Jesus in der Pubertät
Die Pubertät traf mich mit der Gewalt einer Kanonenkugel in die Leiste. Plötzlich und unvermittelt setzte meine Reifung ein und verformte meinen gedrungenen Kinderkörper in einen dicken Ast, an dessen Seiten viel zu lange Gliedmaßen hervorschossen.
Da Gott sich wohl entschieden hatte, jede einzelne Plage der Menschwerdung an mir auszuprobieren, bekam ich neben meiner Dicklichkeit, Kurzsichtigkeit und diversen orthopädischen Zivilisationserkrankungen jetzt auch noch Akne. Die Pusteln entstellten mich in einem Maß, dass selbst meine Eltern nur noch mit Mitleid in mein Gesicht schauen konnten. Als hätte ich meinen Kopf auf eine Landmine gehauen, waren Stirn und Wangen über und über mit Pickeln bedeckt. Ich rieb mich mit verschiedenen Tinkturen ein, die meine Mutter bei ihrem Haus- und Hofhomöopathen requirierte, aber das führte nur dazu, dass ich glänzte wie ein frischer Honigschinken aus der Supermarktauslage.
Meine Chancen bei Frauen sanken abermals, in diesem Zustand hatte das andere Geschlecht so viel Zuspruch für meine Avancen, als wäre ich ein buckliger Henker mit Zahnfäule. Erst war ich dauerhaft heiser gewesen, was zwar jegliche Singstimme erfolgreich vernichtet hatte, aber mir wenigstens akustisch die Anmutung eines Erwachsenen verlieh, jetzt kam der Aknefluch. Ein Blick in den Spiegel reichte aus, um mir diese Annahme zu bestätigen: Ich sah immer noch aus wie eine halbgare Brühwurst, meine bleiche Haut überlagerte das Skelett wie ein fleischfarbener Putzlappen, Bartwuchs setzte auch nicht ein.
Eines Morgens wachte ich auf, und meine Gesichtshaut sah aus wie die eines genesungsfernen Patienten für trockene Lepra. »Klingone«, murmelte ich mir selbst zu und war überrascht, wie schnell auch meine Klassenkameraden auf diesen doch relativ kreativen Einfall kamen. Klingonen, die äußerst übellaunige Rasse aus dem Universum des Raumschiffs Enterprise, waren das serientechnische Ebenbild zu den jungen Liberalen: Sie waren schon in frühster Jugend Arschgeigen mit Hautproblemen, und auch später wollte kaum noch jemand etwas mit ihnen zu tun haben. Außerdem haben Klingonen, mit Verlaub, eine Scheide auf der Stirn.
Selbst meine Lehrer kommentierten meine Gesichtskirmes mit einem trockenen Lächeln. Ich war selbst im Vergleich zu den vielen Generationen von verpickelten Zahnspangenträgern, die sie über die Jahre schon bespaßt hatten, noch eine Art Absurdum, eine Sammelstelle für körperliche Fehlerhaftigkeit, die sie jede Woche mit einem neuen Auswuchs überraschte.
Schließlich erklärte mir sogar Onkel Willi, dass die knappe »Vier«, die er meinem Aussehen bisher gegeben hätte, angesichts der massiven Verschlechterung der Umstände nicht zu halten sei. Leider sei ich jetzt bei einer »Fünf«: sexuell versetzungsgefährdet. Das baute mich auf.
Nach ein paar Wochen der öffentlichen Scham entschied ich mich daher für einen Besuch beim Hautarzt, der sich meiner Bitte um Hilfe wegen der Beamtenkrankenkasse meiner Eltern auch sofort annahm.
Schon beim Betreten der Praxis wurde mir meine Ausnahmestellung bewusst, den Sprechstundenhilfen, allesamt Frauen mit einem Hang zur optischen Würdelosigkeit, fiel fast gemeinschaftlich der gemalte Lidstrich von der nussbraunen Stirn.
Unser Haushautarzt Dr. Spiecher betrachtete meine sonderbare Epidermis durch eine absurd große Lupe und lächelte mich dann durch das Vergrößerungsglas an wie ein alter Kugelfisch. »Pubertätsbedingte Akne«, attestierte er und stellte mir ein Rezept aus.
Überraschend. Etwas weniger vorhersehbar als die Diagnose des Doktors war sein Vorschlag zur Behandlung. »Vorsicht, mit dem Medikament ist nicht zu spaßen. Sie dürfen während der täglichen Einnahme weder Alkohol zu sich nehmen noch irgendwelche anderen Betäubungsmittel.«
»Wie lange muss ich das denn nehmen?«, fragte ich zögerlich, und mir schwante schon, dass er jetzt »mehrere Wochen« sagen würde.
