Der Rachehoden
Mittwochmorgen, Viertel vor acht, die Schulglocke tönte den müden Legionen von Kindern entgegen, die sich durch das kalte Novemberwetter geschlagen hatten. Es war noch stockdunkel, in der Luft lag ein eisiger Wind, der den baldigen Schnee ankündigte, bisher jedoch nur halb gefrorenen Regen herantrug.
Ich stand vor der Schule. Meine Jacke war längst durchnässt, an meiner blauen Jeans bildete sich ein kaltes Rinnsal, das Wasser floss langsam in meine Schuhe. Ich wartete auf das personifizierte Böse, meine Nemesis, meinen Lex Luthor, den Jungen, der jeden Tag der letzten Monate zum Kreuzweg für mich gemacht hatte und der die paar mickrigen Überreste sozialer Akzeptanz, die ich bei meinem Mitschülern noch genoss, mit Witzen und Beleidigungen zerschlagen hatte. Michael Robenzek.
Eigentlich war Michael Robenzek nur ein kleiner Junge in kurzen Hosen, doch jedes Detail an ihm war schon jetzt so offensichtlich makellos, dass man den zukünftigen Schulschönling, Klassensprecher, Medienagenturleiter ohne Probleme erkennen konnte. Sein Körper war straff und athletisch, seine Zähne gerade und weiß und sein Gesicht zu einem Grad raubvogelhaft, dass es gerade noch schön war.
Robenzek war ein durchtrainierter, zäher Fiesling, ich dagegen eine schwammige Masse geballter Selbstunsicherheit. Ich wiederholte gebetsmühlenartig in meinem Kopf: »Mit linker Faust antäuschen, dann mit rechter Faust durchziehen und ihn voll treffen.« Gleichzeitig spannte ich meinen Körper bis zum Maximum an und ignorierte, dass sich vom Regen in meiner Leistengegend ein nasser Fleck bildete, der ein wenig wie Selbstbeschmutzung aussah. Schon wieder.
Dann kam Robenzek, umringt von einer Reihe ergebener Gefolgsleute, die sich über seine Witze amüsierten und ihn um seinen Hochmut beneideten. Er sah mich, sein Blick verfinsterte sich, ein spöttischer Schatten legte sich über sein Gesicht, und er spitzte den Mund zu seiner allmorgendlichen Beleidigungstirade.
»Na, Knacki, heute schon …«, kurz bevor er mir noch einmal den Namen meines verstorbenen Meerschweinchens geben konnte, trat ich einen Schritt vor. Ich hörte in meinem Kopf das Mantra meiner Kampfbewegungen ablaufen, »Erst mit der Linken antäuschen, dann mit der Rechten voll zu einem zentralen Schlag durchziehen, genau auf die Nase«, und ich sammelte mich zum finalen Angriff.
Dann trat ich Michael Robenzek schreiend in den Sack.
Plan gescheitert.
Der spöttische Schatten seines Gesichts wich einem blauen Muster, das stirnabwärts Richtung Hals wanderte. Seine Augen verdrehten sich, einen kurzen Moment schielte er mich heiter an, bevor sich langsam seine Zunge durch seine Zähne schob und ihm Tränen in die Augen schossen. In Zeitlupe klatschte er vor mir auf den bunt bemalten Schulhofboden und blieb genau auf dem Ende einer fröhlich grinsenden Comicschlange liegen.
Ich stand da wie der Rächer der Enterbten, und wer behauptet, Rache sei ein schäbiges Gefühl, der hat noch nie seinen Feind zum Schielen gebracht.
Wenige Minuten später saß ich im Lehrerzimmer, Regenwasser tropfte von meiner nassen Hose auf den Linoleumboden, und unser Sportlehrer Herr Schmitz beäugte mich mit so kritischer Miene, als wäre ich ein adipöser Bademeister, der sich gerade als Unterwäschemodel bewarb. Ausgerechnet er hatte mich aufgegriffen, als ich stolz vor dem kleinen, blauen Schmerzbündel Robenzek stand und ungläubig auf ihn herabsah. Im Rahmen einer ersten pädagogischen Maßnahme wurde ich nun im Lehrerzimmer zwischengelagert.
