … ähm, ja sind wir wirklich, ähm, sehr ja …«
Plötzlich war es so still, man hätte einen Maulwurf fünf Meter unter der sibirischen Tundra furzen hören können. Der ganze Ansatz seiner Rede war für unsere Gastgeber sehr untypisch. Mein Vater stand da wie ein Kaktus am Nordpol, Opa Alexej hustete, Sergej schaute fassungslos, als hätte mein Vater gerade die russische Flagge verbrannt. Alle klatschten und lächelten, doch es legte sich der fade Geschmack der Schmeichelei über ihr Verhalten. Dann gab es erst mal einen Wodka zur Stärkung, denn der zurückhaltende deutsche Gast war weder in Tränen ausgebrochen, noch hatte er seine Arme ausgebreitet und ein Familienmitglied vor Freude zerquetscht, eine unglaubliche Enttäuschung.
Babuschka Maja fing wieder an zu singen, bis die Tapete sich löste, und die ganze Familie Lokosimov stieg beim Refrain mit ein. Mein Vater schaute mich strafend an, also sangen wir mit, zum Glück ging unsere dadaistische Nachahmung des Russischen mit Lalala-Lauten im Gemisch der Stimmen unter.
Als die Lokosimovs ihren Choral beendet hatten, ging erneut eine Runde Wodka durch die Reihen, die Aufnahmefähigkeit unserer Gastgeber schien unsere erheblich zu übersteigen. Anders ließ es sich nicht erklären, dass mein Vater mittlerweile anfing, ein wenig zu schielen. Erneut wurden ein Trinkspruch und eine sehr inbrünstige Begrüßung durch die Gastgeber ausgebracht.
Das Gleiche wurde auch von meinem Vater erwartet, der nach dem zwölften Begrüßungsschnaps so voll war wie eine Haubitze aus Ostpommern. Deshalb fiel es ihm nun wohl deutlich leichter, etwas Passendes zu formulieren:
»Liebaaa Serjeeej, liebaaaa Alexej« (er deutete mit dem Finger auf unsere Gastgeber, 30 Sekunden lang, ohne ein Wort zu sagen), »für mich und meine Frau Ingridaa« (meine Mutter lag mit dem Kopf auf dem Wohnzimmertisch und schnarchte), »und für unseren Sohn Bastian, ist es eine groooooße Ehre, hier im tschönen Mütterchen Russland zu Gast zu sein … es ist so tschööön hier!«
Dann hob er sein Wodkaglas und rief fern irgendeines Sinnzusammenhangs: »Russia, Germany, super, super, twelve points!«
Das war genau die gefragte Menge irren Schmalzes, nach dem unsere Gastgeber gegiert hatten, alle fingen an zu klatschten und prosteten sich fröhlich zu.
Der restliche Abend lief dann nach dem bekannten Muster weiter, nur dass ich ab 21 Uhr keinen Alkohol mehr bekam, was mir nicht nur willkürlich, sondern auch sehr unfair vorkam.