Appell zur Erbsensuppe
Ich riss die Tür zu unserem Haus auf, meine Eltern saßen am Küchentisch und löffelten Erbsensuppe. Es herrschte meditatives Schweigen, beide schauten auf ihre Teller, als würde die Mettwurst zu ihnen sprechen. Dazu tickte die Wanduhr ein nüchternes Klacken in die Leere des Raums. Der Einzige, der mich freudig begrüßte, war der Hund, und das war keine sonderlich große Ehre, denn er war dumm wie dreißig Kilo Esspapier und freute sich schon, wenn ein Ast vom Baum fiel.
Ich brüllte völlig außer mir: »Eins! Ich habe eine Eins!«
Mein Vater führte eine Ladung Erbsensuppe zum Mund und murmelte ein spektakulär gelangweiltes »Aha«.
Normalerweise wäre das schon genug der Ehre gewesen, dass er seine Aufmerksamkeit vom Projekt »Suppe« zu mir hin verlagerte, doch diesmal beugte ich mich seinem Diktat der liebevollen Ignoranz nicht. Ich hatte gerade vor einem Gremium aus bärtigen Biologielehrern mein mündliches Abitur abgelegt, man hatte mich für meine Kenntnisse über arktische Tölpelkolonien mit der Bestnote ausgezeichnet und damit meine bisher eher mittelprächtige Abiturnote deutlich veredelt.
»Tölpel sind dickliche, flugfähige Vögel, die sich zu Tausenden zusammenrotten und den ganzen Tag nur fressen, kacken und sich streiten, ganz ähnlich wie die meisten Schüler.«
Mit dem Witz hatte ich die Biologielehrer überzeugen können, meine Eltern eher weniger.
Meine Mutter hustete ein paar Erbsen über den Teller, ihre schwarze Mireille-Mathieu-Frisur flatterte vor ihr Gesicht und verschob ihre Lesebrille. Oder eher ihre beiden Lesebrillen, denn sie trug zwei billige Gestelle aus dem Supermarkt übereinander, anstatt sich endlich ein anständiges Modell beim Optiker zu kaufen. Der Modestil meiner Mutter war eine seltsame Mischung aus Star Trek und Mittelstandsgeiz.
Sie fragte genervt: »Und worum ging’s?«
Ich erzählte von den Tölpeln und brachte sogar den Spruch, den ich bis zu diesem Moment noch für witzig gehalten hatte.
Mein Vater sagte nur nüchtern: »Gut.«
Ich überlegte, ob meine Eltern sich womöglich ein Gehirn teilten, da meine Mutter wie immer dort begann, wo mein Vater gerade aufgehört hatte.
»Gut, na ja, aber du kannst ja nichts dafür, das sind die Gene.«
Ich kannte diese Erklärung, immer wenn mir etwas gelungen war, machten meine Eltern die Gene dafür verantwortlich, ein Erklärungsmuster, das jede Eigenleistung im Keim erstickte und in diesem Fall darauf hinauslief, dass eigentlich sie gerade eine »Eins« im mündlichen Abitur gemacht hatten.
Ich reagierte etwas angespannt, mein Gesicht verzog sich, als wäre eine Straßenbahn über meinen Fuß gefahren. Ein kleiner, feuchter See aus glibbrigen Tränen legte sich vor meine Sicht.
»Ey, das kann doch nicht wahr sein, ich reiß mir da den Arsch auf und das ist der Dank?«
Mein Vater schaute von der Erbensuppe auf und konstatierte nüchtern: »›Ey‹ ist kein deutsches Wort, so reden wir hier nicht, Bastian. Und mit Fäkalbegriffen wie Arsch musst du gar nicht erst vortreten.«
Vortreten, dachte ich. »Was ist das hier, mein Appell zur Erbsensuppe?«
»Eine derartige Ausdrucksweise liegt sicher nicht in deinen Genen, Bastian«, vervollständigte meine Mutter.
»Toll, ein Schnellkurs Erblehre, danke Frau Mendel!«, brüllte ich den ausdruckslosen Gesichtern meiner Eltern entgegen. Keine Reaktion, das Thema war abgehakt, sie hatten die Situation bewertet, korrigiert und nüchtern beurteilt. So machte man das eben.
Mein Vater hatte bereits wieder geistigen Funkkontakt zu der Mettwurst vor ihm aufgenommen, meine Mutter hyperventilierte noch ein wenig wegen meiner Ausdrucksweise.
Das Gespräch war beendet, meine Eltern hatten ihren Teil dazu beigetragen, und nur ich würgte noch ein bisschen verzweifelten Kindertrotz über den Küchentisch. Mein Vater vergrub den Kopf in einer rot umrahmten »Spiegel«-Sonderausgabe über den elften September und murmelte leise: »Ruhe jetzt!«
Ich rannte heulend aus der Tür wie eine siebenjährige Ballettschülerin und regte mich den ganzen Tag über nicht wieder ab. Ich kannte das, seitdem ich klein war: Wenn ich etwas richtig gemacht hatte, dann bloß, weil meine Eltern mir die entsprechenden Fähigkeiten vererbt hatten, und wenn etwas richtig schiefging, wie meine denkwürdigen Auftritte bei den Bundesjugendspielen, dann waren sie garantiert nirgends zu sehen.
Solange ich mich erinnern kann, waren meine Eltern immer gleich, sie haben sich nie verändert und werden wohl auch mit neunzig noch den roten Korrekturfineliner für mein Leben dabeihaben. Sie können nicht anders, es liegt in ihren Genen, sie gehören einer menschlichen Splittergruppe an, die ihre Kinder schon von Berufs wegen zu lebenslangem Versagen zwingt. Meine Eltern sind Lehrer.
Mein Vater blickte von seiner Erbsensuppe hoch und sah, dass ich zornig vor dem Kühlschrank stand. Er lächelte meine Mutter an und begann zu kichern: »Das war lustig«, sagte er, und auch meine Mutter musste lachen. Dann gaben sie sich einen High Five und löffelten weiter ihre Suppe. Unter dem Tisch ließ der Hund leise einen fahren.