Der staubige Muff von asbestverseuchten Böden legte sich in meine Nase, es roch nach frisch kopiertem Recyclingpapier und Fencheltee. Die Lehrer wuselten um mich herum, sie tratschten, lachten hektisch oder wanderten einfach im Selbstgespräch umher. Der Raum hatte etwas von einem Meditationstempel, der sich langsam mit Tränengas füllt. Alles wirkte ein bisschen zu schnell, ein wenig zu lebhaft.
Mein Sportlehrer Herr Schmitz setzte sich vor mich, seine Augen schimmerten lustvoll bei dem Gedanken, dass er mich, den Schüler, auf den er mit einem so offensichtlichen Abscheu niederblickte, bei einer Missetat erwischt hatte. Seine braun gebrannte Haut war spröde wie der Hintern eines Tapirs, das Leben auf dem Sportplatz hatte faltige Gräben in sein Gesicht geschlagen, die sich mit jedem Wort, das er sagte, vertieften. Seine Zähne bleckten weiß und unecht hervor, ein paar Brotkrumen hingen wie tote Läuse in seinem Schnurrbart. Er trug seinen blauen Sportanzug, es war Mittwoch.
»So, Bastian, erst einmal möchte ich, dass du dich bei dem Michael entschuldigst.«
Erst da wurde mir klar, dass Robenzek neben mir saß, die blaue Entgeisterung in seinem Gesicht war einem roten Ballon gewichen, seine Augen starrten mich hasserfüllt an, auf seinen Wangen hatten sich Schlieren aus Tränen gebildet.
Ich schwieg. Derart dämliche Entschuldigungsgesten lagen mir nicht. Abstruses Geheuchel, das bei jedem Streit von den Lehrern gefordert wurde. Als ob das was gebracht hätte. Ich hatte durch meine Aktion sowieso jede Brücke, die zwischen mir und Robenzek hätte gebaut werden können, im Voraus niedergebrannt.
»Aha, ich verstehe«, sagte Schmitz und blies Luft durch seine gespitzten Lippen wie ein Turmspringer, der gleich den sicheren Boden unter den Füßen verliert.
Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte wohl geglaubt, ich würde um Vergebung winseln und unter Tränen zugeben, dass mein Geist genauso schwach sei wie mein speckiger, kindlicher Leib. Ich trotzte dem scharfen Blick, den er mit zuwarf, bevor er etwas auf einem kleinen Formbogen notierte, der wohl als Vorlage für einen Brief an meine Eltern dienen sollte.
Plötzlich tauchte der Kopf meiner Mutter hinter Schmitz’ blauem Sportanzug auf, sie hatte Pause und schien nicht böse zu sein, mich hier zu sehen. Dann sah sie Michael Robenzek, der, mit Dreck besudelt und immer noch den Tränen nahe, neben mir saß und auf meine Entschuldigung wartete. Mein Vater hatte ihr wohl von den Guerillakriegsplänen erzählt, die er für mich geschmiedet hatte. Überraschenderweise schaute sie mich nicht böse, sondern fröhlich an und hatte ein großes Grinsen auf dem Gesicht. Sie winkelte ihren Arm an und zeigte mir auf Bauchhöhe ein »Daumen hoch«, sodass es Schmitz und Robenzek nicht sehen konnten. Toll, ihr Sohn war jetzt Chuck Norris. Chuck Norris im Lehrerzimmer.
»Willst du denn sonst was zu dem Vorfall sagen?«, fragte Schmitz gelangweilt. Er wusste, dass der kleine Junge vor ihm nicht antworten würde, ab hier war das Gespräch nur noch Formsache. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, ihm zu erzählen, wie oft Robenzek mich gequält und gepiesackt hatte, wie viele meiner kindlichen Hoffnungen auf ein wenig Zugehörigkeit er mit seiner Bösartigkeit ertränkt hatte und wie sehr ich ihn dafür verabscheute, doch dann entschied ich, dass ich damit nur Öl ins Feuer gießen würde, und schwieg lieber.
»Dir ist schon klar, dass das zur Klassenkonferenz führen wird, oder?«, fragt Schmitz, und bei dem Gedanken, mich noch einmal im Beisein der gesamten Lehrerschaft auszufragen, flammte seine Vorfreude noch einmal auf.
Schmitz spielte in seinem Kopf durch, wie er mich vor den anderen Lehrern zerpflückte, wie er mich als gestörten Schläger darstellen könnte, der letztendlich eine Gefahr für seine Mitschüler war und deshalb der Schule verwiesen gehörte.
