Ground Control to Major Thomacz

Als wir nach mehreren Stunden endlich auf die Gangway gelassen wurden, waren wir schon zu müde, um uns darüber zu sorgen, warum die Mechaniker, die an den Propellern herumschraubten, so lautstark fluchten.

Das Innere des Flugzeugs empfing uns in der Gestalt einer Messe für moderne Wohnungseinrichtung aus dem Jahr 1972. Das gesamte Innere war braun, die Sitze, die Wände, der Boden, selbst die Uniformen der Stewardessen orientierten sich an dieser Farbwelt. Es sah aus, als hätte ein Riese das Flugzeuginnere als Latrine benutzt.

 

Sergej klopfte an die Decke des Innenraums und nuschelte etwas dazu, dann lachte er und hustete. Mein Vater verstand ihn anscheinend nicht und zog als Antwort nur die Augenbrauen hoch. Vielleicht verstand er ihn ja doch, sein Gesichtsausdruck nahm jedenfalls an Besorgtheit zu.

Die anderen Fluggäste rekrutierten sich größtenteils aus russischen Familien, einem orthodoxen Priester, der ein wenig wie der Weihnachtsmann des Ku-Klux-Klans aussah, und einigen älteren Frauen, die sich schon beim Betreten des Flugzeugs unablässig bekreuzigten. Wir waren weithin als die einzigen Touristen erkennbar, auch wenn wir keine knatschgelben Schwimmreifen und Sonnenschirme bei uns trugen.

Undeutlich tönte die Begrüßung des Kapitäns durch die kleinen Bordlautsprecher, zu verstehen waren nur die Worte »Dusseldoof« und »Rostow«, der Rest ging im Lärm der anspringenden Propeller unter oder war schlicht deshalb nicht zu nachzuvollziehen, weil der Mann nur russisch sprach. Es war wohl nicht nötig, eine englische Begrüßung anzubieten, der Überschuss an russischen Muttersprachlern war eindeutig. Die Stewardessen trugen als Farbklecks passend zu ihren braunen Kostümen kleine rote Mützen, die wie gefaltete Servietten aussahen. Zu meiner Überraschung waren diese Frauen alle von ausnehmender Schönheit – hatte man vielleicht die russische Garde von »Victoria’s Secret« in die Reste der altkommunistischen Bekleidungsindustrie gesteckt?

Neben uns nahmen zwei dicke Mütterchen Platz, das graue Haar stilecht zum Dutt gebunden. Beide schwangen sie ihren Rosenkranz wie eine Peitsche ums Handgelenk und lugten dabei immer wieder zu dem orthodoxen Priester hinüber, ob dieser ihre offensichtliche Frömmigkeit auch gebührend wahrnahm.

Als mein Vater seinen zugewiesenen Platz gefunden hatte, die Sitze waren nur in kyrillischer Schrift gekennzeichnet, stellte er umgehend fest, dass er sechs Reihen hinter meiner Mutter und mir platziert worden war. Als er sich setzte, gab das »Musterbeispiel sowjetischer Ingenieurskunst« mit einem lauten Knarzen nach. Der Sitz brach unter seinem Hintern einfach entzwei, die Rückenlehne klappte nach hinten und fiel samt dem Kopf meines Vaters auf den Schoß eines dicken Mannes mit Schnurrbart, der gerade stöhnend im Bordkatalog stöberte. Dann knarzte es ein zweites Mal, und eine gelbe Rettungsweste drückte sich unter dem Sitz und dem weiter absackenden Hintern meines Vaters hervor. Es sah aus, als würde er das Equipment zur Notwasserung gebären. Erschrocken sprang unser Mister Völkerverständigung vom Schoß des dicken Mannes und wurde sogleich von einem stoisch dreinblickenden Flugzeugmodel zu einem neuen Sitz geführt, diesmal direkt hinter uns. Sergej wandte sich um und sagte das erste und einzige Mal auf der Reise etwas, das ich verstand: »Hahaha … Robert Schlappstick … hahaha!«

Dann lachte er und klatschte in seine Schaufelbaggerhände.

