Bundesjugendspiele – Weitsprung
Fein säuberlich harkte der Adjutant des Sportlehrers kleine Rillen in den Sand, als handelte es sich um einen riesigen Zen-Garten für Grenzdebile. Doch dieser Sand hatte nichts Entspannendes, keine Esoteriktante massierte hier ihre Gehirnwellen, nein, es war ein unbarmherziger Treibsand, in dem alle Hoffnungen der jungen Menschen verschluckt wurden. Nebenbei roch der alte, moddrige Quarzstreusel nach Lulu und Schweißfüßen, schon unzählige Schüler hatten ihren verschwitzten Po über die grundierte Oberfläche gestreift, vergängliche Male eines früheren Wettbewerbs hinterlassen.
Zehn Meter lang war die Fläche, auf der sich Könner von Versagern trennten. Weltrekordler überwinden in einem Sprung fast neun Meter der graugelben Masse, ich war schon froh, wenn ich nicht gleich auf dem ersten Meter statt meines Pos den Abdruck meines Gesichts in den Sand fräste.
Der Himmel lag wie braunes Backpapier über dem Sportplatz, und trotz des ständigen Nieselregens, der den Sand zu einer trüben, zementartigen Suppe verdünnte, schwitzte ich wie Rainer Calmund beim Sonntagsbrunch.
Ich hatte so was noch nie gekonnt, und es war auch gegen sämtliche Gesetzmäßigkeiten der Natur, dass massige Lebewesen sonderlich gut springen können sollten, jedenfalls hatte ich noch nie ein Nashorn fidel hopsend die Flucht ergreifen sehen. Und so war auch mir die Flucht nicht vergönnt, ich sah nur die hohlen Augenlöcher Herrn Schmitz’, seinen starren Blick, der die Linie fixierte, die nicht übertreten werden durfte. In der wartenden Menge meiner Mitschüler, die teilnahmslos betrachteten, wie der kleine Fetti sich gleich lächerlich machen würde, sah ich das Gesicht meiner Angebeteten, der Göttin des Lichts, Hannah Sommer. Hannah Sommer war so makellos, dass die anderen Mädchen neben ihr wie Statistinnen wirkten, gecastete Durchschnittstypen, damit Hannahs ausnehmende Schönheit noch mehr zur Geltung kommen konnte.
Ich hatte noch nie mit Hannah Sommer gesprochen, lediglich im Kunstunterricht wäre es einmal fast zum Kontakt gekommen, weil mir die grüne Wasserfarbe ausgegangen war und sie neben mir saß. Anstatt sie anzusprechen, hatte ich jedoch nur gegluckst wie eine Legehenne beim dicksten Ei ihres Lebens. Spontane Asthmaanfälle kamen bei den meisten Frauen nicht gut an, auch bei Hannah Sommer nicht. Sie setzte sich um, während ich spuckend und röchelnd den halben Tisch mit Wasserfarbe zukleisterte. Das war kein guter Anfang. Ich hatte nicht gerade das Fundament einer keimenden, jungen Liebe gelegt, eher hatte ich wie ein hustender Hefekloß jegliche Möglichkeit zu einem späteren Kontakt aus der Welt gewalzt.
Nun stand sie da, wie ein aus Meerschaum geschnitzter Engel inmitten einer Umgebung aus Durchschnittlichkeit. Ich musste es schaffen, Hannah Sommer sollte statt des verwirrten Asthmatikers den Spitzensportler in mir sehen.
An deutschen Schulen hat man keine Schreckschusspistolen als Startzeichen, nein, in der entmilitarisierten Zone »Sportplatz« gibt es immer einen Streber, der das Holzbrett zusammenklatschen darf. Natürlich war es der Zen-Gärtner Julian Schlender, der Lieblingsschüler von Herrn Schmitz und dessen geheimer Ziehsohn, der diese Aufgabe übernahm. Denn Herr Schmitz liebte das knallende Kommando so sehr, dass er auch beim Weitsprung nicht darauf verzichten wollte.
Ein dumpfes Klatschen hallte über die weite Leere des Sportplatzes und verfing sich in den Ästen von den paar schrumpeligen Bäumen am Rand.
Ich lief los, mit jedem Meter sah ich die weiße Linie des Absprungs näher kommen, bei jedem Schritt schlug mein Kopf zeitverzögert hin und her, ich nahm langsam Geschwindigkeit auf. Ich passierte meine Mitschüler, die wie ein hämischer Gospelchor jeden meiner Schritte im Takt beklatschten, allen, auch mir, war klar, dass jetzt Geschichte geschrieben wurde.
Ich sprang ab, katapultierte mich in ungeahnte Höhen und riss vorschriftsgemäß meine Beine nach oben, um meinen Körper wie ein Blatt Papier in der Mitte zu falten.
Houston, we have a lift off. A fat kid is flying.
Ich schob meinen Kopf der kalten Luft entgegen, winkelte ihn an und sah zwischen meinen Beinen die Landebahn aus Sand dahinziehen. Dann sah ich Schmitz’ überraschte Fratze, mit offenem Mund staunte er, wie weit der Junge, der so lange um seine Gunst gerungen hatte, wirklich springen konnte.
STOP! Warum konnte ich Schmitz überhaupt sehen, er stand doch bei der Absprunglinie, einige Meter hinter mir?
Houston, we have a problem. The fat kid is coming down.
Ich hatte mich in der Luft gedreht, eine unfreiwillige Rolle gemacht und mich wie ein Schlangenmensch verbogen, mein Kopf zeigte gerade nach unten, mein Arsch direkt in den Himmel, als wollte ich blasphemisch Gott grüßen.
Ich schrieb wirklich Geschichte – noch nie hatte sich ein Teilnehmer der Bundesjugendspiele beim Weitsprung so schwer verletzt. Ich landete auf meinem Hinterkopf, rieb einen Abdruck meiner Frisur für die Ewigkeit in den Sand und kam exakt bei der neuen Bestmarke für Siebtklässler zum Stillstand: 4,98 Meter.
»Bestmarke«, murmelte ich, bevor der Schmerz mir völlig die Sinne nahm.
Das Letzte, was ich hörte, bevor ich in Ohnmacht sank, war die Stimme meines Sportlehrers Schmitz:
»Uuuuuuuuuund übertreten«, schrie er.