Eine Nacht mit Sören Malte
Der Abend endete wie erwartet. Mein Vater und Wilfried bastelten die abstrusesten Wortkonstruktionen und am Ende unterlag Wilfried mit seinem »Hypothenusenabschnitt« klar meinem Vater, der stolz »Morphemanalysetechnik« legte und den Jackpot einsackte. Ich hatte erfolgreich das Wort »H-A-U-S« gelegt, worauf mein Vater begann, mich den Rest des Abends den »Germanisten« zu nennen.
Ich hatte meine finanzielle Notlage immer noch nicht wirklich zur Sprache gebracht, aber ich nahm mir vor, meine Eltern am nächsten Morgen beim Frühstück um Geld zu bitten.
Die kurze Zeitreise in meine Kindheit fühlte sich an wie eine eigenartige Mischung aus Nostalgie und Fremdheit, vieles war gleich geblieben, aber ich hatte mich verändert. Ich war erwachsen geworden, und keinem der anderen Beteiligten fiel dieser Umstand auch nur auf. Mein Vater korrigierte immer noch meine Satzfehlstellungen, meine Mutter fuhr mir einmal mit einem angesabberten Taschentuch durchs Gesicht, weil sie dort eine Andeutung von Bierschaum vermutete. Wilfried erzählte seiner Frau angeregt, wie er früher immer auf mich aufgepasst und meine vollen Windeln auf dem Spielplatz vergraben hatte, bis die anderen Eltern das Ordnungsamt riefen.
Dass Kinder für ihre Eltern immer Kinder bleiben, ist eine alte Weisheit. Dass sie bei Lehrereltern aber auch immer Schüler bleiben, merkte ich spätestens, als mein Vater mir nach dem Scrabble das glasklare Zeugnis intellektueller Minderbemittlung ausstellte, indem er mir vorwarf, ich hätte seinen Witz über Schiller und Goethe nicht verstanden und nur aus Höflichkeit gelacht. Und was eine »Morphemanalysetechnik« sei, wisse ich schon mal gar nicht.
Ich war zu müde, um ihm zu erklären, dass ich mein ganzes Lehramtsstudium eigentlich nichts anderes getan hatte, als Morpheme zu analysieren, und wackelte angetrunken und genervt in mein Zimmer, in dem zwei ausgesprochen große Hunde bereits die Nachtruhe auf meiner Schlafcouch angetreten hatten.
Erst überlegte ich, mich in Embryonalstellung zwischen sie zu legen, dann sah ich, dass meine Mutter mir zur Abendlektüre etwas auf den Schreibtisch gelegt hatte. Sören Malte lächelte mir siegessicher zu.
Ich las in dieser Nacht »In 10 Schritten zum Erfolg – Wie ich ein Gewinner werde«, und es veränderte mein Leben. Nicht weil ich diesem Knigge für Egoisten auch nur einen einzigen sinnvollen Ratschlag entnommen hätte, sondern weil es mich auf eine Idee brachte. Als meine Mutter mich am nächsten Morgen zum Frühstück holen wollte, war ich nicht mehr da. Nur Adenauer und Adorno saßen auf der Couch und stritten sich um die zerfetzten Reste von Sören Maltes Buch. Auf dem Tisch lag ein Brief von mir.