»Ach, nur sechs Monate, dann ist der Spuk vorbei«, erwiderte er nüchtern und schob mir das Rezept über den Mahagonitisch.
Sechs Monate? Ich war kurz davor, 16 zu werden, und die einzige Möglichkeit, Partyabende als einsames Dickerchen zu überstehen, war die, dass man sich mit Alkopops zugoss. Anders waren der mich umgebende Frohsinn und die aufkeimende Geschlechtsreife der andern nicht zu ertragen. Ich spielte grundsätzlich nur den Zaungast und gab zwischendurch hin und wieder eine süffisante Bemerkung von mir, die dann von allen erwartungsgemäß ignoriert wurde.
Wenigstens bei meinen Eltern führte mein Klagelied von der ewigen Abstinenz zu viel Heiterkeit. Mein Vater las den dreiseitigen Beipackzettel laut vor und unterstrich mit rotem Textmarker, was er für besonders außergewöhnlich hielt.
»Trockenes Hautbild, Abschuppung, spröde Lippen, Nasenbluten, Harnröhreneffekte …«
»Infekte … es sind Infekte«, korrigierte meine Mutter.
»Ist doch völlig egal«, meinte mein Vater und las weiter aus der endlosen Liste der kleinen und großen Grausamkeiten vor, die mich möglicherweise erwarteten.
Um es gleich vorwegzunehmen, ich bekam sie alle. Nebenbei befahl sich mein Körper, der Liste noch ein paar neue Nebenwirkungen hinzuzufügen, sodass ich nach den ersten Wochen auf Ruraxilin zwar immer noch aussah wie frisch mit dem Mähdrescher gebürstet, dazu aber wenigstens noch unter Verstopfung und Keuchhusten litt.
Die schlimmste Nebenwirkung von allen sollte sich aber erst am Ende meiner Genesungsphase zeigen. Es war an einem Mittwoch in der sechsten Stunde bei Frau Zippert, unserer Religionslehrerin.
Meine Eltern hatten aus mir schon früh einen zweifelnden Agnostiker gemacht, ich glaubte nichts, was ich nicht persönlich gesehen hatte, das galt für den Yeti genauso wie für den lieben Gott oder die Mondlandung. Auch wenn ich aufgrund meiner absurden Dämlichkeit oft nah daran gewesen war, die Existenz meines Schöpfers persönlich zu überprüfen, hatte ich immer knapp genug überlebt, um meinen familiär bedingten Atheismus aufrechterhalten zu können. Trotzdem war ich immer ziemlich gut gewesen in Religion, in der Grundschule ebenso wie auf dem Gymnasium. Vielleicht lag es an der erzchristlichen Orientierung meiner Großeltern mütterlicherseits, die wohl mehrmals während meiner Ferienbesuche versucht haben, mich ohne Wissen meiner Eltern notzutaufen, und die vor dem Schlafengehen immer »Oh Haupt voll Blut und Wunden« sangen, anstatt mir ein Pixiebuch vorzulesen. Der ganze Gottglauben ging mir ab, die Stories vom gierigen Zöllner Zachäus oder dem Erzengel Michael könnte ich aber heute noch im Halbkoma runterleiern.
Meine Religionslehrerin Frau Zippert war ein eigenartig freudloses Wesen, das schlimmer nach Kölnisch Wasser roch als ein Kegelausflug vom Altersheim. Frau Zipperts Alter war wegen ihres sonderbaren Kleidungsstils, der irgendwo zwischen Miss Marple und Uschi Blum schwankte, schwer zu schätzen. Ich denke, sie war zwischen 20 und 70 Jahren alt. Frau Zipperts Mimik saß straffer als das Toupet von Elton John, unter den Schülern machte das Gerücht die Runde, sie würde sich, wenn sie mal lachen wollte, in ein eigens gegrabenes Loch im Keller legen und dann spöttisch husten. Ihre braunen Haare standen trotz akkurater Trimmung immer von ihrem bleichen Schädel ab, es wirkte ein wenig, als wäre eine Katze auf ihrem Kopf verstorben und festgewachsen.