 

Um die Flugzeit zu überbrücken, zeigte das Bordkino eine russische Daily Soap. Die Schauspieler waren sogar schlecht, wenn man kein Wort verstand, alle agierten so überzogen, als würde am Set als Ersatz für das im Westen übliche Catering nur gemeinsam an der Klebstofftube geschnüffelt. Was ich trotz der fehlenden Übersetzung eruieren konnte, war, dass es sich um eine Art »Dallas« auf Russisch handelte, es ging wohl ums Ölgeschäft, und die Sendung hatte sogar einen Verschnitt von J. R. Ewing zu bieten. Im Gegensatz zu Larry Hagman war dieser Ölmogul allerdings zahnlos, und er äußerte sich ausschließlich durch ein diabolisches Lachen, das immer wieder blitzartig in die Dialoge der anderen Schauspieler zwischengeschnitten wurde. Er sah ein wenig wie eine Mischung aus Ulrich Wickert und Saddam Hussein aus. Beängstigend.

Die gezeigte Szene spielte sich in etwa so ab: Bemerkenswert schöne Frau mit schlechten Zähnen tritt durch eine Tür, die offensichtlich aus bemaltem Styropor besteht. Dahinter sitzt ein Mann mit Cowboyhut, braun gebrannt, auch schlechte Zähne.

Sie sagt etwas, das hier nur phonetisch wiedergegeben werden kann.

Frau: »Umoro hredsch myljama dor!«

Frau fängt an zu heulen. Spielt schlecht.

Muskulöser Mann mit Cowboyhut steht auf und nimmt sie in den Arm. Spielt noch schlechter.

Mann: »Glagolet durak slebesch dorikint …«

Bevor der Mann zu Ende sprechen kann, wird Saddam Wickert hineingeschnitten, hinter ihm brennt ein Feuer und er lacht teuflisch, es fehlt eigentlich nur, dass er einen Hundewelpen stranguliert. Frau sagt noch mal etwas, was sich nicht einmal phonetisch wiedergeben lässt. Cowboy lacht.

Szene Ende.

 

Sergej zeigte auf den bierdeckelgroßen Fernseher und lachte. Eigenartiger Humor. Mein Vater lachte auch, er hatte nichts verstanden, aber sah wohl eine Chance zur Völkerverständigung.

Diese Serie brachte fast meine Augäpfel zum Bluten, genervt machte ich Kaugummiblasen, die am Punkt ihrer maximalen Ausdehnung zerplatzten. Ähnlich wie der dicke Mann, auf dessen Schoß mein Vater kurz vorher gelandet war. Er hatte mittlerweile das Bordrestaurant leer gekauft und biss gerade genüsslich in ein Brötchen, das mit einer gelben Paste gefüllt war, die zu den Seiten herausschoss.

Sergej bestellte für uns alle Krimsekt. Die Flasche wurde direkt an unserer Sitzreihe geöffnet, der Korken löste sich mit einem müden »Pfff« vom Flaschenhals und die drei Reihen direkt hinter uns begannen zu klatschen. Ich bekam auch ein Glas gereicht, mein Vater versuchte, mir die Puffbrause wieder wegzunehmen, doch Sergej drückte seine Hand zur Seite und hob drohend den Zeigefinger. Langsam begann ich ihn zu mögen. Meine Mutter stürzte den Sekt herunter, aus ihrer alltäglichen Nervosität war ein fatalistischer Chor der totalen Verzweiflung geworden, und der Sekt legte eine warme Decke der Sorglosigkeit über ihre angespannten Schultern.

Es war Essenszeit. Serviert wurden zwei Gerichte. Hähnchen und Leber. Meine Eltern bestellten einvernehmlich Hähnchen, ich verzichtete, weil ich seit ganzen zwei Wochen überzeugter Vegetarier war. Mein Vater deutete auf mich und wiederholte mehrmals »kein Fleisch« auf Russisch. Die Stewardess stellte mir ein Tablett mit gekochter Leber hin und sagte, der Übersetzung meines Vaters zufolge:

»Ist kein Fleisch, ist Eingeweide.«

Ich musste fast brechen. Um die gute Stimmung nicht völlig zu killen, würgte mein Vater unter den wachenden Blicken Sergejs die ganze Portion Leber wie ein Reiher herunter.

Auch sein eigenes Essen entpuppte sich als Herausforderung. Sein Hähnchen war mit Nelken gespickt, der wanstige Vogelleib wirkte wie eine pickelige Handgranate, die bei der Detonation wahrscheinlich das halbe Flugzeuginnere in einen feinen Fettfilm gehüllt hätte.

