The Drugs Don’t Work

Einer der Kollegen meines Vaters hieß Wilfried, er unterrichtete Mathematik und Physik. Diese Fächer waren die einzigen Gebiete in Wilfrieds Leben, in denen er so etwas wie Souveränität besaß, in allem anderen war er einfach grandios gescheitert. Beziehungen zu Frauen ergaben sich meist gar nicht oder endeten mit einer Unterlassungsklage, Freundschaften pflegte er aufgrund seines Verfolgungswahns und seiner Neurosen ebenso wenig wie sich selbst, denn sein Anblick erweckte immer den Anschein, als sei er gerade einer Rehaklinik oder der Geschlossenen entflohen. Er wankte somnambul mit Dreitagebart, Adiletten und im Bademantel durch die Schulflure und schien tatsächlich seinen Pfleger zu suchen.

Wenn Wilfried in den Park zum Entenfüttern ging, dann fütterten die Enten ihn und nicht umgekehrt. Dabei war Wilfried hochintelligent, vielleicht sogar ein Genie, er multiplizierte zehnstellige Zahlen im Kopf und löste zu seiner Unterhaltung schwerste Gleichungen. Leider waren all diese Eigenschaften nicht gerade dazu geeignet, Schulklassen voller unwilliger Pubertisten zu beglücken, geschweige denn eine Frau kennenzulernen, die nicht ganztägig mit gefesselten Händen ihren Kopf gegen die Zellentür schlug.

Wilfried war für mich »Onkel Willi«, ein unfreiwilliger Rückzugspunkt in meiner kindlichen Welt aus Schallplattenbörsen und Bücherflohmärkten. Ich war gern bei ihm, weil kaum jemand so empfänglich für die Phantasien eines Fünfjährigen war wie er. Zum einen lag es wohl an seinen eigenen Wahnvorstellungen, die sich ganz gut mit meinem infantilen Ideenreichtum vertrugen, zum anderen war Wilfried wahnsinnig leichtgläubig, und kaum etwas mögen Kinder mehr, als wenn jede noch so ersponnene Geschichte mit väterlichem Ernst aufgenommen wird. Da Onkel Willis Leben aus kaum mehr als dem Beobachten seiner heimischen Gartenzwerge bestand, war er eigentlich immer zu Hause.

Mein Vater nutzte diesen Umstand und lud mich regelmäßig bei Onkel Willi ab, der mich dann durch das Erdgeschossfenster in seine Wohnung hob. Onkel Willi verließ das Haus seit einiger Zeit nur noch über sein Wohnzimmerfenster, er traute der Wohnungstür nicht mehr, und sein Argwohn, die Welt habe sich gegen ihn zu einem Komplott verschworen, wuchs mit jedem Tag. Ebenso vermutete er, dass die Gartenzwerge seiner Nachbarin, die er die »hämischen Boten des Teufels« nannte, ein Attentat auf ihn vorbereiteten. Als Kind findet man so etwas noch lustig, als Schulamt weniger – daher war Wilfried seit geraumer Zeit »vom Schuldienst freigestellt«.

Mit meinen fünf Jahren wusste ich jedoch nicht einmal, was »Attentat« bedeutete, es schien jedoch etwas Schlechtes zu sein, anders konnte ich mir nicht erklären, dass Onkel Willi manchmal stundenlang mit einem kleinen Opernglas bewaffnet auf dem Fenstersims hockte und in den Nachbarsgarten spähte, ob dort womöglich eine Veränderung zu bemerken war. Eigentlich waren die fröhlichen roten Mützenträger die ganze Zeit unverändert, sie standen einfach nur da, winkten, schoben eine Schubkarre vor sich her oder harkten statisch im Garten herum. Doch in Onkel Willis Kopf war all dies nur ein riesiger Mummenschanz, eine Scharade, um ihn und mich zu täuschen und eines Tages, wenn wir einmal nicht wachsam waren, einfach die Wohnung zu stürmen und über uns herzufallen. In seinem Kopf verquirlte sich eine Menge religiöser Aberglauben mit gediegenem Irrsinn und Wahn zu einer unheilvollen Mischung, die ihn zu einer Art Schiffbrüchigem machte, der in der dunkelgrauen Großstadt unbemerkt von dem Rest der Menschheit immer verrückter wurde. All dies hat dazu geführt, dass ich bis heute ein gewisses Unwohlsein beim Beschauen von Gartenzwergen hege, allerdings hat Wilfried den Erfahrungsschatz an Kuriositäten meiner Kindheit sicherlich auch sehr bereichert.

Des Weiteren war Onkel Willi ein unglaublicher Erbsenzähler, seine Leidenschaft für hohe Zahlen hatte ihn wohl zur maximalen Sparsamkeit verdammt. Er verdiente als verbeamteter Lehrer im Krankenstand zwar trotzdem nicht schlecht, bunkerte jedoch jeden Pfennig in seiner Wohnung. Er ließ sich jeden Monat sein Gehalt in Form von Münzrollen auszahlen, er besaß nicht mal ein Girokonto, da er den Banken, ebenso wie dem Rest der Welt, misstraute. Diese Zehnpfennig-Münzrollen schleppte er dann kistenweise nach Hause, stapelte sie dort und nummerierte sie nach Eingangsdatum und Verdiensthöhe, so als würde das Geld eines Tages schimmeln, wenn man die Mindesthaltbarkeit nicht beachtete. Er war wohl rein quantitativ der wohlhabendste Mann Gelsenkirchens, in den unzähligen Kisten müssen sich Millionen Zehnpfennigmünzen befunden haben. Wahrscheinlich musste die Zentralbank für seinen Bedarf irgendwann nachprägen lassen, da er das Geld, sofern er es einmal in einer der Kisten verstaut hatte, ja nie wieder hervorholte. Wilfried gab eigentlich nie Geld aus, seine Wohnung wurde weiterhin von seinen Eltern bezahlt, die irgendwo in einem kleinen Häuschen, das sich in die weite Leere des Münsterlands verirrt hatte, ein trostloses Dasein fristeten. Sie konnten ihren Sohn schon länger nicht mehr besuchen, weil sie zu alt waren, um durch das Wohnzimmerfenster zu klettern. Und so war nicht selten ich, ein Junge im Grundschulalter, Wilfrieds einzige Gesellschaft in seiner Welt aus Münzkisten und Attentatsplänen.

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