Gerade als er aufstehen wollte, um mich zur Tür zu bringen, fiel Michael Robenzek neben mir wie ein roter Legoklotz vom Stuhl. Es machte ein lautes »Plong«, und das hektische Treiben im Lehrerzimmer verstummte, als hätte man auf einer Beerdigung gefurzt. Herr Schmitz bemühte seine schemenhaft vorhandene Fähigkeit zur Empathie und kniete sich neben den regungslos daliegenden Michael Robenzek, dann schnippte er zweimal vor dessen brachliegender Mimikwüste und stellte verdutzt fest, dass der Schüler »bewusstlos« sei. Herr Schmitz hatte seine Erste-Hilfe-Ausbildung eindeutig im Schlachthof gemacht, anders war so viel Scharfsinn nicht zu erklären. Ich nutzte die Gunst der Stunde und verdrückte mich klammheimlich aus dem Lehrerzimmer, hinter mir sah ich nur eine Schar Lehrer, die sich im Halbkreis um den bewusstlosen Michael postierten und allesamt so hilflos schauten, als gelte es, eine Flugzeugturbine zu reparieren.
Ich hatte meinen Intimfeind für mindestens eine Woche ausgeschaltet, und mein Mitleid hielt sich zunächst in Grenzen. Als ich aber am Tag meines Triumphs nach Hause kam, hatte sich die Freude meiner Mutter in einen unangenehmen Drang zur öffentlichen Rechtfertigung verwandelt.
»Grmph« war das Einzige, was sie mir gegenüber formulierte, bevor sie fluchend in ihrem Zimmer verschwand. Langsam, aber sicher kam die Ausdrucksfähigkeit meiner Mutter auf dem Niveau eines Hinkelsteins mit Moosbewuchs an. Anstatt mir vorzuwerfen, dass die gesamte Lehrergemeinschaft ab sofort die Sippenhaft über sie und ihren Terroristensohn verhängt hatte, kam nur ein wütendes »Grmph« aus ihr heraus. Hoffentlich lud sie Robenzek jetzt nicht zu meinem nächsten Kindergeburtstag ein!
Auch wenn es mir für meine Mutter leidtat, dass sie nun mit mir den Status des Geächteten teilte, war ich ganz froh, zumindest für eine Woche die bellende Teufelsmaske von Michael Robenzek nicht sehen zu müssen.
Die Tage vergingen, und statt ausgiebigen Mobbings erlebte ich eine zweifellos schöne Zeit, in der sich die nun verstreut und ohne Anführer dastehenden Gefolgsleute Robenzeks irritiert an mich wandten, den Königsmörder. Ich konnte mit diesen halbgaren Hirnbrötchen allerdings nicht viel anfangen und verlegte mich erneut auf mein gewohntes Außenseitertum. Eines Morgens, der gesamte Klassenkorpus hatte sich schlaftrunken in dem nach Kreide und Wassermalfarbe riechenden Kunstraum eingefunden, sprang die Tür auf und ein kleines Männlein schob seine Umrisse in das blasskalte Licht der Schulbeleuchtung. Die Augen aller Mitschüler klebten umgehend an dem steif dastehenden Schatten, der sich schlurfend und unsicher durch den Raum schob und dann direkt hinter mir Platz nahm. Nur am bösartigen Funkeln seines Blicks konnte ich in der veränderten Gestalt noch Michael Robenzek erkennen. Aus meiner Nemesis war ein gebrochener Hänfling geworden.
Wie sich ein paar Tage später herausstellte, hatte ich Michael mit meinem beherzten Tritt eine schwere Hodenquetschung verpasst, nur unter Aufwendung modernster medizinischer Technik war die Rettung des Eis überhaupt möglich gewesen. Die ersten paar Tage zuckte ich noch angstvoll bei jedem Geräusch zusammen, voller Angst, Robenzek würde mich jetzt mit seinem Füller erdolchen oder wieder anfangen, mir vor die Toilettentür zu strullern. Doch aus der Angst wurde mit der Zeit die wohlige Gewissheit, dass ich endlich meine Ruhe vor Michael Robenzek hatte, auch wenn ich bis heute, nur für den Fall, immer mit halb offenen Augen schlafe.