Seit Frau Zippert bei einem Klassenausflug mal einen Schüler, der laut »Scheiiiiße« rief, ermahnt hatte, das »braune Wort« nicht zu sagen, nahm sie eh keiner mehr ernst. Das braune Wort. Pffft. Außerdem hatte Frau Zippert eine Angewohnheit, die ihre Nähe für die meisten Menschen zu einer wahren Belastungsprobe machte. Sie atmete laut, sehr laut. Die kleine, schmale Frau Zippert schnaufte mit jedem Atemzug wie ein Mastochse, der versuchte, eine Kokosnuss zu kacken. Woher diese Eigenschaft kam, war allen ein Rätsel, vielleicht war Frau Zipperts respiratives Gewaltschnaufen der unbewusste Ausdruck einer unterschwelligen Frustration, die sich über die Jahre ihres ereignislosen Daseins auf diesem Planeten angestaut hatte. Vielleicht hatte sie als Kind auch einfach mal versucht, sich eine Madonnenstatue in die Nase zu stecken. So oder so, Frau Zippert röhrte bei jedem Atemzug den halben Klassenraum zusammen, und manchmal, wenn sie grunzend wie ein Hammerwerfer die Luft einsog, sah ich ein paar Mädchen in der ersten Reihe ängstlich ihre Schreibblöcke festhalten. Frau Zippert mochte mich, denn im Gegensatz zum Rest meiner Mitschüler, für die Jesus und das Alte Testament ungefähr so interessant waren, wie ein zweistündiger Film über Chlorbleiche von Toilettenpapier, zeigte ich wahres Interesse am Unterrichtsstoff, arbeitete aktiv mit und durfte, da ich nun einmal der einzige Motor des Unterrichts war, trotz meiner Konfessionslosigkeit teilnehmen. An diesem Mittwoch in der sechsten Stunde nun stellte ich Frau Zipperts restliche Zurechnungsfähigkeit auf eine harte Probe. Nach Monaten als Kirschstreusel hatte ich endlich wieder die Züge eines Menschen angenommen. Die Rückgabe einer Klausur war geplant, und ich hatte ein ungewöhnlich gutes Bauchgefühl. Das gleichmäßige Schnaufen von Frau Zippert drang durchs Klassenzimmer, während sie mit gespitztem Mund die Reihen abschritt und einem Schüler nach dem anderen sein persönliches Urteil offenbarte. In den meisten Fällen war es vernichtend, Thomas Moorenbecker hatte in seiner Klausur besonders eindrücklich die Rolle von Martin Luther King bei der Bekämpfung der Ablasspraxis in der katholischen Kirche betont, ein anderer hatte den Sohn Gottes »Juzus« genannt.
Frau Zippert legte die vernichtenden Klausuren regungslos hin, in dem Fernsehtestbild ihrer Seele konnte ein schlechter Klausurdurchschnitt schon lange keinen Tornado mehr entfachen. Als sie vor mir stand, sah sie auf meine Klausur, nickte einmal wohlwollend und legte mir eine glatte Eins hin. Plötzlich veränderte sich die Starre ihres Gesichts, ihre geraden Mundwinkel verbogen sich abwärts, und über ihre faltige Stirn fiel eine Furche, die wie eine endlose Arschritze aussah. Ihre Pupillen fingen an zu zittern, ihr verdorrter Leib geriet in eine unaufhörliche Schwingung. Ich drehte mich um und schaute, ob vielleicht der Klassenraum in Flammen stand. Doch alles war in Ordnung. Dann merkte ich, dass auch die anderen Schüler mich mit größter Skepsis anstarrten. Ein dunkelroter Tropfen rann auf meiner Nase herab und platschte auf die vor mir liegende Klausur. Auf meiner Stirn prangte tatsächlich ein daumengroßes Loch, von dem aus sich eine Blutspur quer über mein Gesicht zog. Frau Zippert sah mich völlig gebannt an, dann bekreuzigte sie sich und rieb an dem kleinen Silberkruzifix, das sie immer bei sich trug.
Entgegen Frau Zipperts erster Vermutung, waren aber weder der Teufel noch Juzus oder der Heilige Geist in mich gefahren, nein, mein Stigma war vielmehr die finale Nebenwirkung von Ruraxilin. Spontane Blutungen der oberen Hautschichten. Ich erinnerte mich, wie mein Vater die Nebenwirkung rot unterstrichen hatte.
Frau Zippert starrte mich immer noch an. Anstatt sich allerdings auf mich zu stürzen und mir den Teufel auszutreiben, bewegte sie sich geräuschlos rückwärts, schüttelte mechanisch den Kopf und verließ, immer noch mir zugewandt, den Klassenraum. Es war das letzte Mal, dass ich Frau Zippert gesehen habe, sie ließ sich berufsunfähig schreiben und wurde später an eine neue Schule versetzt. Die anderen Schüler waren seit diesem Vorfall zwar immer noch nicht meine Freunde, ich genoss aber die nächsten Jahre das Ansehen, ganz im Alleingang eine Lehrerin von der Schule vertrieben zu haben. Eine durchaus positive Nebenwirkung von Ruraxilin.