 

Plötzlich wurde das ganze Flugzeug von einem Ruckeln erfasst, die Hühnergranaten fielen fast vom Teller, auf den Bildschirmen setzte zur Beruhigung ein Film über Delfine ein, die fröhlich aus dem Wasser sprangen. Delfine? Der Pilot schnurrte etwas aus dem Lautsprecher, da ich kein Russisch verstand, vermutete ich, dass er sagte: »Da wir alle dem unausweichlichen Tod entgegenrasen, wollen wir Sie in den letzten Sekunden vor dem Aufschlag noch ein wenig mit heiteren Meeressäugern unterhalten. Sehen Sie mal, wie die Delfine springen, toll!« Die beiden alten Frauen zu unserer Linken begannen ihre Rosenkränze wie Kettensägenblätter über die Handrücken schleifen zu lassen. Hardcorebeting. Das Licht fiel zeitweise aus, und zum Glück lachte uns von den Fernsehern nicht mehr der diabolische Saddam Wickert an, denn vermutlich wäre das selbst für das ruhige Gemüt meines Vaters eine Prise Apokalypse zu viel gewesen.

Geistesgegenwärtig wollte er die einsetzende Missstimmung durch ein paar Informationen auflockern, das funktionierte auf Klassenfahrten schließlich auch. Er klopfte mir auf die Schulter und sagte: »Das dort ist eine Gebetsschnur, das russisch-orthodoxe Äquivalent zum Rosenkranz, schau mal da, Bastian.«

Aufgrund des fallenden Gemütspegels meiner Umgebung spürte auch ich langsam ein kleines Unwohlsein und suchte den Blick meiner Mutter. Sie schaute mich ganz ruhig an und sagte mit samtiger Stimme: »Alles in Ordnung, mein Schatz, spiel ruhig weiter.«

Ich vertiefte mich in meinen Gameboy und bekam fast nicht mit, wie der linke Propeller aussetzte, was Sergej mit einer Wiederholung seiner Guillotinengeste quittierte. Er sah aus, als wollte er das Triebwerk zum Anspringen bringen, indem er immer stärker und schneller in seine Handfläche schlug. Als das nicht funktionierte, zog er seinen Sitzgurt fester.

Die meisten hätten wohl Todesangst gehabt, ich verließ mich einzig und allein auf die stille Ruhe meiner Mutter, die immer noch wie ein Obelisk auf ihrem Sitz ausharrte und so tat, als würde sie über das Fernsehprogramm lachen.

Die alten Frauen falteten die Hände, der orthodoxe Priester brüllte irgendwelche unverständlichen Beschwörungsformeln, und der Servierwagen schoss in Höchstgeschwindigkeit an unserer Sitzreihe vorbei. Die Zeit schien stillzustehen, das wild umherwackelnde Flugzeug beschrieb eine enge Linkskurve und fing sich dann plötzlich. Auf einmal herrschte Stille. Der Sturm war vorbei, das »Musterbeispiel sowjetischer Ingenieurskunst« setzte fast lautlos zum Landeanflug auf den Flughafen Rostow an.

Als wir aufsetzten, brandete eine Welle aus Beifall und Jubelschreien durch die uralten Flugzeuginnereien, wir waren dem kalten Griff der Katastrophe noch einmal entschlüpft. Selbst die Stewardessen, deren betoniertes Lächeln ebenso stramm angelegen hatte wie ihre hautengen Kostüme, erlaubten sich ein Seufzen.

Meine Mutter nahm in aller Ruhe ihre Jacke aus dem Handgepäckfach, reichte mir meinen Rucksack und verließ dann in Tiefenentspannung die Tupolew. Das ist vielleicht meine prägnanteste Erinnerung an die Liebe meiner Mutter, ein Gedächtnisdestillat, das mir von dieser Situation geblieben ist. Als wir auf die Gangway stiegen, fiel sie nämlich plötzlich auf die Knie, und die Maske der Ruhe, die sie für mich aufgesetzt hatte, zerbrach in einem Sekundenbruchteil. Die Tränen der Erleichterung schossen aus ihren Augen. Erst da wurde mir, der ich immer noch gebannt meinen Gameboy umklammert hielt, klar, wie viel Überwindung es sie gekostet haben musste, mir das Gefühl zu geben, alles sei in Ordnung, während unsere Maschine wie ein Sonnenstrahl dem Erdboden entgegenraste. Nach ein paar Minuten, selbst mein Vater war von dem Gefühlsausbruch meiner Mutter überrascht und schloss sie in die Arme, hatte sie sich wieder gefangen und unsere lehrreichen vierzehn Tage in der Fremdheit der russischen Pampa konnten beginnen.

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